Schaut man auf die Bewertungen von Aktien, kann einem so etwas wie Schwindel erfassen. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse, kurz KGV, vieler beliebter Aktien sind zum Teil ungeheuer hoch. Anhand dieser Kennzahl wird abgeleitet, ob eine Aktie «teuer» ist oder nicht.

KGV am Beispiel des Onlinehandels- und Softwarekonzern Amazon heisst folgendes: An der Börse hat der Technologiegigant dieses Jahr schon um 70 Prozent zugelegt. Der Kurs ist damit auf das 91-fache des erwarteten Gewinns gestiegen, und das ist viel. Gewinn und Aktienkurs stehen von blossem Auge betrachtet in einem Missverhältnis.

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Beim E-Autobauer Tesla, der seinen Kurs dieses Jahr verfünffacht hat, liegt dieser Wert bei gar astronomisch anmutenden 791. Das KGV ist auch bei begehrten Schweizer Aktien hoch. Beim Pharmakonzern Lonza sind es 51, beim Medikamentenhersteller Bachem 79, beim gut gelaufenen Logistiker Kühne+Nagel 30.

Solche Bewertungszahlen schrecken viele ab. Ernst nehmen müssen Anleger diese Werte auf jeden Fall – es gibt aber theoretische, fundamentale und psychologische Erklärungen, weswegen hoch bewertete Titel keinesfalls ein prinzipielles «no-go» darstellen.

Tiefe Zinsen

Kurs-Gewinn-Verhältnisse basieren immer zum Teil auf Annahmen zur Zukunft. Analysten verwenden zwar mehr oder weniger die gleichen Parameter für deren Berechung, aber sie setzen unterschiedliche Erwartungen ein. Prinzipiell werden für eine Bewertung auch die Zinsen betrachtet, häufig die Renditen für zehnjährige amerikanische Staatsanleihen. Dies nährt, zumindest in der Theorie, die Ansicht, dass bei tiefen Zinsen höhere Bewertungen «erlaubt» seien.

Ob tiefe Zinsen allein hohe Bewertungen im eigentlichen Sinne «rechtfertigen», ist unter Investoren und Finanzmarkttheoretikern umstritten. Kritiker dieser These führen ins Feld, dass hohe Aktienkurse ohne Wachstum auch bei tiefen Zinsen letztlich nicht zu halten seien. In einem grösseren Zusammenhang ist die Betrachtung der Zinsen aber nicht falsch.

Aktien bleiben attraktiv

Der Hintergrund des sehr tiefen Zinseniveaus ist natürlich die ultralockere Geldpolitik vieler der grossen Zentralbanken der Welt. Was immer noch vielen Mühe bereitet, ist folgende Überlegung: Die Tiefzinsphase ist aus heutiger Sicht kein temporäres Abweichen eines früheren Kurses der Notenbanken mehr. Die lockere Geldpolitik ist der neue Standard geworden und wird es bis auf weiteres so bleiben.

Und dies bedeutet, dass Investoren um Aktien weiterhin schwerlich herumkommen werden. Geld, und dies bleibt auf absehbare Zeit so, wird auch weiter in hoch bewertete Aktien fliessen, sofern diese Qualität versprechen. Bewertungen spielen bei der Frage pro oder contra Investment zwar eine Rolle, werden von Anlegern aber in vielen Fällen letztlich als zweitrangig betrachtet.

Es gibt keinen Grund, am Wachstum zu zweifeln. Zum einen wird das Ende der Pandemie – nach einer vorsichtigen Prognose könnte man dies aufgrund der Impfstoff-Entwicklungen derzeit auf Mitte 2021 erwarten – neues Wachstum generieren.

«Die Digitalisierung bietet all jenen Unternehmen neue Chancen, die sich auf sie einstellen.»

Auch die Veränderung der Alltagsgewohnheiten wird neues Wachstum erzeugen. Die Digitalisierung bietet all jenen Unternehmen neue Chancen, die sich auf sie einstellen. Dies relativiert die Voraussage, dass Tech-Unternehmen und deren Börsenkurse bald das «Ende der Fahnenstange» erreicht hätten. Genauso wird die Entwicklung bei Medizinaltechnik, Pharma und anderen Bereichen neue Chancen eröffnen.

Wachstumsmöglichkeiten bedeuten auch, dass die Unternehmen weiter Dividenden bezahlen werden. Diese Beteiligung an Unternehmensgewinnen ist für viele Investoren ein Ersatz geworden für den weitgehenden Wegfall von Zinsen bei Obligationen. Die Coronakrise hat zwar Zweifel an der Dividendenfähigkeit der Unternehmen aufkommen lassen, doch aus heutiger Sicht ist bei vielen Unternehmen, gerade in der Schweiz, weiter mit angemessenen Ausschüttungen zu rechnen.

«Growth» gegen «Value»

«Growth»-Aktien sind, wie schon der englische Name sagt, Wachstumstitel. Growth-Investoren schauen weniger auf Bewertung und Kurs, sondern Titel, von denen sie sich hohes Umsatz- und Gewinnwachstum versprechen. Typische Growth-Aktien sind etwa Logitech oder Sika, Lonza und Ems-Chemie, für spekulativer ausgerichtete Investoren Idorsia oder AMS. 

Im Gegensatz dazu suchen «Value»-Investoren nach günstigen Gelegenheiten und schauen dabei genau auf die Bewertung. Sie kaufen Aktien von Firmen, von denen sie glauben, dass sie der Markt zu tief bewertet, weswegen der Kurs noch steigen müsse. Wer allerdings daneben greift, kauft nicht «value», sondern eine «value trap» – tappt also in die Falle. Eine Aktie, bei sich trefflich darüber streiten lässt, ob sie unterbewertet ist oder nur eine Falle darstellt, ist Swatch.

Langfristig gelten Value-Aktien als vielsprechender. Doch in den vergangenen zehn Jahren hat der amerikanische Russell 1000 Growth-Index 17 Prozent Rendite im Jahr gebracht, der Russell 1000 Value Index nur 10 Prozent. Treiber dahinter waren wohl die Technologie-Aktien.

«Das grosse Bild auf lange Sicht spricht immer noch für Growth», sagte Julius-Bär-Research-Chef Christian Gattiker im cash-Börsen-Tag der vergangenen Woche. Zwar kann es laut Gattiker bei Growth zu Rücksetzern kommen. Doch dann: Rücksetzer sind am Aktienmarkt normal. Diese werden mit der Zeit auch wieder aufgeholt.

Trügerischer Ankereffekt

Viele Anleger lassen sich aber auch von Wahrnehmungsmustern leiten. Ein Beispiel dafür ist der so genannte Ankereffekt. Dies geht beispielsweise so: Konsumenten halten eine Ware, die für 1,99 Franken angeboten wird, für günstiger als etwas, was 2 Franken kostet. Oder es es wird ein Dreier-Pack Joghurt, das von 8 auf 6 Franken reduziert wurde, als günstig angesehen, obwohl der Preis pro Becher immer noch zwei Franken beträgt.

«Es ist allein ein Gefühl, was vom Kauf einer bisher sehr gut gelaufenen Aktie absehen lässt.»

Nach diesem Muster verhält es sich auch bei Aktien. In der Schweiz interessieren sich viele Anleger für die Aktien der Grossbanken UBS und Credit Suisse (CS), weil sie wissen, dass diese vor der Finanzkrise 2007/2008 bis zu 75 respektive 96 Franken wert waren. Bei Kursen um 10 Franken erscheint es zwingend logisch, dass diese Aktien wieder steigen werden. Sie erscheinen als günstig. Doch der UBS-Kurs ist seit der Krise nur kurzzeitig über 20 Franken gestiegen, CS waren zuletzt 2016 so viel wert.

Die Konditionierung der Anleger auf solche Muster erklärt gleichsam, warum viele zum Beispiel von Tesla die Finger lassen, weil die Aktie bereits über 500 Dollar kostet, Anfang Jahr aber nur weniger als 100 Dollar Wert hatte. Auch wenn ein im Sommer erfolgter Aktiensplit die Aktie billiger aussehen lässt: Bei der Betrachtung eines Kurscharts seit Anfang 2020 entsteht der Eindruck, die Aktie sei viel zu stark gestiegen und müsse daher im Kurs wieder fallen.

Mit einer grundlegenden Analyse, wie es mit Tesla an der Börse weitergehen könnte, hat diese Wahrnehmung aber nur wenig zu tun. Es ist allein ein Gefühl, was vom Kauf einer bisher sehr gut gelaufenen Aktie absehen lässt.

Dieser Artikel erschien zuerst bei «Cash» unter dem Titel: «Warum Sie «teure» Aktien trotz allem beachten sollten».

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