Mehr als 30 Prozent soll der Schweizer Aktienindex SMI bis im Februar 2014 steigen. Das Kursziel von 10 500 Punkten hat Harald Preissler, Leiter Anlagemanagement der Bantleon Bank, formuliert. Das Erstaunliche daran? Die Prognose orientiert sich am Konjunkturzyklus. Blendet der Ökonom die hartnäckige Rezession im Süden Europas einfach aus oder die zuletzt deutlich unter eine Million gesunkenen Baubeginne in den USA? Schliesslich wäre ein Wert von rund 1,4 Millionen Baubeginnen vonnöten für eine dauerhafte Gesundung des Immobilienmarkts.
Preissler weist das nicht von der Hand, mahnt aber zugleich zu Besonnenheit: «Die Aussicht auf höhere Unternehmensgewinne stimmt mich für Aktien zuversichtlich. Die Firmen profitieren von günstigen Refinanzierungskonditionen, niedrigen Einkaufspreisen, allenfalls moderat steigenden Lohnstückkosten und einer anziehenden Nachfrage. Mit Blick auf den Schweizer Aktienmarkt kommt die Abwertung des Frankens gegenüber dem Euro als weiterer Pluspunkt für die Ertragsdynamik hinzu.»
Win-win-Situation. Fundamentale Argumente sind aktuell nicht die meistgehörten, wenn es darum geht, Engagements in Aktien zu begründen. Vielen Kommentatoren genügen die Stichworte «Anlagenotstand», «Bernanke» und «Draghi». Der kaum zu überschätzende Einfluss der Notenbanken auf die Entwicklung des Aktienmarkts zeigte sich zuletzt, als die Bemerkung des scheidenden Fed-Chefs Ben Bernanke, die ultraexpansive Geldpolitik im Herbst zu straffen und Mitte 2014 zu beenden, sogleich Verwerfungen an den Kapitalmärkten nach sich zog. Der SMI verlor Mitte Mai bis Ende Juni rund 1150 Zähler und notierte zeitweise bei 7250 Punkten. Doch der Anlagenotstand trieb die elektronische Herde zurück in die Dividendenpapiere. Auf den Rückschlag folgten eine deutliche Erholung und ein Zurückkrebsen Bernankes. Er spricht nun nur noch davon, die monetären Stimuli dem Markt zu entziehen, wenn sich der Arbeitsmarkt deutlich besser entwickle als erwartet.
So oder so sind das erfreuliche Aussichten für Aktien, sind die Research-Leute der Neuen Helvetischen Bank überzeugt. Es handle sich um eine Win-win-Situation. Denn die Liquidität, die derzeit die Hausse nährt, werde ja nur reduziert, wenn die Konjunktur anziehe und damit auch die Firmengewinne, was wiederum für den Kauf der Aktien der entsprechenden Unternehmen spreche.
Grund genug, um das Kurstableau der Schweizer Börse nach Werten zu durchforsten, die auch nach der jüngsten Erholung ein hohes Kurspotenzial aufweisen. Es erstaunt kaum, dass von den Analysten vor allem ein Titel überdurchschnittlich oft auf die Frage genannt wird, welche Aktie denn für das zweite Semester zu favorisieren sei: Nestlé. Sven Bucher, Leiter Research der ZKB, ist überzeugt, dass beim organischen Umsatzwachstum der Tiefpunkt im ersten Quartal erreicht worden ist. Nestlé dürfte zudem dank dem moderaten Rohstoffkostenumfeld die Margen ausweiten und so den Gewinn erhöhen.
Gipfeli, Schoggi und Lagerregale. Andere derzeitige Lieblinge aus dem Lebensmittelsektor sind Lindt & Sprüngli und der Tiefkühlbackwarenspezialist Aryzta. Stefan Meyer, Leiter Aktienresearch UBS Schweiz, sieht wie im Fall von Nestlé auch bei Aryzta eine sich abzeichnende Margenverbesserung. Die unter dem hiesigen Marktdurchschnitt liegende Bewertung erachtet er darüber hinaus als attraktiv. Im Gegensatz zu Aryzta werden Lindt & Sprüngli mit einer Prämie zum Gesamtmarkt gehandelt. Die sei aber gerechtfertigt, meint Franz Weis von Comgest, denn er traue Lindt & Sprüngli ein langjähriges Gewinnwachstum im zweistelligen Prozentbereich zu. Besonders kräftig fällt das Wachstum in den USA aus, wo die Kilchberger im Segment Luxusschokolade Marktführer sind.
Von tieferen Rohstoff- und Energiepreisen profitiert nicht nur der Lebensmittelsektor, sondern auch die Industrie ist Nutzniesser. Dabei entpuppen sich Unternehmen mit solidem Geschäftsgang – zum Beispiel Schindler oder Bucher – als Favoriten der Geldmanager. Turnaround-Kandidaten stehen aber ebenfalls in ihrer Gunst: namentlich AFG, Kardex und OC Oerlikon.
ZKB-Mann Sven Bucher sagt zu AFG: «Die Gesellschaft ist eine interessante Restrukturierungsstory, die AFG ab 2014 als fokussierten Bauausrüster vorsieht. Der Portfolio-Bereinigungsprozess schreitet voran und dürfte bei Bekanntgabe weiterer Devestitionen für positive Impulse sorgen.»
Remo Rosenau von der Neuen Helvetischen Bank (NHB) ergänzt: «AFG-CEO Daniel Frutig hat bezüglich der geplanten und notwendigen Verkäufe bisher einen sehr guten Job gemacht, gerade kürzlich wieder mit der Veräusserung der Unterdivision der Stahlrohre.» Nun fehlt noch der Verkauf der Division STI Surface Technology, um die Umgestaltung des Konzerns abzuschliessen. Falls dies gelingt, erachtet Rosenau einen Kurs von mehr als 30 Franken pro Aktie als gerechtfertigt.
Er nennt einen weiteren Favoriten: «Der Lagerlogistiker Kardex ist eine der günstigsten Aktien im industriellen Quervergleich.» Und er ist überzeugt, dass, selbst wenn die Division Stow nicht verkauft werden sollte und sich der Gewinn 2013 nicht verbessert, ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von nur 10 resultiert, was ihm als zu günstig erscheint. Sollte der beschlossene Verkauf der Division Stow definitiv über die Bühne gehen, sähe die Bewertung noch attraktiver aus. In diesem Fall erwartet Rosenau eine deutliche Anpassung nach oben.
Jan Peterhans, Leiter Aktien von Swisscanto, sieht demgegenüber für OC Oerlikon eine rosige Zukunft aufziehen. Er begründet das unter anderem mit der führenden Marktposition in den Bereichen Textilmaschinen, Getriebesysteme, Beschichtung und Vakuumtechnologie. Nach den Verlustjahren 2008 und 2009 habe das Management unter CEO Michael Buscher das Unternehmen wieder auf den Erfolgspfad lenken können. Die Früchte des Turnarounds würden in den nächsten Jahren geerntet, ist sich Peterhans gewiss. Zudem profitiere der grösste Bereich, Textile, von der Verlagerung von Natur- zu Chemiefasern. Mit dem Verkauf des Naturfaserbereichs sei das Unternehmen weniger zyklisch geworden. Noch bestünden zwar gewisse Unsicherheiten nach dem Abgang von CEO Buscher. Die Neubesetzung könnte jedoch dem Kurs Auftrieb verleihen. Im Aufwind befindet sich laut Peterhans auch Comet, die erfolgreich als Marktführerin in kleinen Nischen wie Röntgensystemen für industrielle Anwendungen und Kondensatoren für Vakuumkammern tätig ist. Wachstumstreiber seien hier die zunehmenden Anforderungen an Qualitätskontrollen in der Industrieproduktion.
Ein weiterer Name für die Einkaufsliste sei Dufry, erklärt Comgest-Manager Weis. Der Reiseeinzelhändler und Duty-free-Betreiber erzielt 50 Prozent des Umsatzes in Lateinamerika und profitiert davon, dass Flughäfen weltweit immer professioneller verwaltet werden und Konzessionen nur an die besten Gesellschaften vergeben werden. Die Aktie ist mit einem KGV von 13 sehr günstig bewertet. Stefan Meyer von der UBS sieht das ähnlich und rechnet damit, dass sich das organische Wachstum 2014 deutlich beschleunigt, was noch nicht in der derzeitigen Aktienbewertung enthalten sei. Angetan sei er auch vom Flughafen Zürich mit seinen Aktien, die zu den attraktivsten Schweizer Immobilien- und europäischen Flughafentiteln gehörten.
Reise Richtung Nordosten. Beim Ausblick aufs zweite Halbjahr fällt auf, dass Bankwerte nicht zu den Lieblingen der Analysten zählen. Zwei Ausnahmen gibt es allerdings: UBS und Valiant. Letztere handelt mit einem Abschlag von rund 20 Prozent auf dem Buchwert, rechnet Remo Rosenau von der NHB vor, was er als ungerechtfertigt erachtet, weshalb er Aufholpotenzial sieht. Zudem erscheine Valiant mit Blick auf einen leichten Zinsanstieg spannend. Bei einer Refinanzierungssumme von rund vier Milliarden Franken pro Jahr wirke sich ein möglicher Zinsanstieg um 0,1 Prozent auf Stufe Reingewinn mit nur rund vier Millionen aus. Peterhans setzt auf die UBS. Die Aussicht auf substanzielle Kapitalrückführungen an die Aktionäre, sobald die gesteckten Kapitalziele erreicht sind, locke zum Einstieg.
Die Reise an der Börse dürfte in den kommenden Monaten Richtung Nordosten gehen. Der Ökonom Harald Preissler warnt jedoch vor zu viel Euphorie. Entscheidend sei ja nicht, ob der SMI auf 9800 oder 10 500 Punkte steige, sondern dass bis in die Wintermonate mit Schweizer Aktien Geld verdient werden könne. Danach zeigen seine Frühindikatoren eine scharfe Korrektur an.