«Nie mehr Aktien», lautet bei vielen Anlegern noch immer die Devise. Die meisten von ihnen waren in den letzten zehn Jahren nur schon froh, wenn sie damit kein Geld verloren. Zuerst machte die Dotcom-Krise die schöne Performance der goldenen neunziger Jahre zunichte. Dann folgte nach rascher Erholung die Finanzkrise und verschreckte die Anleger vollends. Verschiedene Erhebungen belegen den Vertrauensschwund eindrücklich. Gemäss einer jüngst erschienenen Studie der Universität Zürich halten gerade noch 21 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer Aktien – ein Drittel weniger als vor zehn Jahren. In Deutschland ist in derselben Periode die Zahl der Aktienanleger von 12 auf 8,2 Millionen geschrumpft.
Genauso wie die privaten verhielten sich auch die institutionellen Anleger. Die Versicherungen haben bereits während ihrer Krise zu Beginn des Jahrhunderts damit begonnen, die Aktienbestände drastisch zu reduzieren. Bei vielen liegt die Quote bis heute unter fünf Prozent.
Die allgemeine Skepsis gegenüber Aktien schien in den letzten Wochen gerechtfertigt. Zwar zeichnete sich seit dem Ende der Finanzkrise vor zwei Jahren an zahlreichen Aktienmärkten eine neue Hausse ab – vor allem an der Wall Street und an europäischen Börsenplätzen, allen voran Frankfurt, zogen die Notierungen deutlich an. Doch jüngst brachten die Unruhen in Nordafrika die Erholung umgehend zum Erliegen. Das Anlegervertrauen tauchte, gemessen am Investor Confidence Index von State Street, nach einer längeren Erholungsphase auf einen neuen Tiefpunkt.
Am stärksten unter dem Vertrauensschwund litten – wie von vielen Prognostikern zu Jahresbeginn erwartet – die Schwellenmärkte. Rund zwölf Milliarden Dollar flossen seit Jahresbeginn aus Aktienfonds ab, die auf die aufstrebenden Länder setzen. Dagegen konnten Fonds mit amerikanischen Aktien über 28 Milliarden und solche mit europäischen Titeln rund 6 Milliarden Dollar gewinnen.
Gerade diese Zuflüsse machen deutlich, dass die Kursrückschläge der letzten Tage nur eine vorübergehende Störung waren und die Chancen für eine breite Erholung der Aktienmärkte besonders in den Industrieländern intakt sind. «Die Anleger waren froh, einen Grund für Gewinnmitnahmen gefunden zu haben», sagt Alfred Rölli, Senior-Finanzanalyst von Pictet. Das Rally an den Aktienmärkten sei dadurch nicht in Frage gestellt und dürfte noch eine ganze Weile andauern.
Tiefe Zinsen. Zunächst einmal sprechen im Moment zahlreiche fundamentale Faktoren für die Beteiligungspapiere. Einer davon ist die Inflation. Aktien gelten als probates Mittel, um Vermögen vor der Teuerung zu schützen. Auch wenn nun durch die Europäische Zentralbank erste Erhöhungen angekündigt wurden, werden die Leitzinsen weiterhin tief bleiben. Ansonsten droht der noch junge Aufschwung der Konjunktur gleich wieder zum Erliegen zu kommen. Auch würden sich die Berge an Staatsschulden empfindlich verteuern.
Erst in der zweiten Jahreshälfte dürften zunächst in Europa erste Zinsschritte erfolgen, ehe dann auch die USA nachziehen, prognostiziert Alfred Rölli. Für Uwe Lang, Theologe und Herausgeber des deutschen Börsenbriefs «Börsensignale», spielen die Zinsen auf dem gegenwärtig tiefen Niveau ohnehin keine entscheidende Rolle mehr. «Die Investoren achten jetzt viel stärker auf die konjunkturelle Entwicklung», so Lang.
Von der Politik des billigen Geldes profitieren die Unternehmen gleich doppelt: Viele haben kaum noch Schulden, sitzen dafür aber auf riesigen Cash-Beständen. US-Präsident Barack Obama sprach neulich von zwei Billionen Dollar Barvermögen, welche die Firmen in den USA horten. Das sind 40 Prozent mehr als vor zwei Jahren. Zudem hat der Zerfall des Dollars und des Euros die Exporte vor allem in die weiter wachsenden Absatzmärkte in den Schwellenländern beflügelt. Um genügend Kapazitäten zu schaffen, steigt der Investitionsbedarf und zieht allmählich auch die Binnenwirtschaft mit.
Mit steigenden Umsätzen wachsen auch die Margen. «Die Firmengewinne sind sehr solide», stellt Claude Zehnder, Chefanalyst der Zürcher Kantonalbank, fest. In der laufenden Berichtssaison zu den Jahresabschlüssen haben drei von vier Firmen im S&P 500, dem Leitindex der Wall Street, die Gewinnerwartungen der Analysten übertroffen. Im Durchschnitt kletterten die Profite im Vergleich zum Vorjahr um 46 Prozent. Die Gewinne der europäischen Firmen nahmen um 40 Prozent zu, für 2011 wird ein Anstieg um rund 20 Prozent erwartet.
Wie die Firmen sitzen auch die Sparer noch immer auf gewaltigen Geldanlagen. In Deutschland beispielsweise sind die Spareinlagen seit Ausbruch der Finanzkrise um rund 20 Prozent auf 620 Milliarden Euro gestiegen. Auch in der Schweiz werden laut Nationalbankstatistik fast 430 Milliarden Franken Liquidität gebunkert, mehr als je zuvor. Doch das ist eine denkbar schlechte Anlageform. Werden von den Zinsen unter einem Prozent Gebühren und Inflation abgezogen, resultiert derzeit real ein Vermögensschwund. Nicht viel besser ergeht es den Pensionskassen und Versicherungen. Mit den tiefen Aktienbeständen sind sie kaum in der Lage, die Rendite zu erwirtschaften, die für die notwendige Verzinsung der Vorsorgeguthaben benötigt wird. Die Folgen sind Leistungskürzungen bei den Versicherten, also wiederum den Sparern.
Hält der Börsenaufschwung an, dürfte sich durch den Abbau an Liquidität und Umschichtungen aus andern Anlageklassen die Hausse zusätzlich verstärken. Für Manfred Hofer, Anlagespezialist bei der Liechtensteiner Privatbank LGT, «sind die Trends deshalb bestätigend und noch keineswegs warnende Gegensignale».
Ganz im Gegensatz zur Zurückhaltung der Anleger ist bei den Firmen der Übernahmehunger erwacht. Das Übernahmevolumen ist in den beiden ersten Monaten dieses Jahres im Vergleich mit dem Vorjahr um ein Viertel gestiegen. In Europa hat sich der Wert gar verdoppelt. Auch Anlegerlegende Warren Buffett ist wieder auf Jagd – sogar auf Elefantenjagd, wie er kürzlich in einem Aktionärsbrief schrieb. Er späht eine Grossübernahme aus.
Was an erwirtschafteten Erträgen nicht zu Investitionen und Übernahmen gebraucht wird, wird zu einem guten Teil an die Anleger ausgeschüttet. Selten zuvor gab es so hohe Dividenden wie in den beiden letzten Jahren. Die Renditen liegen oft deutlich über jenen von Anleihen derselben Unternehmen oder vieler Staatsanleihen.Und besonders in Europa würden die Dividenden weiterhin positiv überraschen, erwartet der leitende Aktienstratege von Goldman Sachs, Peter Oppenheimer. Damit wird bereits ein guter Teil des Risikos der höheren Wertschwankungen von Aktien gegenüber Obligationen entschädigt.
Attraktive Bewertungen. Hinzu kommen die tiefen Bewertungen zahlreicher Aktienmärkte. Die Titel im deutschen Leitindex DAX werden zum Beispiel trotz der hohen Performance der vergangenen zwei Jahre noch immer mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von elf für das laufende Jahr gehandelt, weit unter dem langjährigen Durchschnitt. Insgesamt liegt die Bewertung europäischer Aktien rund 30 Prozent unter dem durchschnittlichen KGV der letzten zehn Jahre. Und auch der S&P 500 hat nach über 100 Tagen Hausse, einem neuen Rekord, das langjährige Niveau beim KGV noch nicht erreicht. Ebenso wenig wie der britische FTSE 100 oder der Schweizer SPI.
Allerdings hat diese Kennzahl für die Value-Investoren wie Warren Buffett oder Tweedy, Browne nur geringe Aussagekraft. Sie richten ihr Augenmerk auf das Eigenkapital: je tiefer das Verhältnis zum Aktienkurs, umso attraktiver die Bewertung. Auch dazu sind an den wichtigsten Börsen keine Anzeichen einer Überhitzung auszumachen. Bei den Schweizer, den deutschen und den britischen Aktien liegt das Kurs-Buch-Verhältnis noch immer unter zwei.
Ein weiteres gutes Signal von den Märkten ist die tiefe Verschuldung der Unternehmen. Durchschnittlich haben die europäischen Firmen nur noch ein Viertel ihrer Vermögenswerte mit Krediten finanziert. Das ist ein Drittel bis die Hälfte weniger als vor fünf Jahren. Möglich wurde dieser Schuldenabbau durch die üppigen Cashflows, die sich für Anleger in einem günstigen Verhältnis von weniger als dem Zehnfachen des Aktienkurses manifestieren.
Zahlreiche technische Indikatoren deuten ebenfalls darauf hin, dass der seit bald zwei Jahren anhaltende Aufschwung an den wichtigsten Börsen noch eine Weile andauern dürfte. So liegen die kurzfristigen Zinsen deutlich unter den langfristigen. Erst wenn sich dieses Verhältnis umkehren wird, ist mit einem Abschwung zu rechnen. In der Regel dauert ein Kursrally auch nach den ersten Zinserhöhungen der Notenbanken noch eine ganze Weile fort. Ausserdem liegt in der Schweiz der Kursverlauf von Anleihen über demjenigen von Aktien. Eine Überhitzung wurde in den letzten 15 Jahren immer erst dann angezeigt, wenn die Aktienpreise deutlich über jenen von Anleihen zu liegen kamen (siehe Grafik «Aktien im Rückstand»).
Für Peter Oppenheimer sind Aktien 2011 die favorisierte Anlageklasse. Zumal Investoren derzeit kaum eine valable Alternative haben. Schon gar nicht mit Obligationen. Deren Renditen sind beinahe 30 Jahre lang stetig gesunken und liegen zum Beispiel in England bei den Staatspapieren mit zehnjähriger Laufzeit nun gar unter der Teuerungsrate. Selbst ausgebuffte Skeptiker wie Jeremy Grantham, der mit GMO über 100 Milliarden Dollar verwaltet, haben ins Aktienlager gewechselt. Pimco, das führende Fondsmanagement-Unternehmen für Anleihen, lancierte vor wenigen Wochen erstmals überhaupt einen Aktienfonds. Gemäss einer Erhebung von Merrill Lynch ist der Appetit der Fondsmanager auf Aktien auf den höchsten Wert seit dem Jahr 2006 geklettert. Und schliesslich beginnen erste Versicherungen wie die Munich Re damit, die Aktienquote in ihren Anlagevermögen wieder zu erhöhen.
Korrektur in Asien. Nicht alle Märkte sind jedoch empfehlenswert. An der Wall Street etwa dürfte die Luft nun allmählich dünner werden. Und in Tokio werden die Hoffnungen der Anleger seit Jahren immer aufs Neue enttäuscht. Besonders in Asien sind die Hausse wie auch die Konjunktur am weitesten fortgeschritten. Bereits setzen dort die Abkühlungsmanöver der Notenbanken und Regierungen die Börsen unter Druck. Am meisten Federn lassen mussten bisher die Aktien in Indien. Aber auch kleinere Märkte wie Vietnam verzeichneten teilweise empfindliche Rückschläge, ganz abgesehen von den Börsen in Nordafrika. Erste Verluste sind schliesslich in Hongkong als Vorläufer für den chinesischen Markt zu vermelden.
Unter den aufstrebenden Märkten dürften nach Meinung von Eric Güller, dem leitenden Analysten für Schwellenmärkte bei der Credit Suisse, weiterhin Brasilien und Russland glänzen. Beide Länder profitieren von den steigenden Rohstoffpreisen. Ihre Wirtschaft läuft rund, und die Aktien sind, gemessen an den jeweiligen Leitindizes, günstig. Von den etablierten Märkten sind die europäischen, allen voran der deutsche und der schweizerische, interessant. «Wir könnten da noch in diesem Jahr die alten Höchststände von 2007 erreichen», sagt Lang.
In Deutschland geht das Aktienrally mit einer starken Wirtschaftserholung einher. Davon profitiert auch die Schweizer Exportwirtschaft, der eine Abschwächung des überteuerten Frankens zusätzlich helfen würde. Die Versicherungsaktien profitieren bereits von etwas höheren Zinsen. Zunehmend finden zudem die Grossbanken UBS und CS aus ihrem Formtief und werden von den Analysten vermehrt auf die Kauflisten gesetzt. Andererseits geraten defensive Werte wie Nestlé etwas aus der Mode. Auch an der bis anhin glänzenden Performance der Hersteller von Luxusgütern wie Swatch und Richemont hat sich in den letzten Wochen etwas Patina angesetzt. Der SMI dürfte jedoch, zumindest gemäss den Prognosen der Bank Julius Bär, bis Ende Jahr durchaus auf 7200 Punkte klettern.
Hektische Märkte. Auch der britische Aktienmarkt ist noch nicht ausgereizt, obwohl bis zum alten Höchststand von 6700 Punkten nur noch 700 Punkte fehlen. Steigende Zinsen dürften nur geringfügige Auswirkungen haben, erwartet die CS. Auf Erholungskurs sind vor allem die Finanzwerte. Nicht viel besser könnte es derzeit auch für die zahlreichen Rohstoffkonzerne laufen.
Trotz den vielen guten Vorzeichen für Aktien sind also nicht alle Märkte und Branchen vorbehaltlos kaufenswert. Mit der wachsenden Bedeutung der Schwellenländer auch für die Finanzmärkte und mit der Intensivierung des Handels über das Internet bis in die Wohnstube der privaten Anleger sind die Börsentrends kurzlebiger und wechselhafter geworden. Selbst wer nur passiv über Indexprodukte investieren will, muss sich laufend aktiv über die Entwicklung informieren und seine Anlagen überprüfen. Genau das dürfte ein Grund für die bisherige Zurückhaltung des breiten Publikums sein. Der durchschnittliche Anleger riskiert damit einmal mehr, zu spät in den Aktienmarkt zurückzukehren und das Rally zu beschleunigen – bis zum nächsten Absturz.
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