Die Adresse ist so edel wie das Gebäude: An die Königinstrasse 107 in München, in den prunkvollen Palast, der die Hauptverwaltung des Rückversicherungsgiganten beherbergt, hat der Chef geladen.
Hans-Jürgen Schinzler (60), Vorstandsvorsitzender der Münchener Rück, empfängt an diesem schönen Frühsommertag Journalisten zur Jahres-Pressekonferenz. Viele kommen nur, um dem Boss der Münchener Rück, von dem man so viel hört und so wenig sieht, einmal persönlich zu begegnen.
Der Konzern gilt als verschlossen, ja als regelrecht geheimnisvoll – und Schinzler trägt mit seinen spärlichen Auftritten in der Öffentlichkeit dazu bei. Erst vor einem Jahr hat die an der Börse mit rund 90 Milliarden Franken bewertete Münchener Rück es erstmals für nötig befunden, eine Finanzanalystenkonferenz zu veranstalten. Schinzler scherzte damals vor den versammelten Finanzprofis, er sei nur gekommen, «damit Sie sehen, dass es mich tatsächlich gibt».
Doch hinter der Kulisse der vornehmen Zurückhaltung schlagen die Münchener gehörig auf die Pauke. Schinzler treibt das Wachstum der Münchener Rück derzeit mit einer neu ausgerichteten Strategie konsequent voran. «Tempo verschärfen» hat die deutsche «Wirtschaftswoche» kürzlich als Motto in der Chefetage der Münchener Rück geortet. Unmittelbar betroffen vom Elan Schinzlers ist sein grösster Konkurrent, Walter Kielholz (50), Chef der Swiss Re.
Seit Jahren kämpfen die beiden Konzerne um den ersten Platz in der Branche. Es war bisher kein verbissener Kampf. Er wurde sehr gelassen und mit wechselnder Fortüne geführt – einmal war, gemessen am Prämienvolumen, der eine, einmal der andere oben. Der Umgang miteinander ist höflich und zurückhaltend. «Ein angenehmer Mensch, vor dem ich grossen Respekt habe», sagt Kielholz über Schinzler. «Ein fairer Konkurrent», sagt Schinzler über Kielholz.
Branchenkenner glauben sogar eine Art friedlicher Koexistenz der beiden Konkurrenten zu orten, doch dies trügt. Der Umgang der beiden Player sei zwar «gentlemanlike, doch im Geschäft mit den Kunden knallhart», sagt Stefan Lippe, Chef der jüngst in den Swiss-Re-Konzern eingegliederten Bayerischen Rück. Lippe weiss, wovon er spricht, sitzt die in München domizilierte Swiss-Re-Tochter doch quasi in der Höhle des Löwen.
In Zukunft könnte die alte Ordnung gestört werden. Denn Schinzler, seit 1993 an der Spitze, will seinen Konzern in den kommenden Jahren mit einer ausgeweiteten Strategie in neue Gefilde lenken. Geht der Plan auf, dürfte die Swiss Re endgültig abgehängt werden. Kielholz, lange Jahre der Branchenprimus, wird sich in Zukunft vermehrt in der ihm ungewohnten Rolle des Gejagten finden.
Die Strategie, mit der Schinzler wachsen will, läuft derjenigen der Swiss Re diametral entgegen. Hat die Swiss Re 1994 den gesamten Erstversicherungsbereich abgetrennt und konzentriert sich seitdem auf das Kerngeschäft Rückversicherung, so will die Münchener Rück genau den entgegengesetzten Weg gehen: «Ich sehe das Schwergewicht unserer Entwicklung im Bereich Erstversicherung», verkündete Schinzler an der Pressekonferenz.
Nun hatte die Münchener Rück schon vorher Erstversicherer unter ihrem Dach. Doch der Bereich war im Vergleich zur Rückversicherung zweitrangig. Der Bereich soll, so sagen Insider, gleich stark, ja vielleicht sogar stärker werden als der Rückversicherungsteil.
Erstversicherer sind Firmen, die Privatkunden Unfall-, Feuer- oder Lebensversicherungen verkaufen. In der Schweiz etwa die «Zürich» oder die Bâloise, in Deutschland die Allianz oder die Hamburg-Mannheimer. Rückversicherer versichern Versicherungsgesellschaften, vor allem für den extremen Schadensfall, etwa bei Erdbeben, Stürmen oder Überschwemmungen.
Mit dem Beschluss, das Stammgeschäft der Rückversicherung relativ gesehen zurückzustutzen, dürfte Schinzler richtig liegen. Denn die Stellung der Rückversicherer wird im Vergleich zu den Erstversicherern abnehmen.
Der Grund liegt im Konzentrationprozess in der Branche. Durch Fusionen und Übernahmen entstehen immer weniger und immer grössere Erstversicherer. Je grösser aber eine Versicherungsgesellschaft wird, desto weniger Rückversicherung braucht sie, weil sie wegen ihrer grösseren Finanzkraft auch mehr Risiken selbst tragen kann. Ein Beispiel dafür ist die französische Axa, die 1998, zwei Jahre nach der Übernahme der damals grössten französischen Gesellschaft UAP, die an Rückversicherer abzugebenden Beiträge fast um die Hälfte senkte – einfach dadurch, dass sie einen erhöhten Selbstbehalt übernahm, sich damit zwar einem höheren Eigenrisiko aussetzte, aber Prämien sparte. Das war möglich wegen der durch den Zusammenschluss mit UAP entstandenen Kraft.
Der Konzentrationsprozess hat einen weiteren Nachteil für die Rückversicherer: «Mit jedem Erstversicherer, der übernommen wird, verschwindet ein Kunde», sagt Michael Haid, Analyst der Bank Sal. Oppenheim in Frankfurt. Erstversicherer haben Millionen von Kunden. Rückversicherer nur die Hand voll Versicherungsgesellschaften, die es in jedem Land gibt. Diese Trends sprechen klar für die Münchener und gegen die Schweizer Rück.
Swiss-Re-Chef Kielholz sieht das allerdings anders. Erstens wüchsen parallel zu den Erstversicherern auch die Grossrisiken und damit der Druck, diese an einen Rückversicherer weiterzugeben. Zweitens diagnostiziert er bei einer Strategie, wie sie die Münchener Rück fährt, einen «inhärenten Konflikt mit den grossen Kunden».
In der Tat riskiert die Münchener Rück, wenn sie ihre Erstversicherungstochter Ergo wie geplant auf einen aggressiven Wachstumskurs schickt, Geschäftsbeziehungen mit bestehenden Kunden zu verlieren: «Ein Erstversicherer wird sich genau überlegen, ob er mit einer Rückversicherung einen Vertrag abschliesst – ihr also seine Kalkulation offen legt –, wenn deren Erstversicherungstochter einen scharfen Preiskampf anzettelt», merkt «Die Zeit» kritisch an.
Auch Ulrich Bremi, Expräsident der Swiss Re, der 1994 die vom damaligen CEO Lukas Mühlemann vorgenommene Abtrennung des Erstversicherungsteils entscheiden musste, sieht die Swiss Re gut positioniert, «weil wir sonst auf allen Positionen unseren Kunden Konkurrenz machen würden».
Die Münchener Rück scheint diese Frage ernst zu nehmen. Das zeigt sich daran, dass Schinzler über eine Holdingstruktur mehr oder weniger laut nachdenkt. Erstens, weil sich ein grosser Erstversicherungsteil nicht mehr als Abteilung der Rückversicherung eingliedern lässt, und zweitens, weil so die «chinese walls» zwischen den Bereichen höher und fester wären.
Klar ist, dass die Chancen für die Münchener mit der neuen Strategie, das oberste Podest dauerhaft zu erobern, gut stehen. Schinzler selbst will die Nummer-eins-Position allerdings nicht als Ziel sehen. «Umsatzmässige Grösse ist nicht so wichtig», sagt Schinzler, «wichtig ist es, nicht zuzulassen, dass der andere besser wird.» Solange die Swiss Re ihn nicht mit einem Quantensprung überhole, schiele er nicht auf den Konkurrenten. «Von mir aus darf das Kopf-an-Kopf-Rennen wie bisher weitergehen», so Schinzler.
Für Swiss-Re-Präsident Peter Forstmoser ist «Grösse kein Prestigeziel». Sein CEO Kielholz will sich denn auch von der Aufbruchstimmung in München nicht beirren lassen. Die Swiss Re habe den Entscheid, das Erstversicherungsgeschäft abzustossen, «nicht einen Tag bereut», sagt Kielholz. Auch aus heutiger Sicht mache der Entscheid Sinn. Die Ausgangslage der Swiss Re sei 1994 anders gewesen als jene der Münchener Rück. Fast überall habe die kritische Masse gefehlt.
Doch das ist nur eine Seite der Betrachtung. Nicht nur die kritische Masse fehlte bei der Swiss Re, viele der Erstversicherungstöchter waren in einem desolaten Zustand und sorgten für Verluste, wie die spanische Tochter Schweiz Seguros. Möglicherweise sei der Entscheid der Swiss Re «etwas aus der Not entstanden», sagt Detlef Schneidawind, Vorstandsmitglied der Münchener Rück.
Swiss-Re-Insider munkeln, Kielholz würde gerne wieder vermehrt auf Erstversicherungspfaden wandeln, könne dies aber nicht tun, um seinen Vorgänger und Mentor Lukas Mühlemann nicht zu brüskieren. Mühlemann, heute Präsident der CS Group, war es, der unmittelbar nach seinem Antritt als Chef der Swiss Re den Anstoss gab und damit für «einen Befreiungsschlag für unser Unternehmen sorgte», so VR-Präsident Forstmoser. Noch immer ist Mühlemann im Verwaltungsrat der Schweizer Rück und hat intern auf Grund seines Prestiges grossen Einfluss.
Kielholz selbst heizte kürzlich die Spekulationen an, die Swiss Re plane die Rolle rückwärts, als er gegenüber dem deutschen «Handelsblatt» eine Zukunft für denkbar hielt, in der sein Unternehmen «teilweise wieder bis zum Endkunden vorstösst». Konkret steht die Swiss Re in den USA kurz davor, über ihren Partner, den Onlinebroker Charles Schwab, per Internet Lebensversicherungen zu verkaufen. Ist dies die Wende um 180 Grad und die Umkehrung von Mühlemanns «Befreiungsschlag»?
Kielholz winkt ab: Die Swiss Re fungiere in diesem Fall nur als Risikoträger. Vertrieb und Policenverwaltung seien nicht Sache der Swiss Re, sondern des Partners Charles Schwab. Doch dass solche Fragen auftauchen, zeigt, wie unsicher viele Beobachter inner- und ausserhalb der Schweizer Rück sind, ob das Kerngeschäft allein den Konzern in die Zukunft tragen kann.
Dies umso mehr, als die Münchener Rück noch weitere Trümpfe im Ärmel hat, den Schweizern davonzuziehen. Da sind die prall gefüllten Kassen. Die Münchener Rück ist sagenhaft reich. Durch Beteiligungen an deutschen Grossunternehmen, etwa an der Allianz, der HypoVereinsbank oder Siemens, haben die Münchener ein Excess-Capital (Überschusskapital) von rund 45 Milliarden Franken. Das Eigenkapital der Münchener Rück beträgt zudem 35,7 Milliarden Franken: «Wir sind in der Tat recht komfortabel mit Kapital ausgestattet», freut sich Heiner Hasford, Finanzchef der Münchener Rück. Das Überschusskapital soll in Zukunft für das Geschäft freigesetzt werden. Allein etwa durch die Reduktion des Anteils an der Allianz fliessen der Münchener Rück rund 7,6 Milliarden Franken in die Kassen. Dieses Geld bewirkt – das ist sehr wichtig in einer Zeit immenser Grossschäden –, dass die Kunden auf den Potentesten von allen setzen. Das Geld ist laut Schinzler «ein Garant für die ständige Erfüllbarkeit unserer Verpflichtungen und trägt wesentlich dazu bei, dass wir in der heutigen Marktsituation mehr denn je gesucht sind».
Reichtum ist wichtig für das Vertrauen der Kunden, und da sich diese gerne persönlich von der Kapitalkraft ihres Rückversicherers überzeugen, protzen die beiden Kontrahenten denn auch tüchtig mit ihrem Geld. Die Münchener Rück hat nicht nur ihre Firmenzentrale wie einen Fürstenpalast gestaltet, sie hat zudem die beiden Hauptgebäude in München mit einem futuristisch anmutenden Netz von unterirdischen Gängen verbunden, einige über hundert Meter lang. Gespart wurde an nichts: Internationale Topkünstler wie der Amerikaner James Turrell durften die Tunnels mit ihren Lichtarbeiten aufwerten.
Die Swiss Re wiederum hat hoch über dem Zürichsee in Rüschlikon für über hundert Millionen Franken ein Kongresszentrum vom Feinsten hingepflastert, architektonisch subtil in die Landschaft eingebettet und mit Tagungsräumen und Suiten ausgestattet, bei denen selbst Luxushotels neidisch würden. Mit der gezielten Förderung von Kunst und Künstlern beweisen die beiden Kontrahenten nicht nur ihren guten Geschmack, sondern zeigen auch, was sie sich so alles leisten können.
Können die Schweizer beim Beeindrucken der Kunden gut mithalten, so ist ihr Atem bei Übernahmeprojekten begrenzt. Die prallvollen Kassen der Münchener könnten den Ausschlag geben, wenn beide Konzerne bei einem Übernahmekampf um den gleichen Kandidaten buhlen und die Deutschen mehr Geld auf den Tisch legen könnten.
«Unser Kapital muss in der Tat etwas mehr schwitzen», sagt Kielholz und gibt zu, dass der engere finanzielle Spielraum theoretisch ein Nachteil sein könne. In der Praxis habe sich dies aber bisher kaum ausgewirkt. «Wir haben noch nie eine Chance verpasst, weil wir zu wenig Geld gehabt hätten», betont auch Swiss-Re-Finanzchef John Fitzpatrick.
Für die Münchener Rück bedeutet ihr Überschusskapital wiederum, dass ihr Börsenwert übermässig von ihren Beteiligungen abhängt. So basiert der Wert der Münchener Rück zu einem Drittel auf ihrem Paket an der Allianz, das einen Wert von 22 Milliarden Euro hat. Schwanken die Allianz-Aktien, schwanken die Münchener-Rück-Papiere mit.
Für die Aktionäre bedeutet dies Unsicherheit. Für den Stellungskampf mit der Schweizer Rück hat er aber wohl kaum negative Auswirkungen. Im Gegenteil, die Beteiligungen waren von der Börse gesucht und dürften in Zukunft eher noch einen weiteren Anstieg des Reichtums der Münchener bewirken.
Was lange Zeit zudem als Argument gegen die Münchener und für die Schweizer Rück gesprochen hat, dürfte sich kurzfristig für die Münchener Rück als Vorteil erweisen: die starke Ausrichtung auf den deutschen Markt. Lange galt die internationaler ausgerichtete Schweizer Rück als geografisch besser positioniert. Bringt der Schweizer Heimmarkt für die Swiss Re nur 6 Prozent des Umsatzes, so generiert die Münchener Rück rund 30 Prozent im eigenen Land. Was lange als Klumpenrisiko galt, gilt plötzlich als Chance. Durch die von der deutschen Regierung eingeleitete Rentenreform werden in den kommenden Jahren Milliarden von Rentengeldern aus dem staatlichen in den privaten Bereich umgelagert. Profitieren werden die Banken und Versicherungen vor Ort.
Die Swiss Re indes muss ihr Wachstum verstärkt in den USA und in Asien suchen. Vor allem in den USA ist sie gut positioniert, ist sie doch stark in der Lebens-Rückversicherung. Da die Lebensversicherung allgemein als Wachtstumssektor gilt, profitiert die Swiss Re doppelt, ist sie doch im Wachstumssegment des Wachstumssegments. Sollten sich gar die jüngsten Gerüchte bewahrheiten, nach denen die Swiss Re eine Übernahme der Hannover Rück plane, könnten die Schweizer ihren Rückstand in Deutschland gegenüber der Münchener Rück etwas aufholen.
Auch künftig werden zudem für die Swiss Re die Gewinne aus den Kapitalanlagen eine überdurchschnittliche Rolle spielen. Ob allerdings jedes Jahr ähnlich gute Coups wie 2000 gelingen, als Finanzchef Fitzpatrick vor dem Einbruch der Börsen das Aktienexposure der Swiss Re drastisch reduzierte, ist fraglich.
Für beide Player positiv dürfte sich 2002 die generelle Marktlage entwickeln. Die letzten Jahre waren weltweit gekennzeichnet durch einen Preiszerfall bis zum Dumping. Die Prämien sind bis zu 50 Prozent gesunken. Dieser negative Trend hat sich gewendet; sowohl Swiss Re wie Münchener Rück konnten bereits Prämienerhöhungen durchsetzen. Der grösste Druck ist damit weg. Wie stark dieser war, zeigt sich etwa daran, dass die jahrelang als Jobschaffer hochgelobte Swiss Re jüngst in der Schweiz den Abbau von 200 Arbeitsplätzen bekannt geben musste. Auch dass Swiss Re und Münchener Rück letztes Jahr eine gemeinsame Internetplattform namens Inreon für gewisse standardisierte Rückversicherungsprodukte geschaffen haben, ist Ausdruck des enger gewordenen Spielraums.
Trotz härter werdender Konkurrenz ist die Zusammenarbeit im Rahmen von Inreon aber auch ein Zeichen dafür, dass es zumindest in nächster Zukunft nicht zu einem offenen oder gehässigen Schlagabtausch zwischen den beiden Konkurrenten kommen wird. Die Bedächtigkeit, die sowohl Schinzler wie Kielholz verkörpern, würde dies wohl kaum zulassen.
Einen Trost gibt es zudem, egal wer das Duell verliert: Die beiden Unternehmen, so das Urteil der meisten Analysten, sind immer noch viel besser als der Rest der Branche.
Hans-Jürgen Schinzler (60), Vorstandsvorsitzender der Münchener Rück, empfängt an diesem schönen Frühsommertag Journalisten zur Jahres-Pressekonferenz. Viele kommen nur, um dem Boss der Münchener Rück, von dem man so viel hört und so wenig sieht, einmal persönlich zu begegnen.
Der Konzern gilt als verschlossen, ja als regelrecht geheimnisvoll – und Schinzler trägt mit seinen spärlichen Auftritten in der Öffentlichkeit dazu bei. Erst vor einem Jahr hat die an der Börse mit rund 90 Milliarden Franken bewertete Münchener Rück es erstmals für nötig befunden, eine Finanzanalystenkonferenz zu veranstalten. Schinzler scherzte damals vor den versammelten Finanzprofis, er sei nur gekommen, «damit Sie sehen, dass es mich tatsächlich gibt».
Doch hinter der Kulisse der vornehmen Zurückhaltung schlagen die Münchener gehörig auf die Pauke. Schinzler treibt das Wachstum der Münchener Rück derzeit mit einer neu ausgerichteten Strategie konsequent voran. «Tempo verschärfen» hat die deutsche «Wirtschaftswoche» kürzlich als Motto in der Chefetage der Münchener Rück geortet. Unmittelbar betroffen vom Elan Schinzlers ist sein grösster Konkurrent, Walter Kielholz (50), Chef der Swiss Re.
Seit Jahren kämpfen die beiden Konzerne um den ersten Platz in der Branche. Es war bisher kein verbissener Kampf. Er wurde sehr gelassen und mit wechselnder Fortüne geführt – einmal war, gemessen am Prämienvolumen, der eine, einmal der andere oben. Der Umgang miteinander ist höflich und zurückhaltend. «Ein angenehmer Mensch, vor dem ich grossen Respekt habe», sagt Kielholz über Schinzler. «Ein fairer Konkurrent», sagt Schinzler über Kielholz.
Branchenkenner glauben sogar eine Art friedlicher Koexistenz der beiden Konkurrenten zu orten, doch dies trügt. Der Umgang der beiden Player sei zwar «gentlemanlike, doch im Geschäft mit den Kunden knallhart», sagt Stefan Lippe, Chef der jüngst in den Swiss-Re-Konzern eingegliederten Bayerischen Rück. Lippe weiss, wovon er spricht, sitzt die in München domizilierte Swiss-Re-Tochter doch quasi in der Höhle des Löwen.
In Zukunft könnte die alte Ordnung gestört werden. Denn Schinzler, seit 1993 an der Spitze, will seinen Konzern in den kommenden Jahren mit einer ausgeweiteten Strategie in neue Gefilde lenken. Geht der Plan auf, dürfte die Swiss Re endgültig abgehängt werden. Kielholz, lange Jahre der Branchenprimus, wird sich in Zukunft vermehrt in der ihm ungewohnten Rolle des Gejagten finden.
Die Strategie, mit der Schinzler wachsen will, läuft derjenigen der Swiss Re diametral entgegen. Hat die Swiss Re 1994 den gesamten Erstversicherungsbereich abgetrennt und konzentriert sich seitdem auf das Kerngeschäft Rückversicherung, so will die Münchener Rück genau den entgegengesetzten Weg gehen: «Ich sehe das Schwergewicht unserer Entwicklung im Bereich Erstversicherung», verkündete Schinzler an der Pressekonferenz.
Nun hatte die Münchener Rück schon vorher Erstversicherer unter ihrem Dach. Doch der Bereich war im Vergleich zur Rückversicherung zweitrangig. Der Bereich soll, so sagen Insider, gleich stark, ja vielleicht sogar stärker werden als der Rückversicherungsteil.
Erstversicherer sind Firmen, die Privatkunden Unfall-, Feuer- oder Lebensversicherungen verkaufen. In der Schweiz etwa die «Zürich» oder die Bâloise, in Deutschland die Allianz oder die Hamburg-Mannheimer. Rückversicherer versichern Versicherungsgesellschaften, vor allem für den extremen Schadensfall, etwa bei Erdbeben, Stürmen oder Überschwemmungen.
Mit dem Beschluss, das Stammgeschäft der Rückversicherung relativ gesehen zurückzustutzen, dürfte Schinzler richtig liegen. Denn die Stellung der Rückversicherer wird im Vergleich zu den Erstversicherern abnehmen.
Der Grund liegt im Konzentrationprozess in der Branche. Durch Fusionen und Übernahmen entstehen immer weniger und immer grössere Erstversicherer. Je grösser aber eine Versicherungsgesellschaft wird, desto weniger Rückversicherung braucht sie, weil sie wegen ihrer grösseren Finanzkraft auch mehr Risiken selbst tragen kann. Ein Beispiel dafür ist die französische Axa, die 1998, zwei Jahre nach der Übernahme der damals grössten französischen Gesellschaft UAP, die an Rückversicherer abzugebenden Beiträge fast um die Hälfte senkte – einfach dadurch, dass sie einen erhöhten Selbstbehalt übernahm, sich damit zwar einem höheren Eigenrisiko aussetzte, aber Prämien sparte. Das war möglich wegen der durch den Zusammenschluss mit UAP entstandenen Kraft.
Der Konzentrationsprozess hat einen weiteren Nachteil für die Rückversicherer: «Mit jedem Erstversicherer, der übernommen wird, verschwindet ein Kunde», sagt Michael Haid, Analyst der Bank Sal. Oppenheim in Frankfurt. Erstversicherer haben Millionen von Kunden. Rückversicherer nur die Hand voll Versicherungsgesellschaften, die es in jedem Land gibt. Diese Trends sprechen klar für die Münchener und gegen die Schweizer Rück.
Swiss-Re-Chef Kielholz sieht das allerdings anders. Erstens wüchsen parallel zu den Erstversicherern auch die Grossrisiken und damit der Druck, diese an einen Rückversicherer weiterzugeben. Zweitens diagnostiziert er bei einer Strategie, wie sie die Münchener Rück fährt, einen «inhärenten Konflikt mit den grossen Kunden».
In der Tat riskiert die Münchener Rück, wenn sie ihre Erstversicherungstochter Ergo wie geplant auf einen aggressiven Wachstumskurs schickt, Geschäftsbeziehungen mit bestehenden Kunden zu verlieren: «Ein Erstversicherer wird sich genau überlegen, ob er mit einer Rückversicherung einen Vertrag abschliesst – ihr also seine Kalkulation offen legt –, wenn deren Erstversicherungstochter einen scharfen Preiskampf anzettelt», merkt «Die Zeit» kritisch an.
Auch Ulrich Bremi, Expräsident der Swiss Re, der 1994 die vom damaligen CEO Lukas Mühlemann vorgenommene Abtrennung des Erstversicherungsteils entscheiden musste, sieht die Swiss Re gut positioniert, «weil wir sonst auf allen Positionen unseren Kunden Konkurrenz machen würden».
Die Münchener Rück scheint diese Frage ernst zu nehmen. Das zeigt sich daran, dass Schinzler über eine Holdingstruktur mehr oder weniger laut nachdenkt. Erstens, weil sich ein grosser Erstversicherungsteil nicht mehr als Abteilung der Rückversicherung eingliedern lässt, und zweitens, weil so die «chinese walls» zwischen den Bereichen höher und fester wären.
Klar ist, dass die Chancen für die Münchener mit der neuen Strategie, das oberste Podest dauerhaft zu erobern, gut stehen. Schinzler selbst will die Nummer-eins-Position allerdings nicht als Ziel sehen. «Umsatzmässige Grösse ist nicht so wichtig», sagt Schinzler, «wichtig ist es, nicht zuzulassen, dass der andere besser wird.» Solange die Swiss Re ihn nicht mit einem Quantensprung überhole, schiele er nicht auf den Konkurrenten. «Von mir aus darf das Kopf-an-Kopf-Rennen wie bisher weitergehen», so Schinzler.
Für Swiss-Re-Präsident Peter Forstmoser ist «Grösse kein Prestigeziel». Sein CEO Kielholz will sich denn auch von der Aufbruchstimmung in München nicht beirren lassen. Die Swiss Re habe den Entscheid, das Erstversicherungsgeschäft abzustossen, «nicht einen Tag bereut», sagt Kielholz. Auch aus heutiger Sicht mache der Entscheid Sinn. Die Ausgangslage der Swiss Re sei 1994 anders gewesen als jene der Münchener Rück. Fast überall habe die kritische Masse gefehlt.
Doch das ist nur eine Seite der Betrachtung. Nicht nur die kritische Masse fehlte bei der Swiss Re, viele der Erstversicherungstöchter waren in einem desolaten Zustand und sorgten für Verluste, wie die spanische Tochter Schweiz Seguros. Möglicherweise sei der Entscheid der Swiss Re «etwas aus der Not entstanden», sagt Detlef Schneidawind, Vorstandsmitglied der Münchener Rück.
Swiss-Re-Insider munkeln, Kielholz würde gerne wieder vermehrt auf Erstversicherungspfaden wandeln, könne dies aber nicht tun, um seinen Vorgänger und Mentor Lukas Mühlemann nicht zu brüskieren. Mühlemann, heute Präsident der CS Group, war es, der unmittelbar nach seinem Antritt als Chef der Swiss Re den Anstoss gab und damit für «einen Befreiungsschlag für unser Unternehmen sorgte», so VR-Präsident Forstmoser. Noch immer ist Mühlemann im Verwaltungsrat der Schweizer Rück und hat intern auf Grund seines Prestiges grossen Einfluss.
Kielholz selbst heizte kürzlich die Spekulationen an, die Swiss Re plane die Rolle rückwärts, als er gegenüber dem deutschen «Handelsblatt» eine Zukunft für denkbar hielt, in der sein Unternehmen «teilweise wieder bis zum Endkunden vorstösst». Konkret steht die Swiss Re in den USA kurz davor, über ihren Partner, den Onlinebroker Charles Schwab, per Internet Lebensversicherungen zu verkaufen. Ist dies die Wende um 180 Grad und die Umkehrung von Mühlemanns «Befreiungsschlag»?
Kielholz winkt ab: Die Swiss Re fungiere in diesem Fall nur als Risikoträger. Vertrieb und Policenverwaltung seien nicht Sache der Swiss Re, sondern des Partners Charles Schwab. Doch dass solche Fragen auftauchen, zeigt, wie unsicher viele Beobachter inner- und ausserhalb der Schweizer Rück sind, ob das Kerngeschäft allein den Konzern in die Zukunft tragen kann.
Dies umso mehr, als die Münchener Rück noch weitere Trümpfe im Ärmel hat, den Schweizern davonzuziehen. Da sind die prall gefüllten Kassen. Die Münchener Rück ist sagenhaft reich. Durch Beteiligungen an deutschen Grossunternehmen, etwa an der Allianz, der HypoVereinsbank oder Siemens, haben die Münchener ein Excess-Capital (Überschusskapital) von rund 45 Milliarden Franken. Das Eigenkapital der Münchener Rück beträgt zudem 35,7 Milliarden Franken: «Wir sind in der Tat recht komfortabel mit Kapital ausgestattet», freut sich Heiner Hasford, Finanzchef der Münchener Rück. Das Überschusskapital soll in Zukunft für das Geschäft freigesetzt werden. Allein etwa durch die Reduktion des Anteils an der Allianz fliessen der Münchener Rück rund 7,6 Milliarden Franken in die Kassen. Dieses Geld bewirkt – das ist sehr wichtig in einer Zeit immenser Grossschäden –, dass die Kunden auf den Potentesten von allen setzen. Das Geld ist laut Schinzler «ein Garant für die ständige Erfüllbarkeit unserer Verpflichtungen und trägt wesentlich dazu bei, dass wir in der heutigen Marktsituation mehr denn je gesucht sind».
Reichtum ist wichtig für das Vertrauen der Kunden, und da sich diese gerne persönlich von der Kapitalkraft ihres Rückversicherers überzeugen, protzen die beiden Kontrahenten denn auch tüchtig mit ihrem Geld. Die Münchener Rück hat nicht nur ihre Firmenzentrale wie einen Fürstenpalast gestaltet, sie hat zudem die beiden Hauptgebäude in München mit einem futuristisch anmutenden Netz von unterirdischen Gängen verbunden, einige über hundert Meter lang. Gespart wurde an nichts: Internationale Topkünstler wie der Amerikaner James Turrell durften die Tunnels mit ihren Lichtarbeiten aufwerten.
Die Swiss Re wiederum hat hoch über dem Zürichsee in Rüschlikon für über hundert Millionen Franken ein Kongresszentrum vom Feinsten hingepflastert, architektonisch subtil in die Landschaft eingebettet und mit Tagungsräumen und Suiten ausgestattet, bei denen selbst Luxushotels neidisch würden. Mit der gezielten Förderung von Kunst und Künstlern beweisen die beiden Kontrahenten nicht nur ihren guten Geschmack, sondern zeigen auch, was sie sich so alles leisten können.
Können die Schweizer beim Beeindrucken der Kunden gut mithalten, so ist ihr Atem bei Übernahmeprojekten begrenzt. Die prallvollen Kassen der Münchener könnten den Ausschlag geben, wenn beide Konzerne bei einem Übernahmekampf um den gleichen Kandidaten buhlen und die Deutschen mehr Geld auf den Tisch legen könnten.
«Unser Kapital muss in der Tat etwas mehr schwitzen», sagt Kielholz und gibt zu, dass der engere finanzielle Spielraum theoretisch ein Nachteil sein könne. In der Praxis habe sich dies aber bisher kaum ausgewirkt. «Wir haben noch nie eine Chance verpasst, weil wir zu wenig Geld gehabt hätten», betont auch Swiss-Re-Finanzchef John Fitzpatrick.
Für die Münchener Rück bedeutet ihr Überschusskapital wiederum, dass ihr Börsenwert übermässig von ihren Beteiligungen abhängt. So basiert der Wert der Münchener Rück zu einem Drittel auf ihrem Paket an der Allianz, das einen Wert von 22 Milliarden Euro hat. Schwanken die Allianz-Aktien, schwanken die Münchener-Rück-Papiere mit.
Für die Aktionäre bedeutet dies Unsicherheit. Für den Stellungskampf mit der Schweizer Rück hat er aber wohl kaum negative Auswirkungen. Im Gegenteil, die Beteiligungen waren von der Börse gesucht und dürften in Zukunft eher noch einen weiteren Anstieg des Reichtums der Münchener bewirken.
Was lange Zeit zudem als Argument gegen die Münchener und für die Schweizer Rück gesprochen hat, dürfte sich kurzfristig für die Münchener Rück als Vorteil erweisen: die starke Ausrichtung auf den deutschen Markt. Lange galt die internationaler ausgerichtete Schweizer Rück als geografisch besser positioniert. Bringt der Schweizer Heimmarkt für die Swiss Re nur 6 Prozent des Umsatzes, so generiert die Münchener Rück rund 30 Prozent im eigenen Land. Was lange als Klumpenrisiko galt, gilt plötzlich als Chance. Durch die von der deutschen Regierung eingeleitete Rentenreform werden in den kommenden Jahren Milliarden von Rentengeldern aus dem staatlichen in den privaten Bereich umgelagert. Profitieren werden die Banken und Versicherungen vor Ort.
Die Swiss Re indes muss ihr Wachstum verstärkt in den USA und in Asien suchen. Vor allem in den USA ist sie gut positioniert, ist sie doch stark in der Lebens-Rückversicherung. Da die Lebensversicherung allgemein als Wachtstumssektor gilt, profitiert die Swiss Re doppelt, ist sie doch im Wachstumssegment des Wachstumssegments. Sollten sich gar die jüngsten Gerüchte bewahrheiten, nach denen die Swiss Re eine Übernahme der Hannover Rück plane, könnten die Schweizer ihren Rückstand in Deutschland gegenüber der Münchener Rück etwas aufholen.
Auch künftig werden zudem für die Swiss Re die Gewinne aus den Kapitalanlagen eine überdurchschnittliche Rolle spielen. Ob allerdings jedes Jahr ähnlich gute Coups wie 2000 gelingen, als Finanzchef Fitzpatrick vor dem Einbruch der Börsen das Aktienexposure der Swiss Re drastisch reduzierte, ist fraglich.
Für beide Player positiv dürfte sich 2002 die generelle Marktlage entwickeln. Die letzten Jahre waren weltweit gekennzeichnet durch einen Preiszerfall bis zum Dumping. Die Prämien sind bis zu 50 Prozent gesunken. Dieser negative Trend hat sich gewendet; sowohl Swiss Re wie Münchener Rück konnten bereits Prämienerhöhungen durchsetzen. Der grösste Druck ist damit weg. Wie stark dieser war, zeigt sich etwa daran, dass die jahrelang als Jobschaffer hochgelobte Swiss Re jüngst in der Schweiz den Abbau von 200 Arbeitsplätzen bekannt geben musste. Auch dass Swiss Re und Münchener Rück letztes Jahr eine gemeinsame Internetplattform namens Inreon für gewisse standardisierte Rückversicherungsprodukte geschaffen haben, ist Ausdruck des enger gewordenen Spielraums.
Trotz härter werdender Konkurrenz ist die Zusammenarbeit im Rahmen von Inreon aber auch ein Zeichen dafür, dass es zumindest in nächster Zukunft nicht zu einem offenen oder gehässigen Schlagabtausch zwischen den beiden Konkurrenten kommen wird. Die Bedächtigkeit, die sowohl Schinzler wie Kielholz verkörpern, würde dies wohl kaum zulassen.
Einen Trost gibt es zudem, egal wer das Duell verliert: Die beiden Unternehmen, so das Urteil der meisten Analysten, sind immer noch viel besser als der Rest der Branche.
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