Der HMT High Medical Technologies hätte es zum weltweiten Durchbruch verhelfen sollen: Nach vierzehnjähriger Aufbauarbeit schrieb das kleine Lengwiler Medizinaltechnikunternehmen (30 Millionen Franken Umsatz, 3,6 Millionen Franken Betriebsgewinn) 1998 dank guter Nachfrage nach seinem Stosswellenapparat Lithotron in den USA erstmals schwarze Zahlen. Dieser Achtungserfolg sollte zementiert und das Geschäft kräftig ausgebaut werden. Die dafür notwendigen 100 Millionen Franken wollte sich Firmenchef Karl-Heinz Restle Anfang April am SWX New Market beschaffen. Als Emissionsbanken waren die Credit Suisse und die Bank Sarasin gesetzt. 50 000 Hochglanzbroschüren lagen zum Versand bereit, die Einladungen für die Medienkonferenz Ende März im Zürcher Hotel Savoy waren auch schon verschickt. Doch dann blockierte ausgerechnet das wichtigste Rad im Getriebe. Eine Hand voll potenzieller Investoren, die man zuvor schon mal behutsam angetippt hatte, winkte unverhofft ab. «Kein Interesse an den Papieren», verlautete aus den in- und ausländischen Geldhäusern. Der Börsengang wurde noch am Tag vor der Pressekonferenz abgeblasen.

HMT ist bei weitem kein Einzelfall. Seit an den Technologiebörsen der Bär wütet und die Dotcoms gleich reihenweise alle viere von sich strecken, ist das Geschäft mit den Börsengängen (IPO) junger Wachstumsfirmen «förmlich tot», wie Hansruedi Stadler von der Syndikatsabteilung der Credit Suisse First Boston in Zürich bemerkt.

Wie mies die Stimmung gegenwärtig ist, spiegeln die Emissionsstatistiken der grossen Wachstumsbörsen. An der amerikanischen Nasdaq fanden im ersten Quartal dieses Jahres nur gerade neun Technologie-IPOs im Wert von vier Milliarden Dollar statt. Zieht man den 3,6 Milliarden-Dollar-Deal von Lucents Agere ab, verbleibt ein Restbetrag von kümmerlichen 400 Millionen Dollar. Im ersten Quartal des Vorjahres waren es noch 131 Börsengänge mit einem Gesamtwert von 20,3 Milliarden Dollar!

Einen markanten Rückgang meldet auch der Neue Markt in Frankfurt. Betrug das Emissionsvolumen im ersten Quartal 2000 noch stolze 30 Milliarden Euro, sackte es im ersten Quartal dieses Jahres auf vergleichsweise mickrige 554 Millionen Euro ab. Nur gerade fünf Firmen wagten sich im ersten Quartal 2001 an die deutsche Raketenbörse, drei davon – Nordex, LS Telcom und OHB Teledata – floppten bereits am ersten Handelstag. An das Rekordergebnis des letzten Jahres wird der Neue Markt diesmal mit Sicherheit nicht anknüpfen können. Damals zählte das Hochrisikotableau im ersten Halbjahr allein bereits 99 Neuzugänge.

Robert Wyss, Chef des SWX New Market, wäre hingegen nur schon um einen einzigen Neuzugang froh. Seine Bonsai-Nasdaq leidet nach der Dekotierung des Langenthaler Softwareunternehmens Miracle unter akutem Sauerstoffmangel. Bluewin, All Com, HMT, Obtree, Red Cube, Bee oder Evalis – die Liste der hier zu Lande aufgeschobenen oder aufgehobenen IPOs wird täglich länger.

«Die Anleger haben schlichtweg null Bock auf die neuen Märkte», klagt ein Privatbanker. Verübeln kann man den Aktionären ihren Widerwillen nicht. Dafür sind die bisher gesammelten Erfahrungen einfach zu negativ. Irrwitzige Businesspläne, überzogene Budgets, verpasste Ertragsziele, undurchsichtige Transaktionen von Altaktionären und erste Konkurse haben das Vertrauen der Anleger in die KMU-Börsen zerstört. Die einstigen Hoffnungsmärkte gleichen einem Trümmerfeld. An der Nasdaq haben selbst Vorzeigeunternehmen der New Economy wie Yahoo oder Amazon.com über 90 Prozent an Wert verloren.

Dass der Nasdaq-Index nicht noch tiefer abgestürzt ist, haben die Anleger laut Experten einigen wenigen Schwergewichten à la Intel oder Microsoft zu verdanken. Deren Aktien haben seit dem Allzeithoch im März 2000 zwar auch massiv an Wert eingebüsst. Dank ihrer soliden Finanzsituation bieten sie dem Gesamtmarkt aber eine gewisse Stabilität.

In Deutschland hingegen, wo solche Giganten fehlen, notierten per Mitte März von insgesamt 338 am Neuen Markt gehandelten Aktien schon 212 unter ihrem Emissionspreis. 97 von diesen 212 wiesen Verluste von 75 Prozent oder mehr auf. Kaum besser erging es dem SWX New Market. Hier wechseln derzeit 9 von 16 Firmen unter Emission die Hand. Schwer erwischt hat es vor allem 4M (88 Prozent unter Emissionspreis), Crealogix (–66), E-Centives (–50), Day (–86), Swissquote (–74) und Think Tools (–75).

Nicht nur die Anleger scheuen neuerdings das Risiko. Auch Venture-Kapitalisten und Emissionsbanken, die sich nach diversen Pleiten Sorgfaltspflichtverletzungen vorwerfen lassen müssen – im Fall Miracle sind Aktionärsklagen in Vorbereitung –, haben jetzt gezwungenermassen den Rückwärtsgang eingelegt. Laut Branchenkennern sind die gloriosen Zeiten, als man jeden E-Winzling nach einer kurzen Hätschelphase und einer kräftigen Kapitalspritze auf XL-Format aufblasen und über die Börse verkaufen konnte, vorerst vorbei. Jetzt sei wieder «echte Entwicklungsarbeit angesagt», meint etwa Risikokapitalexperte Christoph Wolfer von der Aventic.

Die Private-Equity-Tochter der UBS, die unter anderem die Softwarefirma Day Interactive mitfinanzierte, wollte in diesem Jahr eigentlich drei oder vier Firmen an die Börse bringen. Doch daraus wird jetzt nichts. «Wahrscheinlich bringen wir keine einzige», so Wolfer desillusioniert. Stattdessen müssen die Risikokapitalisten entscheiden, welche Schützlinge sie mit neuem Geld am Leben erhalten und welche sie abschreiben sollen.

Für viele Firmen dürfte dieser Selektionsprozess in einer Niederlage enden. Schon während des Booms am Neuen Markt stellte das deutsche Bundesamt für den Wertpapierhandel (BAWe) fest, dass immer mehr Start-up-Firmen schlecht vorbereitet waren. 1999 untersagte das BAWe in 30 Fällen die Veröffentlichung von eingereichten Prospekten wegen gravierender Mängel, im Jahr darauf waren es schon über 70. Obschon sich diese Untersagungen nicht auf die Qualität der Businesspläne selbst bezogen haben, muss in einigen Fällen befürchtet werden, dass nicht nur die Vorbereitungen zum Börsengang ungenügend waren.

Bei der Aventic, die über ein Beteiligungsportefeuille im Wert von rund 275 Millionen Franken verfügt, hätten mehr als die Hälfte der 27 Jungfirmen noch genügend Geld, um die nächsten ein bis zwei Jahre problemlos zu überstehen, wie Wolfer erklärt. Für den Rest gebe es drei Möglichkeiten: entweder neues Geld einschiessen, verschiedene Firmen untereinander fusionieren oder aber gleich alles einstampfen. «Rund zehn Prozent unserer Investments müssen wir abschreiben», rechnet Wolfer vor.

Auch die Bank Vontobel, die sich in den letzten zwei, drei Jahren mit insgesamt 26 Börsengängen an den neuen Märkten zu einer der bedeutendsten IPO-Banken in der Schweiz gemausert hat, muss jetzt über die Bücher. Während man im vergangenen Jahr rund zwölf Internet-IPOs durchgezogen habe, seien E-Firmen in diesem Jahr überhaupt kein Thema mehr, verlautet aus der Bank. Beim Rest müsse man jetzt halt genau prüfen, wer reif sei und wer nicht. «Nur diejenigen Firmen, die Gewinne schreiben oder kurz vor der Gewinnschwelle stehen, haben jetzt überhaupt noch eine Chance», sagt Sergio Terribilini von Corporate Finance. Die Bank hat zurzeit noch gerade zwei IPO-Kandidaten aus der Bio- und Medizinaltechnikbranche in der Pipeline, die diese Kriterien erfüllen. Ob und wann diese kommen, steht indes noch nicht fest und hängt davon ab, «ob sich die Börse in den nächsten Wochen und Monaten beruhigt», so Terribilini.

Wer jetzt noch über genügend Bares verfügt, schiebt den Börsengang auf und hofft auf bessere Zeiten. Denn entscheidet sich ein Unternehmen dem widrigen Marktumfeld zum Trotz für eine Publikumsöffnung, geht das nicht ohne happige Einbussen über die Bühne. Das eindrücklichste Beispiel der jüngs- ten IPO-Geschichte lieferte der amerikanische Glasfaserhersteller Lucent, der den Börsengang seiner Tochter Agere (4,7 Milliarden Dollar Umsatz, 156 Millionen Dollar Betriebsgewinn) dreimal verschieben musste. Die Preisspanne für die 600 Millionen Aktien wurde dabei sukzessive von 16–19 auf 6–7 Dollar gesenkt. Am 28. März debütierte Agere schliesslich doch noch – zu 6 Dollar die Aktie. Das hoch verschuldete Mutterhaus konnte es sich schlichtweg nicht leisten, das IPO zu verschieben. Doch statt der erhofften 7 Milliarden Dollar löste Lucent nur 3,6 Milliarden Dollar. Damit kam Agere noch verhältnismässig glimpflich davon. Am markantesten ist der Preissturz bei den Internetaktien. Für die «Dot-Bombs» wird heute nur noch der einfache Umsatz bezahlt, wenn überhaupt. Vor drei Jahren ist es noch das Zwanzigfache gewesen.

Ähnliche Erfahrungen wie Agere mussten die Aktionäre der HMT High Medical Technologies machen. Als sie im März ihre Preisvorstellungen kundtaten, staunten die potenziellen Interessenten nicht schlecht. 290 bis 330 Franken hätten sie für eine Aktie zahlen sollen, die im letzten Jahr kümmerliche 30 Rappen Gewinn abwarf. Die HMT-Aktie war den Investoren angeblich nur einen Zehntel dessen wert, was die Firmeninhaber Karl-Heinz Restle (31,4 Prozent der Anteile), Werner Schwarze (29,4), Axel Voss (29,4) und Walter Uebelacker (9,8) sowie die Emissionsbanken verlangt hatten.

Zurzeit ist die Lage derart vertrackt, dass kaum jemand noch an eine rasche Erholung der neuen Märkte glaubt. «Wir brauchten jetzt unbedingt bessere Unternehmensergebnisse, doch die werden wir auch im zweiten Quartal nicht bekommen», befürchtet CSFB-Banker Hansruedi Stadler. Vielleicht, hofft Stadler, werde es im dritten oder vierten Quartal besser. Die viel gepriesene Wirkung von Zinssenkungen beurteilt er eher kritisch.

«Die neuen Märkte haben ein Vertrauensproblem. Da helfen Zinssenkungen allein wenig.» Christoph Zwermann, Analyst von Sal. Oppenheim in Frankfurt, prophezeit nach der Superhausse gar die Superbaisse. «Der Neue Markt wird lange brauchen, bis er sich wieder erholt.» Zwermann findet es schade, dass es der Neue Markt so übertrieben hat. Denn dadurch, so der Analyst, würden jetzt auch gute Firmen in ihrer Existenz gefährdet. Nicht nur könnten sich diese Firmen kaum mehr Eigenkapital beschaffen. Mit der geschrumpften Kapitalbasis sei auch die Bereitschaft der Banken, Kredit zu gewähren, deutlich geringer geworden. «Das Ganze hat eine Art Eigendynamik entwickelt, die Firmenmanager sind machtlos.» Zwermanns trostlose Bilanz: «Nur ungefähr 30 bis 40 Prozent der Firmen am Neuen Markt werden allein durchkommen. Der Rest geht ein, fusioniert oder wird aufgekauft.»
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