BILANZ: Viele Wirtschaftsexperten reden von der schlimmsten Krise seit der Grossen Depression. Sie sagen: Das stimmt gar nicht. Warum? Bill Emmott: Die Vergleiche mit den dreissiger Jahren sind vollkommen übertrieben. Alle stark betroffenen Länder hatten nach dem Zweiten Weltkrieg schlimmere Rezessionen. Was Arbeitslosigkeit oder Wohlstandsverluste angeht, so waren etwa die frühen achtziger Jahre in England oder die spät en fünfziger Jahre in den USA schlimmer. Die Krise ist aber noch nicht vorbei. Ich bin optimistisch. Wir haben zwar eine mühsame Erholung vor uns, aber ich sehe nicht, dass es schlimmer werden kann. Wir stehen vor zwölf oder achtzehn Monaten mit einer «jobless recovery», einer Erholung ohne neue Arbeitsplätze. Die Staatsverschuldung, die dramatisch zugenommen hat, wird diese Erholung erschweren. Gibt es denn gar keine Parallelen zu den dreissiger Jahren? Doch: Diese Krise ging, wie damals auch, von den Banken aus. Allerdings nur in der westlichen Welt. In China und Indien handelte es sich um eine traditionelle Rezession, wie wir sie im Westen seit dem Zweiten Weltkrieg kennen: eine hohe Inflation, welche die Verantwortlichen dann mit einer Zinserhöhung bekämpften. Beide Länder hatten Anfang 2008 sehr hohe Preissteigerungen, dann traten die Politiker auf die Bremse. Die können sie jetzt wieder lösen. Genau, und deshalb werden sich diese Länder auch schneller erholen. In China etwa hat das staatliche Bankensystem im ersten Halbjahr dieses Jahres mehr Kredite vergeben als im gesamten letzten Jahr. Es wird also weitere Schlagzeilen über die Verlagerung des Wirtschaftsschwerpunkts nach Asien geben. In Ihrem Buch «20:21 Vision», das 2003 erschien, betonten Sie, dass die USA auch im 21. Jahrhundert ihre Vorherrschaft behalten würden. Gilt diese Einschätzung auch nach der Finanzkrise, die ja von Amerika ausging? Amerika wird stark bleiben. Die demografischen Daten sind sehr gut: hohe Einwanderungszahlen und – anders als in vielen europäischen Ländern – steigende Geburtenraten. Die USA sind noch immer das innovativste Land der Welt. Dazu kommt der Basiseffekt: Wenn Sie als Nummer eins 2 oder 2,5 Prozent pro Jahr wachsen, bleiben Sie vorn. Doch natürlich werden China und Indien stärker. Wir bewegen uns auf ein multipolares System zu, mit den USA als Führungsmacht. Die Chinesen haben aber noch einen anderen Trumpf, den sie in den nächsten Jahren ausspielen werden. Welchen? Wenn China seine Währung konvertiert, haben die Unternehmen eine starke Akquisitionswährung. Das wird chinesische Firmen zu Weltkonzernen machen, schneller als die Japaner in den siebziger Jahren. Zudem wird der Renminbi-Yuan dann zur dritten Reservewährung neben dem Dollar und dem Euro. Worauf warten die Chinesen? Noch wollen sie die Kontrolle über ihre Währung nicht aufgeben. Zudem steigt der Wert des Yuan bei einer Konvertierung um mindestens 20 Prozent, und diese Aufwertung wäre schlecht für die Exportindustrie. Doch der chinesische Finanzsektor fordert diesen Schritt. Ich wäre sehr überrascht, wenn es nicht in spätestens fünf Jahren so weit wäre. Sie behaupten, dass die USA und England schneller aus der Krise kommen als die kontinentaleuropäischen Länder. Warum? Wenn wir in fünf Jahren auf die jetzige Krise zurückblicken, dann werden wir sehen, dass die Staaten, die das flexibelste Wirtschaftssystem haben und die damit am besten die Ressourcen von alten zu neuen Sektoren verschieben konnten, sich am stärksten erholt haben. Und das sind die USA und England. Und die Europäer auf dem Kontinent? Denen wird nichts anderes übrig bleiben, als wieder in die Richtung der liberaleren Staaten zu gehen. Derzeit scheint der Liberalismus aber in den grossen Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Italien verpönt zu sein. In der Rhetorik sicherlich, in den Taten jedoch nicht. Gerade hat Deutschland eine bürgerliche Regierung gewählt, und die grossen Wahlsieger sind die liberalen Vertreter von der FDP. In der EU-Kommision ist das liberale Rahmenwerk mit der Deregulierung der Märkte und dem Abbau von Handelshemmnissen weiterhin offizielle Politik, und das wird sich auch nicht ändern. Die Nachrufe auf die Marktwirtschaft kommen also zu früh? Auf jeden Fall. Gewiss, bei den Banken und auf dem Kapitalmarkt hat das System versagt. Banken sind exzessive Risiken eingegangen, und diese versteckten sie in Ausserbilanzgeschäften. Keiner wusste mehr, was der andere tat. Der Markt war intransparent und konnte deshalb nicht funktionieren. Jetzt brauchen wir volle Transparenz und höhere Eigenkapitalvorschriften. Die Regulierung muss schärfer werden. Aber gerade in Ihrer Heimat England sieht es nicht danach aus. Die Regulatoren wollen die Banken nicht zu stark schwächen. Die Skespis ist gross, und zudem haben die Regierungen einen Interessenkonflikt: Sie wollen die Banken nicht bestrafen, an denen sie grosse Anteile halten, wie an der Royal Bank of Scotland. Doch ich bin sicher, dass etwas passieren wird. Die Politiker wissen: Die Bestrafung durch den Wähler folgt, wenn man das System nicht verbessert. Wie weit werden die Banken von sich aus ihre Geschäftspraktiken ändern? Wenn Sie Verwaltungsratsmitglied von Barclays oder UBS wären, wären Sie nun sehr viel vorsichtiger. Die Banken werden risikoscheuer – und damit wohl auch weniger profitabel. Ist die liberale Revolution von Margaret Thatcher zu Beginn der achtziger Jahre der Grund für die Krise? Nein. Die Krise wurde nicht durch Deregulierung oder Liberalisierung ausgelöst. Thatcher bleibt eine Erfolgsstory. Die dreissig Jahre seit Beginn der Ära Thatcher-Reagan sind also keine Übergangszeit gewesen? Der Trend zum Liberalismus ist ungebrochen. Er hat sich verlangsamt, ist aber noch immer intakt. Die Chinesen werden nicht zu einem weniger liberalen System zurückkehren, die Inder ebenfalls nicht und auch die EU nicht. Wenn Sie in 20 Jahren auf heute zurückblicken, wird niemand sagen: Die Ära von Reagan und Thatcher dauerte nur von 1980 bis 2008. Die neuen Helden sind die Zentralbanker. Haben sie sich diesen Ruhm verdient? Am Anfang zählten sie sicher zu den Bösewichten. Wir haben beim «Economist» schon ab 2002 immer wieder darauf hingewiesen, dass der damalige US-Notenbankchef Alan Greenspan eine Immobilienblase produzierte. Wir hatten das mehrfach auf dem Cover, wir zeigten Ballons vor dem Platzen. Und Bernanke sass mit Greenspan im Board. Aber dann wurden sie zu Helden … Ja, sie machten den Unterschied zur grossen Krise der japanischen Wirtschaft in den neuziger Jahren aus. Wie die Japaner setzten auch die Amerikaner und Europäer auf riesige staatliche Konjunkturpakete. Doch anders als in Japan erhöhten die Notenbanken die Geldmenge massiv – und waren damit bisher recht erfolgreich. Die Frage ist nur, wie sie die Geldmenge wieder in den Griff bekommen. Es ist gut möglich, dass die Notenbanken schon wieder dabei sind, eine Blase zu produzieren. Bill Emmott (53) war von 1993 bis 2006 Chefredaktor des «Economist» und verdoppelte die Auflage auf 1,1 Millionen. Er studierte Philosophie, Politik und Ökonomie in Oxford und arbeitet heute als Autor und Berater, unter anderem für Swiss Re. Seine zuletzt erschienenen Bücher heissen «20:21 Vision» und «Rivals: How the power struggle between China, India and Japan will shape our next decade».
Der Bannerträger des Liberalismus lässt sich nicht beirren: Bill Emmott, langjähriger «Economist»-Chefredaktor, sieht die Marktwirtschaft weiter auf dem Vormarsch.
Lesezeit: 5 Minuten
Von Dirk Schütz
am 09.10.2009 - 02:00 Uhr
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