Tom Petty besang es einst in seinem Hit «Learning to Fly»: «But what goes up must come down». Viele Anleger beschleicht ein ähnliches Gefühl, wenn sie an die kräftigen Aktiengewinne von 2019 denken und den Blick etwas bange auf das neue Jahr richten.
Verstärkt wird dies noch durch das Crescendo der Weltuntergangspropheten, die den grossen Crash schon seit Jahren heraufbeschwören. Gilt die Schwerkraft etwa für Aktien nicht?
Für eine Einschätzung, wie hoch tatsächlich die Crash-Risiken sind, hilft ebenfalls der Blick in die Vergangenheit. Seit 1928 gab es an den US-Börsen zehn Bärenmärkte, das heisst Kursrückgänge von mehr als 20 Prozent.
Auswirkungen von geldpolitischen Lockerungsmassnahmen
Mit der Ausnahme des Kubakrisen-Crashes von 1962 war allen gemein, dass sie entweder von einer Rezession begleitet wurden, in einem Umfeld hoher Zinsen stattfanden oder Aktien extrem bewertet waren. So wollen wir einmal jedem dieser Komponenten auf den Zahn fühlen.
Die Konjunktur in 2020 wird in der ersten Jahreshälfte von den Auswirkungen der geldpolitischen Lockerungsmassnahmen der Zentralbanken gestützt werden und auch im Handelsstreit zwischen China und die USA ist man auf gutem Wege, eine erste Deeskalation zu erzielen, was besonders dem gebeutelten Industriesektor helfen würde.
Trotz Spätzyklus haben sich dadurch die Rezessionsrisiken in den USA nach unserer Einschätzung weiter nach hinten verschoben. Für unsere konjunkturbedingten Crash-Risiken bedeutet das vorerst Entwarnung.
Zinsrisiken im 2020 sind niedrig
Wie steht es mit der Zinsseite aus? Selbst in einem positiven Konjunkturszenario wird das Wachstum nicht ausreichen, in den kommenden zwölf Monaten einen nachhaltigen Anstieg der Inflation herbeizuführen, weshalb die Notenbanken den Niedrigzins beibehalten dürften. Entsprechend bleiben die Zinsrisiken in 2020 für die Aktienmärkte niedrig.
Aber sind die Aktienbewertungen inzwischen extrem? Das KGV im S&P 500 liegt aktuell beim 18-fachen des Gewinns. Das ist höher als der langjährige Durchschnitt von 16 und die Bewertung von 15 im Dezember 2018.
Doch es ist noch weit von einer Bewertungsblase entfernt. Die Erfahrungen der letzten 30 Jahre zeigen, dass es erst ab einem KGV von 22 in US-Aktien kaum noch möglich ist, nachhaltig positive Renditen zu erzielen. Bis zu einer Extrembewertung ist also noch viel Luft nach oben.
Während eine weitere Bewertungsausweitung aufgrund des Niedrigzinses nicht auszuschliessen ist, rechnen wir damit, dass in einem stabilen konjunkturellen Umfeld trotz Margendruck die Unternehmensgewinne wieder moderat steigen dürften.
Kein Anlass für einen Absturz der Aktien
Das sollte Dividendentiteln Auftrieb geben. Ertragserwartungen im mittleren einstelligen Bereich scheinen uns für 2020 realistisch. Innerhalb der Aktienmärkte gibt es weiterhin attraktive Opportunitäten.
Zyklische Aktien aus den IT-, Energie- und Finanzsektoren sind vor dem Hintergrund der gestiegenen Chancen einer kurzfristigen Erholung in der Industrie attraktiver geworden und handeln immer noch mit einem KGV unter dem langjährigen Durchschnitt. Ganz im Gegensatz zu Konsumaktien und Versorgern die inzwischen hohe Bewertungsprämien haben.
Es gibt also derzeit wenig Grund, besonders euphorisch oder panisch ins neue Jahr zu gehen. Aktien haben zwar im vergangenen Jahr neue luftige Höhen erklommen, aber weder die Konjunktur noch die Bewertungen und schon gar nicht die Zentralbanken geben momentan Anlass, einen jähen Absturz zu erwarten.
*Tilmann Galler ist globaler Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt.