BILANZ: Frau Cohen, Sie gelten als die ewige Optimistin der Wall Street. Fällt es Ihnen nicht schwer, weiterhin so bullish für die amerikanischen Aktienmärkte zu sein? Die Zinsen klettern nach oben, der extrem gestiegene Ölpreis quält Unternehmen und Konsumenten, der Staat häuft Schulden auf, viele reden von einer bald platzenden Immobilienblase.
Abby Cohen: Ich bin nicht immer nur bullish gewesen, das möchte ich zunächst doch gerne vorausschicken. Im März 2000, als der S&P 500 seinen Höhepunkt erreichte, haben wir unseren Kunden gesagt, sie sollten einen Teil ihrer Aktien verkaufen. Besonders Technologieaktien sahen wir damals als kritisch an. Es gibt an den Märkten natürlich immer irgendwelche Gründe, um nervös zu sein. Mein Team und ich fragen uns einen grossen Teil unserer Zeit, was alles aus dem Ruder laufen kann. Am Ende müssen wir allerdings eine Entscheidung treffen, welche Entwicklung wir für wie wahrscheinlich halten.
Und wie sieht das aus Ihrer Sicht wahrscheinlichste Szenario für die nächsten zwölf Monate aus?
Wir sehen überhaupt nicht schwarz. Die Basis der US-Wirtschaft sieht nach wie vor sehr robust aus, obwohl die schweren Hurrikans die Wirtschaft kurzfristig beeinträchtigen. 2005 wird das Bruttosozialprodukt um rund 3,5 Prozent wachsen, im nächsten Jahr rechnen wir mit einem ähnlich hohen Wert. Wir haben eine Phase hinter uns, in der viele Unternehmen sehr stark in die Zukunft investiert haben. Das zahlt sich immer noch aus.
Reicht es aus?
Wenn Sie mich nach der entscheidenden Grösse für die Einschätzung der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung fragen, dann ist das für mich eindeutig das Produktivitätswachstum. Und im Moment wächst die Arbeitsproduktivität hier mit rund drei Prozent pro Jahr. In den Neunzigern lag dieser Wert noch bei etwa einem Prozent. Solange wir das weiter schaffen, wird es neue Jobs geben und ein gutes Einkommenswachstum. Und ich sehe zurzeit keinen Grund, warum wir das nicht schaffen sollten. Denn die Finanzstärke unserer Unternehmen ist ebenfalls aussergewöhnlich. Die Bilanzqualität ist auf dem besten Niveau, das wir je gesehen haben. Die Zinsen sind im langfristigen Vergleich immer noch niedrig. Und die Unternehmen im S&P 500 verfügen über Cash-Positionen von insgesamt rund 2000 Milliarden amerikanische Dollar, das sind rund 20 Prozent ihres Börsenwerts. Das ermöglicht mutige Investitionen, ist aber auch ein Sicherheitsnetz.
Nicht einmal «Katrina» oder jetzt «Rita» können die US-Wirtschaft aus der Bahn werfen?
«Katrina» ist eine Tragödie für viele Menschen im Süden, ich habe selbst Verwandte in New Orleans, die ihr Haus verloren haben, und Freunde, deren Leben dadurch massiv beeinträchtigt wurde. «Katrina» ist auch ein ökonomischer Schock; immerhin kommt ein Drittel unseres Öls aus der Golfregion, die von den Hurrikans getroffen wurde. Die Zerstörungen dort werden zunächst auch unserem Wachstum schaden, doch ich glaube, wir werden das im nächsten Jahr wieder aufholen. Es wird sogar einen vorübergehenden Schub durch die enormen Anstrengungen zum Wiederaufbau geben, das war nach dem Hurrikan «Andrew» in Florida und dem Erdbeben in Kalifornien genauso.
Der Wiederaubau kostet wahrscheinlich einen dreistelligen Milliardenbetrag und vergrössert das ohnehin schon bedenkliche Staatsdefizit der Vereinigten Staaten noch weiter. Keine Gefahr für die Konjunktur?
Vor «Katrina» hatte sich die Haushaltslage schon verbessert. Das Defizit war bereits kleiner als noch zu Jahresbeginn befürchtet. Wenn jetzt allerdings tatsächlich noch einmal 200 Milliarden Dollar Schulden obendrauf kommen, muss man schon sehr darauf achten, wie sich das auswirkt und auf wie viele Jahre sich das verteilt. Das bereitet auch uns Kopfzerbrechen. Allerdings muss man das Verhältnis wahren.
Was heisst das konkret?
Die absoluten Dollarbeträge hören sich schlimmer an als das Defizit im Verhältnis zur Grösse der US-Wirtschaft. Ein Haushaltsfehlbetrag von 330 Milliarden Dollar im Jahr 2005 entspricht nur rund 2,7 Prozent unseres Sozialprodukts. Damit stünden wir in der Europäischen Union doch glänzend da.
Aber kann sich die US-Regierung auch dann noch weitere Steuersenkungen leisten, um die Wirtschaft anzukurbeln?
Das ist im Moment schwer zu beantworten, weil uns keine revidierten Haushaltsprognosen vorliegen. Eines möchte ich allerdings doch einmal ganz deutlich sagen: Von der Stimulanz, die nicht nur die amerikanische Fiskalpolitik mit ihren Steuersenkungen, sondern auch die US-Geldpolitik mit niedrigen Zinsen gebracht hat, haben nicht nur wir Amerikaner profitiert, sondern alle in der Welt. Wir sind schliesslich der weltgrösste Importeur. Und was uns hilft, hilft auch anderen.
Mit der Folge, dass auch das Handelsbilanzdefizit beängstigende Ausmasse angenommen hat.
Wir haben tatsächlich das grösste Handelsbilanzdefizit der Welt. Wir sind der grösste Importeur der Welt, aber auch der grösste Exporteur. Uns würde es am meisten helfen, wenn alle unsere Handelspartner schneller wachsen würden, nicht nur China. Wobei China für mich auch ein Sonderfall ist, denn rund 30 Prozent der Importe aus China stammen von US-Unternehmen, die dort investiert haben und gute Gewinne erwirtschaften. Doch während unsere Exporte nach China zunehmen, stagnieren sie in die EU.
Wieso?
Das liegt vor allem am schlappen Wachstum dort. Vor zehn Jahren hatten wir mit der EU noch eine etwa ausgeglichene Handelsbilanz, heute importieren wir von dort für 114 Milliarden mehr Waren, als wir dorthin exportieren. Würde Europa mit einer Rate von 3,5 Prozent wachsen wie Amerika, würde ein grosser Teil unseres Defizits von alleine verschwinden. Bei vielen amerikanischen Unternehmen hat in den vergangenen zwei bis vier Jahren die Bereitschaft abgenommen, in Ländern zu investieren, die keine Reformen vorantreiben und so für mehr Wachstum sorgen. Die Unternehmen stimmen mit ihren Dollars ab, und viele wenden sich jetzt Asien zu. Wenn das Wirtschaftswachstum in Europa jetzt wieder ins Stocken gerät, wird sich das sicher nicht ändern.
Ist nicht die grösste Gefahr für den US-Aktienmarkt, dass in den USA der Konsum einbricht, weil die Immobilienblase platzt und wegen der hohen Ölpreise das verfügbare Einkommen schrumpft?
Wir glauben, dass Immobilien hier nur moderat überteuert sind, im Landesschnitt etwa zehn Prozent. Reicht das als Anreiz, ein Haus zu verkaufen und stattdessen zu mieten? Wohl kaum. Sicher gibt es Regionen mit stärkeren Übertreibungen. Doch fallende oder stagnierende Hauspreise treffen ebenso wie die höheren Energiekosten vor allem die unteren Einkommensschichten. Da liegt sicher eine Gefahr; das macht uns Sorgen, aber diese Gruppe steht nur etwa für 15 Prozent des gesamten Konsums. Wird das die amerikanische Wirtschaft in eine Rezession treiben? Ich glaube nicht. Wir erwarten keinen Rückgang beim Konsum, wir gehen allerdings davon aus, dass der Konsum in den USA langsamer wachsen wird.
Und was passiert mit den Immobilienpreisen?
Wir hoffen, dass die Abkühlung auf dem Immobilienmarkt so läuft wie in Australien. Dort sind die Preise um rund 20 Prozent gefallen, ohne dass dies den Konsum schwerwiegend beeinträchtigt hätte. Wir hoffen allerdings auch, dass wir keinen extrem harten Winter bekommen, denn das würde wegen der höheren Energiekosten sowohl die Haushalte als auch die Unternehmen nochmals belasten.
Vorausgesetzt, Ihr Szenario tritt ein: Sind amerikanische Aktien dann immer noch ein Kauf?
Die Kurse von US-Aktien werden vermutlich steigen, wenn die Wirtschaft – wie wir es erwarten – weiter wächst. Die Unternehmensgewinne werden weiterhin mit hohen einstelligen Raten zulegen, im Energiesektor sogar stärker. Wir bevorzugen Werte mit hoher Börsenkapitalisierung, weil die mit geringer bis mittlerer Börsenkapitalisierung bereits stark gelaufen sind. Technologiefirmen und Investitionsgüterhersteller profitieren vom anhaltenden Wirtschaftswachstum; aber ihre Aktien haben nicht Schritt gehalten, sodass sie günstig zu haben sind. Der Pharmasektor gefällt uns wegen der attraktiven Bewertung der Aktien. Sie sind im Vergleich zum Gesamtmarktindex seit Anfang 2003 um rund 35 Prozent zurückgeblieben. Konsumnahe Werte, zinssensible Versorger und Automobilaktien stufen wir dagegen zurzeit eher mit Untergewichten ein. Wir glauben, dass der S&P 500 in den nächsten Monaten noch Spielraum für zehn bis zwölf Prozent nach oben hat.