Eine bekannte Börsenweisheit besagt: «Politische Börsen haben kurze Beine.» Ergo: Was politisch passiert, hat auf die Entwicklung an den Märkten allenfalls kurzfristig einen kräftigen Einfluss. Der Grund hinter dieser Auffassung liegt darin, dass politische Ereignisse selten einen starken und nachhaltigen Einfluss auf die Weltwirtschaft haben. Mittel- und langfristig ist eine gut laufende Wirtschaft für die Aktienmärkte im Normalfall wichtiger.
Doch die sogenannt geopolitischen Risiken nehmen zu - und können sehr wohl einen erheblichen und negativen Einfluss auf die Weltwirtschaft, die Finanzmärkte und die Anlageportfolios haben. Das hat das Jahr 2022 mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs leider eindrucksvoll bestätigt. Die damit verbundenen Auswirkungen - hochschiessende Inflation, steigende Leitzinsen oder Sanktionen - waren und sind schwer zu quantifizieren oder vorherzusagen und beschäftigen uns bis heute.
Dabei finden die politischen Risiken am Markt derzeit wenig Beachtung, wie der globale Blackrock Geopolitical Risk Indicator (BGRI) zeigt. Dieser verfolgt die relative Häufigkeit von Brokerage-Berichten und Finanznachrichten, die mit bestimmten geopolitischen Risiken wie dem Konflikt zwischen den USA und China oder dem Ukraine-Krieg verbunden sind. Blackrock geht derzeit davon aus, dass die Märkte die möglichen Auswirkungen geopolitischer Ereignisse wohl unterschätzen. Wir benennen die acht grössten politischen oder geopolitischen Risiken und betten diese mit Hilfe von Marktexperten ein:
USA gegen China
Eskaliert der aktuelle Streit um die Vorherrschaft in der Welt (wirtschaftlich und militärisch) zwischen den USA und China, hätte das gravierende Folgen für die Aktienmärkte, da die zwei grössten Volkswirtschaften der Welt involviert sind. «Sollten die Amerikaner gegen China ein ähnliches Sanktionsregime wie gegen Russland aufziehen, wären die Folgen für viele Firmen, auch in der Schweiz, einschneidend», sagt Thomas Stucki, Anlagechef der St.Galler Kantonalbank. Viele Geschäftsmodelle wären in Frage gestellt. Die Reaktion an den Aktienmärkten wäre deutlich negativ über eine längere Zeit.
Bisher gab es lediglich Einschränkungen für strategisch und symbolisch wichtige Produkte - Chips, 5G-Hardware oder seltene Erden. Die starke Anti-China-Stimmung in den USA sowie die chinesische Wirtschaftspolitik mit Hauptfokus Binnenwirtschaft könnte jedoch zu einer weiteren Einschränkung des Handels führen. Aufgrund der grossen (politischen) Bedeutung der Autoindustrie in den USA und Europa könnte beispielsweise ein chinesisches Preis-Dumping bei Elektroautos starke Reaktionen zur Folge haben.
Russland gegen Nato
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist der grösste und gefährlichste militärische Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine diplomatische Lösung ist in nächster Zeit nicht in Sicht. Es besteht ein erhebliches Risiko einer versehentlichen oder absichtlichen Eskalation. «Dies hätte eine Umstellung der Wertschöpfungsketten auf Kriegswirtschaft mit der Rationierung strategischer Güter (Energie, Dünger) zur Folge», sagt Thomas Rühl, Anlagechef der Schwyzer Kantonalbank, auf Anfrage von cash.ch. Breite Korrekturen vor allem an den europäischen Märkten aufgrund Kriegsangst und geringerem Konsum wären die Folge.
«Das Risiko des Ukraine-Krieges auf die Aktienmärkte konzentriert sich weiterhin auf die Versorgung Westeuropas mit Energie», so hingegen Stucki. Viele Länder sind trotz der Bemühungen um andere Bezugsquellen immer noch stark vom russischen Gas abhängig. Über die Transformationsschiene «hohe Energiepreise – hohe Inflation – Zinserhöhungen der Zentralbanken – Rückgang der Konjunktur» sei eine Wiederholung von 2022 möglich, aber in einem kleineren Ausmass.
Das wahrscheinlichste, langfristige Ergebnis ist laut Blackrock eine politische, wirtschaftliche und militärische Pattsituation zwischen dem Westen und Russland. Obwohl die Ukraine nicht als NATO-Mitglied aufgenommen wurde, haben sich die westlichen Verbündeten langfristig für die Sicherheit der Ukraine eingesetzt und die Ukraine de facto zu einem Mitglied des westlichen Sicherheitsschirms gemacht.
Militärischer Konflikt zwischen China und Taiwan
Taiwan gehört für China zum eigenen Staatsgebiet, international wird es nicht als souveräner Staat anerkannt. Peking droht immer wieder mit der Eroberung der Insel.
Ein militärischer Konflikt zwischen China und Taiwan hätte noch deutlich dramatischere wirtschaftliche Auswirkungen als der Ukraine-Krieg. Insbesondere im Bereich der Halbleiter- und Mikrochipherstellung ist Taiwan mit Abstand der wichtigste Produzent. Ein längerer Produktionsausfall hätte verheerende Konsequenzen für die Weltwirtschaft und es müsste mit einer schweren globalen Rezession gerechnet werden. «Ein Crash an den Aktienmärkten wäre die Folge», sagt Geissbühler
Rühl rechnet bei einem Eingreifen der USA mit massiven Sanktionen gegen China. «Die Konfiskation chinesischer Assets im Westen, zerstörte Wertschöpfungsketten, Chip-Knappheit und Flüchtlingsströme wären die Konsequenz.»
Deglobalisierung
Der Handelskonflikt zwischen den USA und China sowie die Konsequenzen aus der Corona-Pandemie - Stichwort Lieferkettenprobleme - haben zu einem Rückbau der Wertschöpfungsketten und einer neuen ‘nationalen’ Industriepolitik geführt. «Mehr Interventionismus in der Wirtschaftspolitik würde die Deglobalisierungskräfte stärken und zu weniger Effizienz und tieferer Produktivität bei der globalen Produktion von Gütern und Dienstleistungen führen», sagt Anastossios Frangulidis, Chefstratege bei Pictet Asset Management Zürich, gegenüber cash.ch. Da dieser Prozess eher schleichend verläuft, wären die negativen Folgen für die globalen Aktien über die Jahre verteilt.
Cyberattacken
Angesichts des zunehmenden geopolitischen Wettbewerbs und des rasanten technologischen Fortschritts werden Cyberangriffe immer umfangreicher und raffinierter. «Problematisch sind vor allem Cyberangriffe auf die Infrastruktur (Stromnetze, IT-Systeme oder Wasser- und Energieversorgung. Solche können massiven wirtschaftlichen Schaden anrichten - mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Aktienmärkte», sagt Matthias Geissbühler, Anlagechef von Raiffeisen, gegenüber cash.ch.
Schuldenwirtschaft und Staatsbankrotte
Weltweit nehmen die Schulden rapide zu. Aufgrund der erfolgten Zinswende wird die «Tragbarkeit» der Schulden für gewisse Länder/Staaten immer anspruchsvoller. Als Konsequenz kann es zu Staatsbankrotten und Zahlungsausfällen kommen. «Die Folge wäre eine stark negative Real- und nominelle Aktienperformance, Gold und Liquidität wären wahrscheinlich die Gewinner», sagt Frangulidis.
Einige Schwellenländer wie Brasilien und Mexiko könnten in der Lage sein, ihre Politik zu lockern und den zunehmenden Abwärtsdruck auf das Wachstum auszugleichen. Schwellenländer mit hoher Verschuldung wie Ägypten und Pakistan könnten auf grosse Probleme stossen.
«Eine neue Amtszeit von Donald Trump wäre geprägt von unkontrollierten Entscheiden und dem Fehlen von Zuverlässigkeit der USA als Partner für Länder und Firmen.»
Thomas Stucki, Anlagechef der St.Galler Kantonalbank
Politische Spaltung
«Eine neue Amtszeit von Donald Trump wäre geprägt von unkontrollierten Entscheiden und dem Fehlen von Zuverlässigkeit der USA als Partner für Länder und Firmen», sagt Stucki. Die Auswirkungen auf die Aktienmärkte seien dabei schwer abzuschätzen, da völlig offen ist, wer betroffen sein wird.
In vielen Staaten ist das politische Klima zunehmend vergiftet, stellt Geissbühler fest. Die politische und gesellschaftliche Spaltung nimmt zu. Dies kann zu Streiks, Protesten und im schlimmsten Fall zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Solche Entwicklungen können Investitionsentscheide beeinflussen und den lokalen Aktienmarkt unter Druck bringen.
Radikale populistische Gruppen könnten auch Wahlen in Frankreich (Rassemblement Nationale), Deutschland (AfD) oder weiteren OECD-Ländern gewinnen, was wohl einer Schwächung von Demokratie und Rechtsstaat gleichkommt. Die regelbasierte globale Zusammenarbeit dürfte zu einer erhöhten Unsicherheit für Unternehmen führen und die Ent-Globalisierung von Teilen der Wirtschaft vorantreiben.
Globale Hungerkrise
Es besteht wegen dem Ukraine-Krieg, dem Wetterphänomen El Nino und dem fortschreitenden Klimawandel die Gefahr einer globalen Hungerkrise. Tritt diese ein, würden die höheren Nahrungsmittelpreise die Inflation befeuern und Konflikte um Agrarland zunehmen. «Politische Instabilität in Entwicklungsländern, Staatsbankrotte, Aufwind für Extremismus und die Verschärfung der Migrationsbewegungen vom Land in Städte sowie nach den USA oder Europa sind in diesem Szenario realistisch», sagt Rühl.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Cash.ch unter dem Titel «Diese acht geopolitischen Risiken sollten Investierende im Auge behalten».