«Wir wollen die richtigen Aktionäre», wünscht sich der Sprecher eines Schweizer Pharmaunternehmens, der nicht namentlich genannt sein will, und fügt hinzu: «Je mehr Aktionäre aus der Schweiz stammen, umso besser.» Doch gemeinhin besteht der Eindruck, dass der Einfluss der Schweizer Aktionäre sinke und die heimischen Firmen ihrer steigenden Präsenz auf den Weltmärkten entsprechend immer stärker durch ausländische Investoren beherrscht würden. «Wo man Schweizer Eigentümer vermutet, steckt immer häufiger ein Ausländer dahinter», vermutet der Kommunikationsberater Klaus J. Stöhlker in seinem Blog von Mitte Juli. Unsere Grossbanken seien nur noch formell schweizerisch, in Wirklichkeit aber von ausländischen Aktionären dominiert.
Wie steht es wirklich um die Schweizer Aktionäre, wie gross ist ihr Einfluss heute noch? Um diese Fragen zu klären, hat BILANZ bei insgesamt 36 grosskapitalisierten Firmen des Swiss Market Index (SMI) und mittelgrossen Firmen des SMI Mid (SMIM) analysiert, wie gross der Anteil an Schweizer Aktionären ist (siehe Tabellen als PDF). Das erste Fazit bestätigt die Erwartungen: Gemessen an der Zahl der Aktionäre, stellen die Schweizer Teilhaber die grosse Mehrheit, der Anteil am Aktienkapital ist jedoch deutlich geringer. Bei den beiden Grossbanken UBS und Credit Suisse beispielsweise haben rund 90 Prozent der Aktionäre ihr Domizil in der Schweiz, sie besitzen jedoch nur rund 20 Prozent des Kapitals. Und selbst bei Swisscom stehen die 92 Prozent Schweizer Aktionäre – neben der Eidgenossenschaft als Mehrheitsaktionär – für weniger als 30 Prozent des Kapitals. Gerade Swisscom verdeutlicht auch ein anderes Fazit: Immerhin 21 Unternehmen werden noch von Schweizer Investoren beherrscht, 15 von ihnen indes nur dank einem Hauptaktionär, wie bei Panalpina, Holcim oder Adecco. Je grösser der Konzern, umso internationaler in der Regel das Aktionariat. Bei 15 Unternehmen sind die Investoren aus der Schweiz in der Minderheit, so bei Clariant, ABB und Sulzer. Am Schweizer Bankinstitut der Uni Zürich kam Ilias Läber in seiner Dissertation «Investor Management» zu einem ähnlichen Schluss: Anhand von 11 SMI-Firmen hat er errechnet, dass etwa 36 Prozent des Aktienkapitals im Besitz von Schweizer Privatanlegern sind. 23 Prozent halten institutionelle Investoren mit Sitz in der Schweiz, etwa Fonds und Pensionskassen. Und rund 41 Prozent sind unter ausländischer Kontrolle, vorab von institutionellen Investoren.
TRENDWENDE IM AKTIONARIAT. Die Zusammensetzung der Aktionariate hat sich in den letzten 15 Jahren fundamental verändert. Das lässt sich bei Nestlé zeigen. 1993 zählte der Nahrungsmittelmulti rund 63 000 Aktionäre. Der Anteil der Schweizer Anleger am Aktienkapital betrug 45 Prozent. Durch Aktiensplits und die Kotierung an der Wall Street stieg die Zahl der Aktionäre auf über 250 000, und der Anteil der Schweizer Anleger sank auf 31 Prozent. Allein in den letzten zwei Jahren ist er um ein Siebtel gefallen.
Generell war der direkte Anteil an Schweizer Aktien bei inländischen Depotinhabern 1998 noch grösser als bei ausländischen und ist dann kontinuierlich bis unter 40 Prozent gesunken. Seit vergangenem Jahr zeichnet sich jedoch eine Trendwende ab: Der Anteil liegt nun wieder bei 41 Prozent (siehe «Ende des Rückgangs» auf Seite 93). Diese Erhebung der Schweizerischen Nationalbank zeigt jedoch nur die direkten Aktienanlagen und keine indirekten über Fonds oder andere Produkte. Mit zunehmender Bedeutung der Altersvorsorge und dem damit verbundenen Wachstum des Vorsorgemarktes, aber auch mit dem steigenden Einfluss von Hedge Funds legt der Anteil der institutionellen Anleger, sowohl ausländischer wie inländischer, zu. In den USA ist der Anteil institutioneller Anleger seit 1980 von 28 auf über 80 Prozent gestiegen. In Deutschland erreicht er 75 Prozent und dürfte somit auch in der Schweiz, wo er erst bei 55 Prozent liegt, noch zunehmen.
Nicht berücksichtigt sind in der BILANZ-Analyse Aktionäre mit Inhaberaktien oder Partizipationsscheinen. Unbekannt bleiben sodann jene Anleger, die ihre Namenaktien nicht eintragen oder sich durch einen Nominee vertreten lassen. Sie machen inzwischen oft gut die Hälfte des Aktienkapitals aus. Bei den nicht eingetragenen Aktien handelt es sich vorwiegend um solche von ausländischen, insbesondere institutionellen Investoren. Deshalb haben die Schweizer Aktionäre oft einen höheren Anteil an den Stimmrechten als am Kapital.
RISIKOFAKTOR PRÄSENZ. BILANZ hat in der Erhebung nicht nur nach den Besitzverhältnissen, sondern auch nach der direkten Präsenz der Aktionäre an der Generalversammlung gefragt. Sie machen in der Regel zwar weit über 90 Prozent der Teilnehmer aus. Wie die Auswertung der Protokolle und die Befragung der einzelnen Firmen ergaben, beträgt der Anteil der Aktionäre, die ihre Stimmrechte noch persönlich an der GV vertreten, selten mehr als fünf Prozent des Kapitals. Als beispielsweise beim Biotechunternehmen Actelion ein neues Forschungsgebäude eingeweiht wurde, haben sich über 700 Aktionäre dafür interessiert – an der Generalversammlung hingegen nahmen gerade mal 250 teil.
Das ist nicht ohne Risiko. Die tiefe Präsenz, verbunden mit dem tiefen Anteil eingetragener und stimmberechtigter Aktien, erhöht die Chance für unfreundliche Akteure, an der Generalversammlung eine dominierende Rolle zu spielen. So dürfte dieser Umstand ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass der Rückversicherer Converium im Abwehrkampf gegen den französischen Konkurrenten Scor kurz vor der Generalversammlung eingeknickt ist. Die Lage war aussichtslos, weil Scor mit knapp 33 Prozent der Aktien voll stimmberechtigt war und damit die Generalversammlung, an der jeweils nur gut 30 Prozent des Aktienkapitals präsent waren, beherrscht hätte.
BELOHNTE GV-TEILNAHME. Einen ähnlichen Schock erlebten Aufsichtsrat und Vorstand der Börse in Deutschland. Deshalb laufen dort nun Bestrebungen, die Präsenz an der Generalversammlung zu erhöhen. Dazu soll laut Aktionärsvereinigung DSW unter anderem die Teilnahme via Internet möglich werden. Dominique Biedermann von der Anlagestiftung Ethos schlägt in der Schweiz eine Zusatzdividende von bis zu zehn Prozent der Ausschüttung vor, um die GV-Teilnahme zu entschädigen. In die laufende Revision des Obligationenrechts hat dieser Vorschlag, der in Spanien bereits erfolgreich umgesetzt wird, zwar noch keinen Eingang gefunden. Doch sollte eine solche Entschädigung auch unter geltendem Recht möglich sein und nicht gegen das Gleichbehandlungsprinzip verstossen, wie aus einem Rechtsgutachten, das Ethos erstellen liess, hervorgeht. Dominique Biedermann hofft, schon im nächsten Jahr beim ersten Schweizer Unternehmen eine entsprechende Statutenänderung herbeiführen zu können.
Wie wirkungsvoll eine Belohnung für die Teilnahme an der Generalversammlung ist, zeigt sich bei Lindt & Sprüngli. Mehr als 3000 Anleger pilgern jeweils an den Anlass, um die begehrte Schachtel Schokolade entgegenzunehmen. Sie vertreten ungefähr 15 Prozent der Aktien, obwohl der grösste Teil im Publikumsbesitz aus stimmrechtslosen Partizipationsscheinen besteht. «Unsere Aktionäre sind mit dem Unternehmen sehr verbunden», weiss Unternehmenssprecherin Sylvia Kälin. Die Aktien würden zum Teil in den Familien weitervererbt.
Wirkt sich diese Swissness positiv auf die Performance aus? Mit einer Rendite von mehr als 15 Prozent pro Jahr seit 1998 gehört Lindt & Sprüngli tatsächlich zu den erfolgreichsten Firmen. Und mit ihr weitere Unternehmen, die einen starken Haupt-, aber nicht Mehrheitsaktionär und ein ausgeprägtes Schweizer Aktionariat aufweisen, so zum Beispiel der Zahnimplantatehersteller Straumann, der Hörgeräteproduzent Sonova, der Pharmahersteller und -logistiker Galenica, die Prüfgesellschaft SGS oder die Luzerner Kantonalbank. Sie alle bringen es über zehn Jahre auf eine zweistellige Rendite. Auf der andern Seite resultierten bei Unternehmen mit einem breiten, atomisierten Aktionariat wie CS und UBS oder Ciba und Clariant zum Teil massive Verluste. Weisen Familienunternehmen an sich schon eine bessere Rendite als der Gesamtmarkt auf, so haben sie mit dem heimischen Aktionariat zusätzlich eine stabilisierende Komponente.
LOYAL UND LANGFRISTIG. «Einheimische Anleger sind langfristig orientiert und loyal», lautet für Dominique Biedermann einer der Erfolgsfaktoren. Ilias Läber, heute Manager einer milliardenschweren Beteiligungsgesellschaft, bestätigt dies in seiner Dissertation: Die Haltefrist hat sich mit dem steigenden Einfluss von kurzfristig ausgerichteten, institutionellen Anlegern vor allem aus dem Ausland, Hedge Funds, Anlagefonds und Finanzprodukten innert zehn Jahren halbiert, die Wertschwankungen sind entsprechend gestiegen. Bei Nestlé werden 30 Prozent der Aktien nicht länger als drei Monate gehalten. Vermögensverwalter Peter Lehner bereitet diese Entwicklung wenig Freude. Der zunehmende Automatismus und die verbreitete Casinomentalität verstärkten den Herdentrieb und damit Kursausschläge in einzelnen Titeln. Daneben werde ein Grossteil des Schweizer Marktes mit einem der besten Segmente an mittelgrossen und kleinen Aktien vernachlässigt. Um dieses Rückgrat der Schweizer Wirtschaft zu stärken, brauche es langfristig orientierte Investoren, Schweizer wie Ausländer, fordert der Manager des erfolgreichen Schweizer Nebenwertefonds SaraSelect (siehe «Anlagetipps» im Nebenartikel).
Biedermann führt noch einen weiteren Vorzug der Schweizer Aktionäre an: «Wir verstehen uns, kulturell und wirtschaftlich.» Schweizer Anleger können die Entwicklung ihrer Unternehmen aus nächster Nähe verfolgen. Deshalb ist der Home-Bias-Ansatz, anders als in vielen andern Aktienmärkten, in der Schweiz durchaus erfolgversprechend. Das Forschungsinstitut für Asset Management in Aachen hat für Schweizer Anleger mit einem Heimportfolio über 25 Jahre eine Rendite von elf Prozent errechnet, gegenüber nur neun Prozent für jene mit einem Weltportfolio. Nebst der Zusammensetzung des Aktionaritats und einem langfristigen Anlagehorizont ist bei der Aktienwahl allerdings auch die Bewertung des Unternehmens zu beachten. Mit besonderer Swissness verbundene Aktien wie Lindt & Sprüngli oder Straumann bieten selbst nach Kurseinbrüchen von über 25 Prozent keine günstigen Einstiegsgelegenheiten für kurzfristig orientierte Spekulanten, hingegen faire Bewertungen für langfristig ausgerichtete Investoren. Was dann aber immerhin der Zielsetzung einer guten Aktionärsbeziehung entspricht, wie der Finanzspezialist Professor Rudolf Volkart betont.