Am Finanzplatz London geht die Brexit-Angst um: Stimmen die Briten beim Referendum am 23. Juni gegen einen Verbleib in der Europäischen Union, droht dem billionenschweren Euro-Handel an der Themse das Ende. «Bei einem Austritt Grossbritanniens aus der EU können die Behörden der Euro-Zone nicht länger tolerieren, dass ein grosser Anteil von Finanztransaktionen im Ausland abgewickelt wird», betont Christian Noyer, ehemaliger Vize der Europäischen Zentralbank (EZB). «Für die Mitglieder der Euro-Zone ist es bereits jetzt schwer zu akzeptieren, dass unsere Währung zum Grossteil ausserhalb der Währungsgemeinschaft und damit ausserhalb der Kontrolle der EZB gehandelt wird», schreibt der frühere französische Notenbankchef in einem Beitrag für die Denkfabrik OMFIF.
«Es wäre aussergewöhnlich, wenn die EZB zulassen würde, dass ihr Geld weiterhin ausserhalb ihrer Kontrolle gehandelt wird», assistiert Graham Bishop, ein Berater in Fragen der Finanzmarkt-Regulierung. Diese Ansicht teilt auch Nicholas Vernon, Experte für die Finanzdienstleistungsbranche bei der Denkfabrik Bruegel. Der Status Quo sei zwar durch die europäischen Verträge gedeckt. «Wenn der EU-Rahmen aber nicht mehr vorhanden ist, kann diese Sonderrolle nicht mehr aufrechterhalten werden.»
Von den aktiven Notenbankern würde es wohl keiner öffentlich zugeben - das Thema ist schliesslich politisch heikel. Hinter vorgehaltener Hand sehen sie es aber genauso. Es wäre die Gelegenheit, einen Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung zu korrigieren.
Das Billionenspiel
Dabei ist der klassische Devisenhandel - also der Tausch von Euro in Dollar oder Franken - nicht das eigentliche Problem. Wichtiger und vom Volumen viel umfangreicher sind die Termingeschäfte darum herum. Der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zufolge werden mehr als die Hälfte der weltweiten Zinsterminkontrakte im Gesamtvolumen von jährlich 435 Billionen Dollar (etwa 417 Billionen Franken) über LCH.Clearnet, eine Tochter der Londoner Börse LSE, abgewickelt. Das ist mehr als das Fünffache der weltweiten Wirtschaftsleistung.
Die EZB möchte die Abwicklung dieser und anderer Geschäfte mit Währungsderivaten unter ihrer Aufsicht haben. Denn nur so erhält sie Einblicke in die Kontrakte und hat die Chance, mögliche Probleme frühzeitig zu erkennen. Sonst muss sie sich wie nach der Finanzkrise von 2008 darauf beschränken, mit Not-Massnahmen Schlimmeres zu verhindern.
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage
Brexit-Befürworter sehen dennoch keine Gefahr für den Finanzplatz London. Auch bei der Einführung des Euro habe es geheissen, dass der Devisenhandel nach Frankfurt abwandern werde, betont Nigel Farage, Chef der euroskeptischen britischen Partei Ukip. «Es war damals falsch und ist heute falsch. London ist ein globales Finanzzentrum.»
Soeren Moerch, Chef des Anleihehandels der Danske Bank, hält diese Einschätzung für zu optimistisch. Die grossen US-Banken würden wohl ihre Europa-Zentralen in London belassen. «Aber die EU kann eine Menge Druck ausüben und die Regeln so kompliziert machen, dass es für die kontinentaleuropäischen Banken sinnvoller ist, den Handel nach Paris oder Frankfurt zu verlagern.»
Wirtschaftsfaktor Finanzindustrie
Dieser Aspekt ist Experten zufolge auch eine Triebfeder der geplanten milliardenschweren Ehe der Londoner Börse LSE mit der Deutschen Börse. Denn Letztere verfügt mit Eurex Clearing ebenfalls über ein Abwicklungshaus für Derivategeschäfte. Dessen Firmensitz ist Eschborn bei Frankfurt. Bei einem drohenden Aus für die Abwicklung des Euro-Handels in London könnte LCH.Clearnet das Geschäft nach einer Fusion also problemlos auf Eurex Clearing verlagern.
Ein Wegfall des LCH.Clearnet-Geschäfts und die wahrscheinliche Abwanderung von Banken wäre nicht nur für die LSE, sondern für Grossbritannien insgesamt ein Problem. Die Londoner City, wie die dortige Finanzindustrie meist genannt wird, zeichnet für zwölf Prozent der britischen Wirtschaft verantwortlich. Pro Jahr überweisen die Institute umgerechnet mehr als 80 Milliarden Euro Steuern an das königliche Schatzamt.
(reuters/ccr)