Jahrelang standen Analysten und Banker im Ruf, die Anleger mit schöngefärbten Renditeversprechen an die Aktienmärkte zu locken. Martin Ebner, Erwin Heri oder Lukas Mühlemann gehörten zu den Vertretern jener Zunft, die den Börsenhype kräftig nährten. Mit dem Platzen der Blase jedoch hielt an den Märkten ein neuer Realismus Einzug, wie ihn Oswald Grübel geradezu exemplarisch verkörpert. Die Börse, erklärte der Chef der Credit Suisse im Sommer 2002, werde sich in den nächsten Jahren wohl nur noch seitwärts bewegen. Der Dow Jones Index, so seine Prognose in Anlehnung an die mageren siebziger Jahre, werde im Jahr 2010 unter Umständen immer noch bei 10 000 Punkten stehen – diese Marke hat die amerikanische Börse inzwischen längst hinter sich gelassen.
Auch die Analysten der UBS warnten noch Anfang Jahr vor einer schlechten Börsenperformance. Der Swiss Market Index (SMI) werde bis Ende 2005 um fünf Prozent an Wert verlieren, lautete der düstere Ausblick. Nur einen Tick zuversichtlicher gab sich Walter Knabenhans: Der CEO der Bank Julius Bär prognostizierte für dieses Jahr ein Plus von fünf Prozent beim SMI, um gleich anzufügen, der «Bear Market» werde noch einige Zeit andauern.
Erneut sind die Auguren auf dem falschen Fuss erwischt worden: Tatsächlich hat der Schweizer Aktienmarkt dieses Jahr um bis zu 23 Prozent zugelegt und erreichte damit den höchsten Stand seit vier Jahren. Mit dem exzellenten Kursverlauf steigt auch der Risikoappetit vieler Anleger. Manch einer ärgert sich vielleicht über verpasste Gewinne. Die meisten Aktien und Fonds sind nur noch zu deutlich höheren Preisen zu haben als zu Beginn dieses angeblich so wenig ergiebigen Jahres. Deshalb: Wer erst jetzt einen Kauf prüft, sollte Vorsicht walten lassen. Nicht nur sind die Kurse stark gestiegen, auch einige wichtige Rahmenbedingungen an den Finanzmärkten haben sich im Verlaufe des Jahres verschlechtert:
1. Erdöl
Der innerhalb der vergangenen 18 Monate verdoppelte Ölpreis bremst die Konjunktur. Gegen zwei Prozent Wachstum hatten die Konjunkturexperten Anfang Jahr der Schweizer Wirtschaft vorausgesagt. Inzwischen rechnet die Schweizerische Nationalbank für 2005 noch mit einem Plus von einem Prozent. Die drei letzten globalen Rezessionen folgten alle auf einen abrupten Anstieg des Ölpreises. Gemäss Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) führt eine Preissteigerung um zehn Dollar pro Fass – seit Anfang 2004 verteuerte sich das Öl gar um 30 Dollar – zu einer globalen Wachstumsverlangsamung um 0,6 Prozent im folgenden Jahr.
Die Energiepreise dürften zudem hoch bleiben: Im Gegensatz zu den letzten Ölschocks stiegen sie nicht auf Grund einer plötzlichen Angebotsverknappung, sondern wegen der höheren Nachfrage aus den Emerging Markets (siehe «Chinas Ölhunger» unten). Der IWF erwartet, dass auch künftig drei Viertel der zusätzlichen Nachkfrage aus den Schwellenländern kommen. Die gestiegenen Energiekosten schmälern nicht nur die Gewinnmarge der Industrie, sie drücken ebenso auf die Konsumlust. Entsprechend hat die Bank Morgan Stanley das prognostizierte Wachstum der amerikanischen Konsumausgaben für 2006 von 3,4 auf 2,8 Prozent gesenkt. Die Obligationenmärkte haben bereits auf die gedämpften Konjunkturaussichten reagiert, während die Aktienkurse bislang kaum korrigierten.
2. Asien
Seit dem Ölschock der siebziger Jahre wird die Energie in den industrialisierten Ländern effizienter genutzt. Doch zugleich ist die Erdölabhängigkeit der Schwellenländer massiv gestiegen. In China liegt der Ölverbrauch in Relation zur Wirtschaftsleistung 2,3-mal so hoch wie im Westen, in Indien sogar 2,9-mal. Das bedeutet: Die am schnellsten wachsenden Regionen auf dem Erdball sind gleichzeitig diejenigen, die am empfindlichsten von einem neuerlichen Preisschock getroffen werden. Trotzdem klettern die Kurse an den Aktienmärkten in den meisten dieser Länder unbeirrt weiter nach oben.
Vor allem die stark exportabhängige Wirtschaft Chinas gerät durch das teure Öl unter Druck – und zwar gleich doppelt: Auf der einen Seite schrumpfen die Kostenvorteile des Tieflohnlandes. Gleichzeitig geht bei einem Einbruch des Konsums in den USA der wichtigste Wachstumstreiber verloren. Noch im Juli vermeldete China einen Zuwachs der Ausfuhren von phänomenalen 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ein Drittel der Exporte geht in die Vereinigten Staaten (siehe «Ungleiche Partner» unten). Durch diesen enormen Boom seien in Chinas Industrie jedoch grosse Überkapazitäten entstanden, hält UBS-Experte Joe Zhang fest. Falls die chinesische Wirtschaft an Schwung verliert, trifft das allerdings auch die USA: Derzeit kauft China zusammen mit Japan für Hunderte von Milliarden Dollar amerikanische Staatsobligationen und finanziert damit das bedrohlich wachsende Handelsbilanzdefizit.
3. Immobilienblase
Nach dem Börsencrash senkte die US-Notenbank die Leitzinsen bis 2003 auf ein rekordtiefes Niveau von einem Prozent, um die sich anbahnende Rezession zu mildern. Sie überschwemmte die Märkte in einem noch nie erreichten Masse mit Liquidität, worauf sich prompt neue Spekulationsblasen bildeten, besonders auf dem Immobilienmarkt (siehe BILANZ 13/2005: «Heisser Ritt auf dem Boom»). Auch in anderen Ländern, allen voran in Australien und Grossbritannien, sind die Häuserpreise geradezu explodiert. Laut Berechnungen des «Economist» sind die Immobilienwerte in den Industrieländern innert fünf Jahren von 40 000 auf 70 000 Milliarden Dollar angestiegen. Das Magazin spricht von der grössten Blase, die es je gab. Andy Xie, Ökonom bei Morgan Stanley, schätzt, dass diese «grösste Blase aller Zeiten» inzwischen eine Grösse erreicht habe, die der Hälfte des weltweiten Bruttoinlandprodukts entspreche.
Dieser Befund wird gestützt durch Daten, die Robert Shiller, renommierter Professor an der Yale University, zusammengetragen hat. Mit seinen Studenten analysierte Shiller die realen, inflationsbereinigten US-Häuserpreise seit dem Jahr 1890. Das eindrückliche Ergebnis hat er in der neusten Auflage seines Buchklassikers «Irrational Exuberance» publiziert (siehe «In luftiger Höhe» oben). Demnach lagen die teuerungsbereinigten Immobilienpreise in den USA noch Mitte der neunziger Jahre praktisch auf dem gleichen Niveau wie ein Jahrhundert früher. Somit ist die Preisexplosion der letzten Dekade ein historisch einmaliges Ereignis.
4. Schuldenberg
Die Menschen verschulden sich viel eher für den Kauf eines Hauses als für Aktien. Entsprechend sind mit dem Immobilienboom in den USA auch die privaten Schulden regelrecht explodiert (siehe «Ein Land schreibt Rot» auf Seite 135). In den letzten fünf Jahren ist die Summe der Konsumkredite um 58 Prozent auf 2129 Milliarden Dollar angestiegen. Bei den Hypotheken erreichte die Zunahme gar 79 Prozent, auf insgesamt 10 774 Milliarden Dollar. Viele amerikanische Hausbesitzer haben ihre Hypotheken aufgestockt, um damit die Konsumausgaben zu finanzieren. In den letzten vier Jahren «verdienten» sie auf diese Weise mehr als 700 Milliarden Dollar. Zum ersten Mal seit den frühen dreissiger Jahren ist die Sparquote der Privaten wieder negativ.
Da die Hauseigentümer grosse Schulden mit sich tragen, schädigt ein Immobiliencrash die Wirtschaft viel stärker als eine Blase an den Aktienmärkten. Der IWF hat in einer Studie weltweit 20 Immobilienkrisen aus den Jahren 1970 bis 2001 untersucht – Amerika war in dieser Periode als einziges grosses Land von keiner Krise betroffen. In 19 Fällen führte das Platzen der Blase zu einer Rezession, wobei im Vergleich zu einem Börsencrash durchschnittlich doppelt so viel Vermögen vernichtet wurde. Überdies ist es kein Zufall, dass mit Japan und Deutschland die beiden Länder das geringste Konsumwachstum im vergangenen Jahrzehnt aufweisen, die auch bei den Immobilienpreisen am schlechtesten abschneiden. In Japan sind die Hauspreise seit 1991 sogar um 40 Prozent gefallen und befinden sich damit wieder auf dem Niveau der frühen achtziger Jahre.
5. Zinskurve
Das reale Zinsniveau in den USA liegt seit praktisch drei Jahren im negativen Bereich, das heisst, die Leitzinsen sind tiefer als die Inflationsrate. In der Schweiz besteht dieser Zustand seit mittlerweile zwei Jahren. Eine dermassen expansive Geldpolitik betreiben die Notenbanken in der Regel nur im Falle einer schweren Rezession. So waren die Realzinsen seit den siebziger Jahren praktisch immer positiv. Diesmal jedoch hat die amerikanische Zentralbank Fed die Geldschleusen offen gelassen, obwohl sich die Konjunktur bereits seit längerem wieder erholt hatte. Damit schuf die US-Notenbank den Boden für die Immobilienblase.
Seit einem Jahr nun hat Fed-Chef Alan Greenspan die Zinsen schrittweise auf zuletzt 3,75 Prozent erhöht. Normalerweise folgen die langfristigen Zinssätze, insbesondere der zehnjährigen Staatsobligationen, den Vorgaben der Zentralbank. Doch diesmal sind sie im Gegenteil gefallen, was Greenspan offen als «Rätsel» bezeichnete. Jean-Pierre Roth, der Präsident der Schweizerischen Notenbank, sprach unlängst von einer «perplexen Situation». Durch die Erhöhung der Zinsen am kurzen Ende bei gleichzeitigem Absenken am langen Ende ist die vor Jahresfrist noch steile US-Zinskurve inzwischen praktisch flach geworden (siehe «Kurz vor dem Kippen» links unten). Hält dieser Trend an, was Stephen King, der Chefökonom der britischen HSBC, erwartet, so käme es zu einer inversen Zinskurve. Das hiesse, die kurzfristigen Zinssätze wären höher als die langfristigen, weil die Marktteilnehmer in Erwartung einer wirtschaftlichen Schwächephase mit zukünftig tieferen Zinsen rechneten.
In der Tat gilt eine inverse Zinskurve als Warnsignal: Im Jahr 1996 kamen Arturo Estrella und Frederic Mishkin von der Federal Reserve Bank of New York in einer Studie zum Schluss, dass eine inverse Zinskurve als einziger von insgesamt sechs Frühindikatoren zuverlässig eine Rezession vorhersagen konnte. In einer zweiten Untersuchung 1999 mit über 20 Indikatoren war das Resultat dasselbe.
Zwar erklären verschiedene Ökonomen, dieser Zusammenhang gelte diesmal nicht. So seien die Zinssätze der langfristigen Anleihen durch die zunehmende Nachfrage der Pensionkassen übermässig nach unten gedrückt worden. Trotzdem steigt, aus Angst vor einer inversen Zinskurve, der Druck auf die amerikanische Notenbank, die Leitzinsen nicht mehr weiter zu erhöhen. Damit steckt Alan Greenspan im Dilemma: Belässt er die Geldpolitik auf ihrem expansiven Kurs, so riskiert er eine noch grössere Spekulationsblase an den Immobilienmärkten.
6. Gewinne
Der wichtigste Grund für die steigenden Aktienkurse sind die hervorragenden Gewinnzahlen der Firmen. 2005 werden die Konzerne im SMI voraussichtlich sogar den kumulierten Rekordgewinn aus dem Jahr 2000 übertreffen. Weltweit präsentiert sich das gleiche Bild: Der Anteil der Firmengewinne am Bruttoinlandprodukt ist auf den höchsten Stand seit vielen Jahren geklettert, in den USA war er seit 75 Jahren nicht mehr so hoch (siehe «Rosige Zeiten» unten). Gründe für die rekordhohen Margen sind der Produktivitätsschub durch die neuen Technologien und das effizientere Management. Die Globalisierung hat zudem eine Entlastung auf der Kostenseite gebracht.
Doch selbst wenn die Margen auch in Zukunft hoch bleiben: Gemäss der ökonomischen Theorie und der historischen Erfahrung können die Unternehmensgewinne auf lange Frist nicht stärker wachsen als die Wirtschaft insgesamt. Genau davon scheinen die Analysten, nachdem sie ihre Gewinnerwartungen sukzessiv erhöht haben, inzwischen allerdings auszugehen. In den USA liegt die Konsensprognose derzeit bei einem langfristigen Gewinnwachstum von zwölf Prozent jährlich, verglichen mit sieben bis acht Prozent in der überdurchschnittlich profitablen Periode seit 1973. Das nominale BIP-Wachstum dürfte mit geschätzten fünf Prozent über die nächsten Jahre noch tiefer liegen.
Auch in der Schweiz warnt die Zürcher Kantonalbank vor einem «zunehmenden Enttäuschungspotenzial» auf Grund der nach oben geschraubten Gewinnprognosen. Für 2006 und 2007 liegen die Konsensschätzungen bei einem Plus von 11,2 respektive 9,7 Prozent. Das noch zu überbieten, wird für die Unternehmen immer schwieriger.
Trotz den negativen Vorzeichen gibt es Gründe, die für einen weiteren Kursanstieg sprechen. Neben der positiven Gewinnentwicklung bei den Firmen ist vor allem die Liquiditätsschwemme zu nennen, die durch die ausserordentlich expansive Geldpolitik der Notenbanken entstanden ist. Durch die rekordtiefen Zinsen ist der Kauf von Obligationen unattraktiv geworden. Wer sein Geld für zehn Jahre in Schweizer Staatsanleihen investiert, erhält dafür noch einen mickrigen Zins von zwei Prozent. Gleichzeitig treten an den Aktienmärkten immer aggressivere Investoren auf den Plan, die, wie die österreichische Victory bei Unaxis, ihre Engagements über billige Kredite zum Spottpreis finanzieren.
Oswald Grübel, der lange Zeit pessimistisch gestimmte CEO der Credit Suisse, erwartet jetzt plötzlich einen «längerfristigen Aufwärtstrend». Noch im Frühjahr sei er skeptisch gewesen, erklärte Oswald Grübel kürzlich in einem Interview mit «Finanz und Wirtschaft», doch dann sei er «umgeschwenkt». Insgesamt sei er heute «optimistischer als zuvor». Privatanleger sollten sich durch diese neu erwachte Zuversicht indes nicht blenden lassen. Die Rahmenbedingungen an den Finanzmärkten haben sich in den letzten zwölf Monaten insgesamt verschlechtert. Das globale Ungleichgewicht mit einem schuldengetriebenen Konsumboom in den USA auf der einen und einem exportgetriebenen Investitionsboom in Asien auf der andern Seite hat weiter zugenommen. Doch je länger diese Entwicklung andauert, desto grösser wird die Gefahr einer Korrektur an den Märkten.
Eine Prognose darüber, ob die Liquiditätsschwemme die Kurse vorerst weiter nach oben treibt, erweist sich als schwierig – selbst renommierte Banker und Analysten liegen mit solchen Vorhersagen häufig daneben. Deshalb lohnt sich ein Blick in die Statistik: Seit 1960 hat die Schweizer Börse beinahe jedes dritte Jahr mit einem Verlust beendet. Auf eine Frist von vier Jahren betrug das statistische Risiko, weniger als das Startkapital zu besitzen, nur noch 14 Prozent. Die bisher längste Periode, um einen Verlust wieder wettzumachen, dauerte acht Jahre, von 1972 bis 1980. Wer sein in Aktien investiertes Geld für die nächsten vier oder gar acht Jahre nicht benötigt, sollte also auch in Zukunft ruhig schlafen können. Selbst dann, wenn an der Börse wieder härtere Zeiten anbrechen.