In den Jahren nach der Finanzkrise haben die Marktakteure ihre Wachstumserwartungen für schnell wachsende Firmen ständig nach oben geschraubt. Die Kurse von Wachstumsunternehmen wie Tesla, Uber und Shopify stiegen in der Folge zum Teil in schwindelerregende Höhen. Weniger wachstumsstarke Titel, etwa Value-Aktien wie Fedex, Kraft Heinz oder Philip Morris, hatten demgegenüber das Nachsehen. Unter Value-Aktien verstehen die meisten Börsianer Firmen mit einem soliden Geschäft bei gleichzeitig relativ tiefem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV).
Mittlerweile hat der Wind allerdings gedreht; letztes Jahr hatten Value-Titel die Nase vor den über viele Jahre stärkeren Wachstumstiteln. Das zeigt sich an den entsprechenden Indizes. So hat beispielsweise der MSCI World Value Index im Jahr 2022 einen Verlust von 6 Prozent erlitten. Unangenehm, aber kein Beinbruch. Wer dagegen auf den Wachstumsindex MSCI World Growth Index gesetzt hatte, brauchte ein deutlich robusteres Nervenkostüm. Denn hier betrug das Minus für das Jahr 2022 schmerzhafte 29 Prozent.
Angesichts dessen, dass Value bereits so viel besser abgeschnitten hat, fragen sich manche Investoren, ob der Zug bereits abgefahren sei, um von Wachstumsaktien auf Value-Titel umzuschichten. Oder lohnt sich das auch jetzt noch?
Die Antwort: Es gibt gewichtige Hinweise, dass sich die Märkte erst im frühen Stadium einer Trendwende befinden. Value-Titel sind immer noch ungewöhnlich attraktiv, Wachstumstitel haben dagegen im Moment tendenziell ein unvorteilhaftes Rendite-Risiko-Profil. Denn trotz des Rückschlags im letzten Jahr sind sie immer noch sehr teuer, insbesondere im Vergleich mit Value-Titeln.
Das ist nicht unbedingt überraschend. So hat das auf quantitative Anlagestrategien spezialisierte Finanzunternehmen Robeco gezeigt, dass die Finanzmarktakteure bei ihren Wachstumserwartungen systematische Fehler machen. Als Gruppe erwarten die Finanzmarktakteure, dass Value-Firmen um 2,5 Prozentpunkte weniger wachsen als ein durchschnittliches Unternehmen. Demgegenüber sollen Wachstumsfirmen um 4 Prozentpunkte stärker wachsen als eine durchschnittliche Firma.
Dieser Unterschied in den Wachstumserwartungen ist ein wesentlicher Grund, warum Investoren bereit sind, einen höheren Preis für Wachstumsunternehmen zu zahlen. Das Problem: Die Wachstumserwartungen sind grundsätzlich zu optimistisch. Acht Jahre nach der ursprünglichen Einschätzung, so Robeco, betrage die Differenz der Wachstumsraten von Value- und Wachstumsunternehmen nur 1 Prozentpunkt.
Wachstumsaktien meistens zu teuer
Nicht nur Robeco, auch die Finanzmarktforschung kommt deswegen zum Schluss: Die Preise für Wachstumsaktien sind die meiste Zeit über zu hoch, die Preise für Value-Aktien zu tief. Im letzten Jahrhundert kam es deswegen im Abstand von wenigen Jahren immer wieder zu einem Kollaps bei den Preisen von Wachstumsaktien, während Value-Aktien eine Überperformance zeigten. Aber seit der Finanzkrise konnte man dieses Muster nicht mehr wie früher beobachten.
Der Kurs von Value-Titeln blieb mehrheitlich tief, während der Preis von Wachstumsaktien immer weiter zulegte. Viele Marktakteure sehen einen Grund dafür in den Massnahmen der Zentralbanken, und hier insbesondere in deren Zinspolitik. Sinkende bzw. sehr tiefe Zinsen, wie sie nach der Finanzkrise der Fall waren, verschlechtern nach einer verbreiteten Meinung die relative Position von Value-Anlagen gegenüber anderen Anlagestilen, beispielsweise Wachstumsanlagen.
Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die Zinsänderungen sehr viel weniger wichtig sind als das Zinsniveau an sich. Wenn die Zinsen so tief sind wie nach der Finanzkrise, ist die Unsicherheit über den Wert zukünftiger Zahlungsströme gering. Dann sind Wachstumsunternehmen relativ zu Value-Unternehmen attraktiver, weil sie grössere weit in der Zukunft liegende Einkommensströme haben als Unternehmen mit geringem Wachstum.
Aber mittlerweile ist das Zinsniveau in ganz erheblichem Mass gestiegen, und es wird wohl noch eine ganze Weile hoch bleiben. Für das Kursniveau von Wachstumstiteln verheisst das nichts Gutes, zumal sie bisher nur wenig korrigiert haben. Value-Titel sollten im Gegensatz dazu von der aktuellen Situation profitieren. Aus dieser Perspektive scheint es vernünftig, das Exposure gegenüber Wachstumstiteln zu reduzieren und das Exposure gegenüber Value-Aktien zu erhöhen.