BILANZ: Herr Nobs, Sie haben Ihre Laufbahn als Küchenjunge im Bahnhofbuffet Spiez begonnen und gelten heute als Übervater der internationalen Jazzszene. Wie sind Sie zur Musik gekommen?
Claude Nobs: Die Lehrstelle im Bahnhofbuffet von Spiez hatte mir mein Vater vermittelt. Doch ich blieb nicht lange dort, weil ich schon bald das ganze Menu beherrschte – im Wesentlichen Rösti, Käseschnitten und Spiegeleier. Sobald sich die Gelegenheit bot, wechselte ich deshalb zum «Schweizerhof» nach Basel, wo ich meine Kochlehre abschloss. Anschliessend wollte ich eigentlich die Hotelfachschule besuchen, doch meine Eltern hatten dafür kein Geld.
Eine typische Tellerwäscherkarriere?
Ja. Anstatt nach Lausanne zu gehen, nahm ich Mitte der fünfziger Jahre eine Stelle beim Kongresshaus in Zürich an. Jedes Mal, wenn dort ein Jazzkonzert über die Bühne ging, schmuggelte ich mich in den Backstage-Bereich, sodass ich die Liveauftritte gratis mitverfolgen konnte – Ella Fitzgerald, Count Basie oder Duke Ellington. In meiner Freizeit hörte ich zudem ständig Jazzsendungen am Radio, und alles, was ich damals verdiente, gab ich für Kochbücher und Schallplatten aus.
Wie viele Schallplatten, Tapes und Videobänder sind seither dazugekommen?
Im Keller meines Chalets lagern heute über eine Million Songs auf alten LP, CD und Laserdisks. Dieses Material – Jazz, Rock und Klassik gemischt – hat jedoch nichts mit Montreux zu tun. Ich habe es über all die Jahre gesammelt und an den verschiedensten Orten, etwa auf Flohmärkten, gefunden und zusammengekauft.
Und wo befinden sich die legendären Festivalaufnahmen?
Im Keller meines ersten Chalets, das heute von meinem Lebenspartner bewohnt wird.
Sie trauen Ihrem Partner mehr als sich selbst?
Ja, aber vor allem ist er ein Genie in Sachen Informatik. Deshalb verwaltet er das Archiv mit über 5000 Stunden Original-Video-Aufzeichnungen von 1967 bis heute und allen dazugehörigen Angaben zu den einzelnen Stücken, den beteiligten Musikern, Komponisten und Arrangements. Wahrscheinlich handelt es sich um die weltweit grösste musikalische Audio-/Videosammlung. Die Keller in beiden Chalets sind denn auch von dicken Betonmauern umschlossen, sodass weder eindringende Feuchtigkeit noch mögliche Erdbeben ein Problem bilden könnten.
Wem gehören die Rechte an diesem Archiv?
Mitte der neunziger Jahre entschied der Verkehrsverein von Montreux, das gesammelte Videomaterial und den Namen «Montreux Jazz Festival» zu verkaufen. Eine Gruppe von Festivalfreunden, zu der unter anderem François Carrard, Pierre Landolt und André Kudelski zählen, brachte 500 000 Franken für die Übernahme des Namens auf. Ich selbst ging zur Bank und übernahm für den gleichen Betrag das Videoarchiv. Dazu gehören alle Masterbänder des Schweizer Fernsehens und die von uns ab 1973 selbst hergestellten Videomittschnitte. Die künstlerischen Rechte liegen natürlich bei den Musikern; uns gehören nur die physischen Tapes.
Wenn man bedenkt, wie viele Musiker von Weltruhm in Montreux aufgetreten sind, liesse sich damit wohl ein hübsches Geschäft aufziehen. Wie hoch schätzen Sie den Wert der gesammelten Festivalaufnahmen?
Microsoft wollte uns schon vor Jahren das ganze Archiv für 50 Millionen Dollar abkaufen.
Wie haben Sie reagiert?
Die Höhe des Angebots hat mich nicht beeindruckt. Ich habe Nein gesagt. Damals bot Microsoft Museen und anderen kulturellen Institutionen riesige Geldsummen für die Wiedergaberechte von Kunst an. Doch Microsoft war es kein Anliegen, die Kunst der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein umfangreiches Kulturerbe nur für eine kleine Elite? Das ist nicht mein Ziel.
Lieber sitzen Sie auf einem unproduktiven musikalischen Schatz. Ein gutes Gefühl?
Manchmal komme ich mir vor wie ein Hahn, der auf goldenen Eiern sitzt und vergeblich versucht, diese auszubrüten. Mit dem Aufkommen der DVD dachten wir zunächst, das Problem sei gelöst. Doch wegen des Internets stehen wir heute bereits vor der nächsten Herausforderung. Primär versuchen wir derzeit, mit den gegebenen technischen und finanziellen Mitteln die Festivalarchive für die kommenden Generationen zu erhalten.
Welches Geschäftsmodell schwebt Ihnen denn vor?
Im Internet würde ich gerne von jedem Musiker und jeder Band, die in den letzten vierzig Jahren in Montreux aufgetreten sind, mindestens ein Stück gratis zur Verfügung stellen. Das wären dann immerhin 5000 frei verfügbare Songs. Bei allem, was darüber hinausgeht, wäre ein Download kostenpflichtig. Ich interessiere mich sehr für neue technologische Entwicklungen. Derzeit gilt Blu-ray als ultimatives High-Definition-System. Im Moment – und ich weiss nicht, wie lange dieser Moment dauert – kann man dieses System nicht einfach kopieren oder aus dem Internet downloaden, weil es sehr viel Speicherkapazität erfordert.
Sie wollen Ihren Musikschatz gegen Nutzergebühren vertreiben, ohne die Kontrolle darüber zu verlieren. Vor dem gleichen Problem steht heute die gesamte Musikindustrie.
Unser Ziel ist nicht das grosse Geld. Wir wollen lediglich genügend Einnahmen generieren, um unsere Unkosten zu decken.
Das sagen alle.
Im Ernst: Das Videomaterial altert und ist gemäss Untersuchungen der ETH Lausanne vom Zerfall bedroht, falls wir nicht bald etwas unternehmen. Wir brauchen deshalb dringend ein paar Millionen Franken, um unser einzigartiges Archiv für die Nachwelt zu retten. Bis dato verfügen wir nicht einmal über eine Sicherungskopie.
Wie wollen Sie das Problem angehen?
Wir stehen in Kontakt mit dem Microsoft-Mitbegründer Paul Allen, der in Seattle für 350 Millionen Dollar ein riesiges Musik-Museum gebaut hat. Zwar gibt es dort eine Menge hübscher Andenken wie zum Beispiel eine von Jimi Hendrix benutzte Gitarre zu bewundern, aber daneben fehlt es dem Museum an musikalischer Software. Darauf lassen auch die bisher enttäuschenden Besucherzahlen schliessen. Als Allen mich letztes Jahr in Montreux besuchte und ich ihm unsere Videosammlung zeigte, sagte er: «This is what I need.»
Wie viel sind Allen die Nutzungsrechte des Archivs wert?
Wir sind im Gespräch, haben aber noch keinen Vertrag abgeschlossen. Wie gesagt, steht für uns dabei die Frage im Vordergrund, ob eine Zusammenarbeit mit Allen genügend Geld einbringen würde, um die Kosten für eine Digitalisierung und eine neue Speicherung sämtlicher Audio- und Videotapes zu decken. In der Nähe von Bordeaux gibt es ein Forschungszentrum von Sony, wo sich einige der erfahrensten Spezialisten mit der Rettung von alten Videobändern beschäftigen. Sie holen die alten Tapes mit gekühlten Lastwagen ab, digitalisieren die gespeicherten Inhalte mit ausgeklügelten Technologien und bringen das Ganze als DVD oder auf Festplatte wieder zurück.
In wenigen Tagen wird auf dem Genfer Flughafen das erste Montreux Jazz Café eröffnet. Unter anderem sollen dort musikalische Highlights aus vierzig Jahren Montreux auf Grossleinwand gezeigt werden. Ist dies der erste Schritt zur Kommerzialisierung Ihrer Archivbestände?
Nein, das steht nicht im Mittelpunkt unseres Konzepts. Die Idee mit dem Montreux Jazz Café trage ich schon seit mehr als zehn Jahren mit mir herum. Ähnlich wie die international etablierte Marke Hard Rock Café wollten wir damit ursprünglich in die Zentren grosser Städte, fanden dafür aber keine Investoren. Ermutigt durch den Erfolg von Peter Rebeiz, Chef des «Caviar House», mit seinen Seafood Bars, entschieden wir uns, das Konzept auf internationalen Flughäfen umzusetzen. Immer mehr Leute müssen dort stundenlang auf ihre Anschlussflüge warten. Sie sind oft müde, langweilen sich und haben es satt, zu McDonald’s oder Starbucks zu gehen.
Was servieren Sie Ihren Gästen – von historischen Musikkonserven einmal abgesehen?
Das Montreux Jazz Café wird von sechs Uhr morgens bis Mitternacht durchgehend geöffnet sein. Es besteht aus einem Souvenirshop, einer Zone, wo die Gäste kostenlos bestimmte Songs downloaden können, einem Spezialitätenrestaurant und einem Lounge-Bereich mit Bühne und Grossleinwand. Das Menu stammt im Wesentlichen vom Küchenchef des «Lion d’Or» in Cologny, wobei ich als gelernter Koch natürlich auch ein paar Ideen beigesteuert habe.
Falls das Konzept auf Anklang stösst, wollen Sie es auch exportieren. Gibt es diesbezüglich bereits konkrete Pläne?
Die Flughäfen von Los Angeles, Singapur, Sydney und Hongkong haben ihr Interesse angemeldet. Unterschrieben ist aber noch nichts.
Wer besitzt die kommerziellen Rechte am Montreux Jazz Café?
Wir haben zu diesem Zweck eine Firma gegründet, die über die Lizenz verfügt, den Brand Montreux Jazz zu verwerten. Ich selbst, Peter Rebeiz und zwei weitere Partner teilen sich die Aktien.
Mit welchen Investitionen rechnen Sie in den nächsten zwei, drei Jahren?
Wir selbst planen keine grossen Investitionen, sondern setzen das Konzept mit einem Franchising-Nehmer um. Unsere Aufgabe wird darin bestehen, für die richtige Ambiance und einen einheitlichen Auftritt zu sorgen – von der Musikprogrammierung bis zum Designergeschirr.
Seit über vierzig Jahren stecken Sie Ihre Energie in die Entwicklung des Montreux Jazz Festival. Hatten Sie nie Lust, etwas ganz anderes zu machen?
Nein, mein Herz schlägt für Montreux. Mehr als einmal habe ich deshalb andere, hochattraktive Jobangebote ausgeschlagen. So wollte mir eine grosse Schallplattengesellschaft schon vor Jahren ein Millionensalär bezahlen, wenn ich bereit gewesen wäre, für die besagte Firma Musiker zu suchen und unter Vertrag zu nehmen. Obwohl mir Freunde dringend rieten, die Offerte anzunehmen, schlug ich sie aus.
Was würden Sie als Ihren grössten Luxus bezeichnen?
Mein grösster Luxus ist die Freiheit, das zu tun, was mir am meisten Spass macht. Eine innere Haltung, die einem ermöglicht, nicht um jeden Preis immer noch mehr Geld machen zu müssen. Dafür muss man unabhängig entscheiden und auch Nein sagen können.
Materieller Reichtum sagt Ihnen nichts?
Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich habe. Mein neues Chalet oberhalb von Montreux wollte ich eigentlich mit dem Guthaben aus meiner Pensionskasse finanzieren, aber leider sind die Baukosten derart aus dem Ruder gelaufen, dass es nicht ohne Bankkredit ging.
Was würden Sie als den grössten Erfolg Ihrer Laufbahn bezeichnen?
Es gibt keinen einzelnen Anlass, den ich herauspicken will. Rückblickend erfüllen mich verschiedene Dinge mit Stolz; etwa dass ich bereits in unserem zweiten Festivaljahr damit begann, Rock’n’Roll-Konzerte zu veranstalten – mit Formationen wie Deep Purple, Led Zeppelin, Chicago, Ten Years After, The Rolling Stones oder Jethro Tull. All diese Bands spielten damals nur bei uns, womit Montreux eine Zeit lang die Rock’n’Roll-Hauptstadt Europas war.
Inzwischen findet man kaum noch internationale Jazzgrössen oder Rockstars, die in ihrer Karriere nicht mindestens einmal in Montreux aufgetreten sind. Welche namhaften Musiker fehlen noch in Ihrer Sammlung?
Nachdem Prince letztes Jahr bei uns gespielt hat, fehlen
jetzt eigentlich nur noch Stevie Wonder, Madonna und Bruce Springsteen.
Was verleiht Ihrem Festival eine solche Anziehungskraft? Gibt es einen geheimen Standortvorteil?
In Montreux gibt es während des Festivals keine Polizeistunde. Viele spontane Dinge, auch historische Momente, können sich deshalb oft mitten in der Nacht entwickeln. Ich erinnere mich etwa an ein Konzert von David Bowie, das bereits drei Stunden gedauert hatte. Als er von der Bühne herunterkam, sagte Bowie im Vorbeigehen zu mir: «Ich komme zurück!» Er verschwand nur kurze Zeit in seiner Garderobe, warf sich in einen knallroten Dress und spielte anschliessend noch einmal während einer geschlagenen Stunde. Solche Sachen erlebt man nur in Montreux.
Mit Preisen zwischen hundert und vierhundert Franken für einen Sitzplatz ist der Besuch Ihres Festivals nicht gerade billig.
Wir wollen lieber der Girardet als der McDonald’s des Festivalbetriebs sein. Neben Konzerten, für die wir Eintritt verlangen, gibt es in Montreux jede Menge Freikonzerte, Workshops, Public Viewings, Tanzgelegenheiten und Clubs, in denen Musik gespielt wird – ein breites, gänzlich kostenloses Angebot. Die ganze Seepromenade steht den Besuchern während sechzehn Tagen und Nächten frei zur Verfügung. Die Konzerte sind zwar die grossen Highlights. Bei einem Unterhaltungsangebot von zwanzig Stunden am Tag nehmen sie mit vier bis fünf Stunden aber nur einen vergleichsweise geringen Raum ein.
Der Sohn eines Bäckers und einer Krankenschwester wurde in Territet bei Montreux geboren. Seine Kochlehre schloss Claude Nobs als «bester Jungkoch der Schweiz» ab. Nach diversen Jobs – auch bei einer Bank und in der Tourismusbranche – landete er beim Verkehrsverein in Montreux. In dessen Auftrag bereiste der heute 71-Jährige die USA und knüpfte Kontakte zu Musikern, Produzenten und Plattenfirmen. Das von ihm gegründete Montreux Jazz Festival geht 2008 zum 42. Mal über die Bühne (4. bis 19. Juli).