BILANZ: Ist das politische System der USA geeignet, um eine Krise wie die gegenwärtige zu bewältigen?
Ted Halstead: Vorhersagen sind zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Bush-Administration vor ihrer grössten Herausforderung steht, und es gibt keine Garantie dafür, dass sie dieser gewachsen sein wird.
Welche psychologischen Effekte ergeben sich aus dem Terroranschlag vom 11. September? Glauben Sie, dass die sprichwörtliche Selbstsicherheit der Amerikaner langfristig darunter leidet?
Mental gesehen, markiert der terroristische Akt eine tragische Wende. Indem das Undenkbare zur Realität wurde, ist es heute nicht mehr undenkbar, dass sich ein solches Horrorszenario auf die eine oder andere Weise wiederholen könnte.
Rücken die politischen Lager unter dieser Bedrohung näher zusammen?
Definitiv. Amerika ist ein sehr patriotisches Land. In Krisenzeiten scharen sich die Leute hinter den amtierenden Präsidenten, auch wenn sie diesen nicht unbedingt mögen. Wenn die Vereinigten Staaten im Mittleren Osten in einen länger anhaltenden Krieg eintreten sollten, wird sich das politische Klima in dem Sinne ändern, dass eine Reihe von schwierigen Entscheiden leichter zu treffen sein wird.
Besteht demnach keine Gefahr, dass die angeschlagene Supermacht durch Partikularinteressen in ihrer Handlungsfähigkeit gelähmt wird?
Ausschliessen lässt sich das nicht. Wenn von republikanischer Seite jetzt etwa eine Senkung der Kapitalgewinnsteuer als Antwort auf die Terroranschläge gefordert wird, so ist das mehr als lächerlich. Falls die Regierungspartei versuchen sollte, den nationalen Notstand zur Stärkung ihrer kurzfristigen Eigeninteressen auszunutzen, wird das amerikanische Volk dieses Verhalten bei künftigen Wahlen schwer bestrafen.
Die amerikanische Gesellschaft war bisher von Offenheit gegenüber ausländischen Einflüssen und kultureller Freiheit gekennzeichnet. Sind diese Werte nun in Gefahr?
Ja, leider. Die Wahl, die sich uns stellt, ist eine Wahl zwischen individueller Freiheit und innerer Sicherheit. Wenn es auf amerikanischem Boden zu weiteren Terroranschlägen kommen sollte, besteht tatsächlich eine grosse Gefahr, dass es in der Bevölkerung zu rassistischen Übergriffen und in der Folge zu einer Einschränkung ziviler Freiheiten kommt.
Empfinden Sie die Persönlichkeit des Präsidenten in dieser Situation als Hypothek?
Falls George W. Bush die Situation in den Griff bekommt und das Problem mit militärischen Vergeltungsschlägen zufrieden stellend lösen kann, wird er vom amerikanischen Volk mit Sicherheit verehrt und bei den nächsten Wahlen wiedergewählt werden. Wenn er hingegen versagt, ist es um ihn geschehen.
In Ihren Publikationen reden Sie einer neuen Zentrumsbewegung das Wort. Was veranlasst Sie, an einen mehrheitsfähigen Mittelweg zu glauben?
Eines der interessantesten Phänomene der aktuellen amerikanischen Politik zeigt sich darin, dass sich bei Umfragen die Mehrzahl der Wähler als unabhängig bezeichnen, obwohl es hier zu Lande gar keine unabhängige Partei gibt. Antworten auf die Herausforderungen, mit denen sich dieses Land künftig konfrontiert sehen wird, liegen nicht in den alten Kategorien von links und rechts. Die beiden existierenden Parteien, Demokraten und Republikaner, sind bei einer Vielzahl von Themen Gefangene ihrer eigenen Extreme. Die Rechte wird heute von sozial konservativen Kräften kontrolliert und die Linke von militanten Lehrerorganisationen und Gewerkschaften.
Und weil die Situation an den Rändern blockiert ist, drängt neuerdings alles zur Mitte?
Wir befinden uns im Informationszeitalter, während unsere Ideologien, Institutionen und politischen Parteien noch aus dem Industriezeitalter stammen. Und die Bürger spüren das. Wenn immer mehr Stimmberechtigte zur politischen Mitte tendieren, dann handelt es sich dabei nicht einfach um eine Schnittmenge von links und rechts. Die meisten Amerikaner wünschen sich heute tief greifende Reformen in vielerlei Beziehung: in der Art und Weise, wie wir mit den Menschenrechten umgehen, wie wir unser Steuersystem, das Gesundheitswesen oder die Ausbildung unserer Kinder organisieren.
Historisch betrachtet, waren es oftmals schwere Krisen, die den Weg für innenpolitische Reformen frei gemacht haben. Könnte es sein, dass die jüngsten Ereignisse in diesem Sinne beschleunigend wirken?
Grundsätzlich würde ich eher dafür plädieren, dass man das Dach repariert, solange die Sonne noch scheint. Das amerikanische Volk ist bereit für ein frisches Programm, und es sehnt sich nach neuen Optionen, doch unser politisches Establishment steckt in überholten Denkmustern fest.
Sie werden von der amerikanischen Presse als «Venture-Kapitalist der Talente und Ideen» beschrieben. Trifft diese Charakterisierung Ihrer Meinung nach zu?
Selbstvermarktung ist immer heikel. Aber wenn Sie mich so direkt fragen: ja. Es scheint mir eine vernünftige Umschreibung dessen zu sein, was ich hier tue. Ich investiere in brillante Denker in einem frühen Stadium ihrer Karriere.
Investieren Sie deswegen in junge, unverbrauchte Köpfe, weil der zu erwartende Ertrag dort höher ist?
In den meisten amerikanischen Think-Tanks sind die leitenden Mitarbeiter über 60 Jahre alt – zurückgetretene Kabinettsmitglieder etwa, die jährlich 150 000 bis 250 000 Dollar verdienen. Demgegenüber stützt sich New America auf eine neue Generation von gesellschaftspolitischen Unternehmern; junge, risikobereite Intellektuelle im Alter zwischen 25 und 45 Jahren, die konkrete Vorschläge haben, wie sich unsere Gesellschaft verbessern liesse, und diese Vorschläge gegen ein Jahresgehalt von maximal 50 000 Dollar mit spitzer Feder ins Publikum tragen. Dank diesem Ansatz sind wir viel frischer und innovativer als die meisten anderen Think-Tanks in den USA.
Sie bezahlen unterdurchschnittliche Löhne und schaffen es trotzdem, hoch motiviertes Personal zu gewinnen. Wie machen Sie das?
Es entspricht nicht unserem vorrangigen Ziel, unseren Mitarbeitern ein möglichst bequemes Leben zu sichern. Wir unterstützen sie lieber darin, sich zu eigenständigen Publizisten und Denkern zu entwickeln. Rund die Hälfte dessen, was es für ein bequemes Auskommen braucht, decken wir mit den Löhnen ab. Die andere Hälfte generieren unsere Leute mit Einnahmen aus Artikeln, öffentlichen Auftritten und Büchern.
Das klingt, als führten Sie eine Art akademisches Pressebüro.
Die meisten Think-Tanks in Amerika verfolgen ein ziemlich altmodisches Businessmodell. Sie gehen davon aus, dass ihr Geschäft in der Veröffentlichung dicker Studien besteht. Nur hat heutzutage kaum mehr jemand die Zeit, die umfangreichen Reports auch zu lesen. Meiner Meinung nach ist dies eine sehr ineffiziente Methode, um eine Botschaft unter die Leute zu bringen.
Wie gehen Sie stattdessen vor?
Wir halten keine Pressekonferenzen ab in der Hoffnung, dass uns die Medien das Marketing abnehmen. Unsere Mitarbeiter funktionieren als direkte Inhaltslieferanten («content providers») von führenden Zeitungen, Meinungsjournalen und Magazinen. Mit zwanzig Köpfen hat unsere Stiftung im vergangenen Jahr mehr Artikel in der «New York Times» und der «Los Angeles Times» untergebracht als jeder andere Think-Tank in den USA. Die Chefredaktoren lieben uns, weil wir sie glaubwürdig mit neuen Ideen und unkonventionellen Stimmen versorgen.
Warum bewerben sich Ihre Schreibtalente nicht direkt bei einer der führenden Zeitungen?
In einem Wort: Freiheit. Selbst ein Redaktor bei der «New York Times» spricht nicht wirklich für sich selbst. Sein Auftrag ist es, möglichst objektiv zu berichten. Und an den Universitäten sagt man heute den jungen Leuten: «Hier ist die Schlussfolgerung. Sucht die Daten, die diese möglichst gut stützen.» Bei uns ist es dem Einzelnen hingegen freigestellt, wie er seine persönlichen Ressourcen nutzt. Im Rahmen unseres Venture-Kapital-Modells erwarten wir lediglich, dass sich jeder unserer Mitarbeiter mit seiner ganzen Energie als eigenständig denkender Publizist engagiert. Wer wirklich einen Unterschied machen will, muss die Lizenz haben, originell zu sein.
Nach welchen Kriterien rekrutieren Sie Ihre Mitarbeiter?
Ich sage immer, wir suchen nach gelehrten Journalisten oder journalistisch veranlagten Gelehrten (lacht). Wenn sich ein Journalist bei uns bewirbt, muss er grosse Ideen haben. Und wenn jemand von der Universität zu uns stossen will, sollte er bereits schreiben können.
Es heisst, bei New America versammelten sich die «jungen Wilden» des Landes. Würden Sie die Geisteshaltung in Ihrem Team als progressiv bezeichnen?
Was New America so einzigartig macht, sind die ideologische Unabhängigkeit und der Wille, die gängigen Links-rechts-Schemata zu überwinden. Die alten Ideologien, wie sie in den Vereinigten Staaten von der Demokratischen und der Republikanischen Partei vertreten werden, genügen den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Also haben wir mit der New America Foundation ein Gravitationszentrum für all jene geschaffen, die sich in den bestehenden ideologischen Kategorien heimatlos fühlen.
Dem Problem der Überalterung wollen Sie etwa mit einer Privatisierung der Altersvorsorge begegnen. Finden Sie das originell, zumal die Republikaner ja dasselbe vorschlagen?
Viele Konservative sprechen sich für eine Privatisierung der Sozialversicherung aus, weil sie glauben, dass die Pensionierten dadurch in den Genuss von höheren Kapitalmarktrenditen kommen. Dieses Argument ist in meinen Augen absolut nebensächlich. Es stimmt zwar, dass wir bezüglich der Reform des Rentensystems mit der Republikanischen Partei grundsätzlich einig gehen. Wir möchten jedoch versuchen, der Begründung dafür eine neue Ausrichtung zu geben.
Wie auch immer eine Individualisierung der Altersvorsorge begründet wird, sie leistet der Entsolidarisierung im Inneren weiteren Vorschub.
Nicht zwangsläufig. Was wir konkret vorschlagen, ist eine progressive Privatisierung. Dies heisst, dass die Erwerbstätigen zunächst einmal selbst für die Einzahlungen auf ihre Ruhestandskonten verantwortlich sind. Nur in Fällen, wo die individuellen Ersparnisse im Pensionsalter nicht ausreichen, springt der Staat mit entsprechenden Zuschüssen ein. Verglichen mit dem derzeitigen Giesskannenprinzip, bei dem selbst Multimilliardäre wie Bill Gates Anspruch auf staatliche Leistungen haben, entspricht dies einer völlig neuen Philosophie.
Votieren Sie demzufolge auch für eine Privatisierung der staatlichen Krankenversicherung?
43 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner besitzen keine Krankenversicherung, weil das gegenwärtige System an das Vorhandensein einer festen Anstellung gekoppelt ist. Auf Grund dieser unzeitgemässen Vorbedingung geniessen Arbeitslose, Temporärkräfte und die Mitarbeiter von vielen Kleinbetrieben im Krankheitsfall keinen Versicherungsschutz. Diese perverse Regelung stellt ein Relikt aus einer Zeit dar, als die lebenslange Anstellung bei ein und demselben Betrieb noch die Regel war. Angesichts der gestiegenen Mobilität auf dem Arbeitsmarkt schlagen wir stattdessen ein Obligatorium vor, bei dem sich die Bürger individuell versichern, während der Staat denjenigen gezielt unter die Arme greift, die ihre Prämien nicht aus eigenen Mitteln bezahlen können. Ihre Leser werden entzückt sein, wenn Sie erfahren, dass uns die Schweiz auf diesem Gebiet als Modell dient.
Obschon die Schweiz über einen gut ausgebauten Sozialstaat verfügt, gilt sie wegen ihrer liberalen Arbeitsmarktpolitik als eines der amerikanischsten Länder Europas.
Der Sozialvertrag, wie er uns für die USA vorschwebt, kombiniert eine maximale Flexibilität für die Wirtschaft mit einer maximalen Sicherheit für das Individuum. Unter dem Strich ergibt sich dadurch mehr Raum für kreative Zerstörung: Arbeitskräfte können von den Unternehmen nach Belieben angeworben und auch wieder gefeuert werden, ohne dass sie dadurch ihre Ansprüche auf Krankenversicherung und Altersvorsorge verlieren.
Deckt sich dies mit der Idee eines «universellen Kapitalismus», die Ihnen offenbar vorschwebt?
Hinter diesem Konzept, das momentan auch in Grossbritannien diskutiert wird, steht die Überzeugung, dass jedes Individuum ein Stakeholder der Gesellschaft sein sollte. Um dies zu unterstreichen, könnte der Staat jedem Bürger bei Geburt ein bestimmtes Grundkapital zuweisen, zum Beispiel 6000 Dollar. Bei durchschnittlicher Verzinsung würden daraus in achtzehn Jahren rund 20 000 Dollar, womit beim Eintritt in die Adoleszenz ein hübsches Startkapital für eine weitergehende Ausbildung oder die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit zur Verfügung stünde.
Glauben Sie, dass sich die wachsende Kluft in einer globalisierten Wirtschaft damit zuschütten liesse?
Viele Menschen leiden darunter, dass sie gewissermassen an einem globalen Spieltisch sitzen, ohne über einen geeigneten Einsatz zu verfügen. Wenn man ihnen diesen Einsatz von Beginn weg in die Hand gäbe, wäre ihr Anreiz mitzuspielen vermutlich grösser.
Ted Halstead: Vorhersagen sind zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Bush-Administration vor ihrer grössten Herausforderung steht, und es gibt keine Garantie dafür, dass sie dieser gewachsen sein wird.
Welche psychologischen Effekte ergeben sich aus dem Terroranschlag vom 11. September? Glauben Sie, dass die sprichwörtliche Selbstsicherheit der Amerikaner langfristig darunter leidet?
Mental gesehen, markiert der terroristische Akt eine tragische Wende. Indem das Undenkbare zur Realität wurde, ist es heute nicht mehr undenkbar, dass sich ein solches Horrorszenario auf die eine oder andere Weise wiederholen könnte.
Rücken die politischen Lager unter dieser Bedrohung näher zusammen?
Definitiv. Amerika ist ein sehr patriotisches Land. In Krisenzeiten scharen sich die Leute hinter den amtierenden Präsidenten, auch wenn sie diesen nicht unbedingt mögen. Wenn die Vereinigten Staaten im Mittleren Osten in einen länger anhaltenden Krieg eintreten sollten, wird sich das politische Klima in dem Sinne ändern, dass eine Reihe von schwierigen Entscheiden leichter zu treffen sein wird.
Besteht demnach keine Gefahr, dass die angeschlagene Supermacht durch Partikularinteressen in ihrer Handlungsfähigkeit gelähmt wird?
Ausschliessen lässt sich das nicht. Wenn von republikanischer Seite jetzt etwa eine Senkung der Kapitalgewinnsteuer als Antwort auf die Terroranschläge gefordert wird, so ist das mehr als lächerlich. Falls die Regierungspartei versuchen sollte, den nationalen Notstand zur Stärkung ihrer kurzfristigen Eigeninteressen auszunutzen, wird das amerikanische Volk dieses Verhalten bei künftigen Wahlen schwer bestrafen.
Die amerikanische Gesellschaft war bisher von Offenheit gegenüber ausländischen Einflüssen und kultureller Freiheit gekennzeichnet. Sind diese Werte nun in Gefahr?
Ja, leider. Die Wahl, die sich uns stellt, ist eine Wahl zwischen individueller Freiheit und innerer Sicherheit. Wenn es auf amerikanischem Boden zu weiteren Terroranschlägen kommen sollte, besteht tatsächlich eine grosse Gefahr, dass es in der Bevölkerung zu rassistischen Übergriffen und in der Folge zu einer Einschränkung ziviler Freiheiten kommt.
Empfinden Sie die Persönlichkeit des Präsidenten in dieser Situation als Hypothek?
Falls George W. Bush die Situation in den Griff bekommt und das Problem mit militärischen Vergeltungsschlägen zufrieden stellend lösen kann, wird er vom amerikanischen Volk mit Sicherheit verehrt und bei den nächsten Wahlen wiedergewählt werden. Wenn er hingegen versagt, ist es um ihn geschehen.
In Ihren Publikationen reden Sie einer neuen Zentrumsbewegung das Wort. Was veranlasst Sie, an einen mehrheitsfähigen Mittelweg zu glauben?
Eines der interessantesten Phänomene der aktuellen amerikanischen Politik zeigt sich darin, dass sich bei Umfragen die Mehrzahl der Wähler als unabhängig bezeichnen, obwohl es hier zu Lande gar keine unabhängige Partei gibt. Antworten auf die Herausforderungen, mit denen sich dieses Land künftig konfrontiert sehen wird, liegen nicht in den alten Kategorien von links und rechts. Die beiden existierenden Parteien, Demokraten und Republikaner, sind bei einer Vielzahl von Themen Gefangene ihrer eigenen Extreme. Die Rechte wird heute von sozial konservativen Kräften kontrolliert und die Linke von militanten Lehrerorganisationen und Gewerkschaften.
Und weil die Situation an den Rändern blockiert ist, drängt neuerdings alles zur Mitte?
Wir befinden uns im Informationszeitalter, während unsere Ideologien, Institutionen und politischen Parteien noch aus dem Industriezeitalter stammen. Und die Bürger spüren das. Wenn immer mehr Stimmberechtigte zur politischen Mitte tendieren, dann handelt es sich dabei nicht einfach um eine Schnittmenge von links und rechts. Die meisten Amerikaner wünschen sich heute tief greifende Reformen in vielerlei Beziehung: in der Art und Weise, wie wir mit den Menschenrechten umgehen, wie wir unser Steuersystem, das Gesundheitswesen oder die Ausbildung unserer Kinder organisieren.
Historisch betrachtet, waren es oftmals schwere Krisen, die den Weg für innenpolitische Reformen frei gemacht haben. Könnte es sein, dass die jüngsten Ereignisse in diesem Sinne beschleunigend wirken?
Grundsätzlich würde ich eher dafür plädieren, dass man das Dach repariert, solange die Sonne noch scheint. Das amerikanische Volk ist bereit für ein frisches Programm, und es sehnt sich nach neuen Optionen, doch unser politisches Establishment steckt in überholten Denkmustern fest.
Sie werden von der amerikanischen Presse als «Venture-Kapitalist der Talente und Ideen» beschrieben. Trifft diese Charakterisierung Ihrer Meinung nach zu?
Selbstvermarktung ist immer heikel. Aber wenn Sie mich so direkt fragen: ja. Es scheint mir eine vernünftige Umschreibung dessen zu sein, was ich hier tue. Ich investiere in brillante Denker in einem frühen Stadium ihrer Karriere.
Investieren Sie deswegen in junge, unverbrauchte Köpfe, weil der zu erwartende Ertrag dort höher ist?
In den meisten amerikanischen Think-Tanks sind die leitenden Mitarbeiter über 60 Jahre alt – zurückgetretene Kabinettsmitglieder etwa, die jährlich 150 000 bis 250 000 Dollar verdienen. Demgegenüber stützt sich New America auf eine neue Generation von gesellschaftspolitischen Unternehmern; junge, risikobereite Intellektuelle im Alter zwischen 25 und 45 Jahren, die konkrete Vorschläge haben, wie sich unsere Gesellschaft verbessern liesse, und diese Vorschläge gegen ein Jahresgehalt von maximal 50 000 Dollar mit spitzer Feder ins Publikum tragen. Dank diesem Ansatz sind wir viel frischer und innovativer als die meisten anderen Think-Tanks in den USA.
Sie bezahlen unterdurchschnittliche Löhne und schaffen es trotzdem, hoch motiviertes Personal zu gewinnen. Wie machen Sie das?
Es entspricht nicht unserem vorrangigen Ziel, unseren Mitarbeitern ein möglichst bequemes Leben zu sichern. Wir unterstützen sie lieber darin, sich zu eigenständigen Publizisten und Denkern zu entwickeln. Rund die Hälfte dessen, was es für ein bequemes Auskommen braucht, decken wir mit den Löhnen ab. Die andere Hälfte generieren unsere Leute mit Einnahmen aus Artikeln, öffentlichen Auftritten und Büchern.
Das klingt, als führten Sie eine Art akademisches Pressebüro.
Die meisten Think-Tanks in Amerika verfolgen ein ziemlich altmodisches Businessmodell. Sie gehen davon aus, dass ihr Geschäft in der Veröffentlichung dicker Studien besteht. Nur hat heutzutage kaum mehr jemand die Zeit, die umfangreichen Reports auch zu lesen. Meiner Meinung nach ist dies eine sehr ineffiziente Methode, um eine Botschaft unter die Leute zu bringen.
Wie gehen Sie stattdessen vor?
Wir halten keine Pressekonferenzen ab in der Hoffnung, dass uns die Medien das Marketing abnehmen. Unsere Mitarbeiter funktionieren als direkte Inhaltslieferanten («content providers») von führenden Zeitungen, Meinungsjournalen und Magazinen. Mit zwanzig Köpfen hat unsere Stiftung im vergangenen Jahr mehr Artikel in der «New York Times» und der «Los Angeles Times» untergebracht als jeder andere Think-Tank in den USA. Die Chefredaktoren lieben uns, weil wir sie glaubwürdig mit neuen Ideen und unkonventionellen Stimmen versorgen.
Warum bewerben sich Ihre Schreibtalente nicht direkt bei einer der führenden Zeitungen?
In einem Wort: Freiheit. Selbst ein Redaktor bei der «New York Times» spricht nicht wirklich für sich selbst. Sein Auftrag ist es, möglichst objektiv zu berichten. Und an den Universitäten sagt man heute den jungen Leuten: «Hier ist die Schlussfolgerung. Sucht die Daten, die diese möglichst gut stützen.» Bei uns ist es dem Einzelnen hingegen freigestellt, wie er seine persönlichen Ressourcen nutzt. Im Rahmen unseres Venture-Kapital-Modells erwarten wir lediglich, dass sich jeder unserer Mitarbeiter mit seiner ganzen Energie als eigenständig denkender Publizist engagiert. Wer wirklich einen Unterschied machen will, muss die Lizenz haben, originell zu sein.
Nach welchen Kriterien rekrutieren Sie Ihre Mitarbeiter?
Ich sage immer, wir suchen nach gelehrten Journalisten oder journalistisch veranlagten Gelehrten (lacht). Wenn sich ein Journalist bei uns bewirbt, muss er grosse Ideen haben. Und wenn jemand von der Universität zu uns stossen will, sollte er bereits schreiben können.
Es heisst, bei New America versammelten sich die «jungen Wilden» des Landes. Würden Sie die Geisteshaltung in Ihrem Team als progressiv bezeichnen?
Was New America so einzigartig macht, sind die ideologische Unabhängigkeit und der Wille, die gängigen Links-rechts-Schemata zu überwinden. Die alten Ideologien, wie sie in den Vereinigten Staaten von der Demokratischen und der Republikanischen Partei vertreten werden, genügen den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Also haben wir mit der New America Foundation ein Gravitationszentrum für all jene geschaffen, die sich in den bestehenden ideologischen Kategorien heimatlos fühlen.
Dem Problem der Überalterung wollen Sie etwa mit einer Privatisierung der Altersvorsorge begegnen. Finden Sie das originell, zumal die Republikaner ja dasselbe vorschlagen?
Viele Konservative sprechen sich für eine Privatisierung der Sozialversicherung aus, weil sie glauben, dass die Pensionierten dadurch in den Genuss von höheren Kapitalmarktrenditen kommen. Dieses Argument ist in meinen Augen absolut nebensächlich. Es stimmt zwar, dass wir bezüglich der Reform des Rentensystems mit der Republikanischen Partei grundsätzlich einig gehen. Wir möchten jedoch versuchen, der Begründung dafür eine neue Ausrichtung zu geben.
Wie auch immer eine Individualisierung der Altersvorsorge begründet wird, sie leistet der Entsolidarisierung im Inneren weiteren Vorschub.
Nicht zwangsläufig. Was wir konkret vorschlagen, ist eine progressive Privatisierung. Dies heisst, dass die Erwerbstätigen zunächst einmal selbst für die Einzahlungen auf ihre Ruhestandskonten verantwortlich sind. Nur in Fällen, wo die individuellen Ersparnisse im Pensionsalter nicht ausreichen, springt der Staat mit entsprechenden Zuschüssen ein. Verglichen mit dem derzeitigen Giesskannenprinzip, bei dem selbst Multimilliardäre wie Bill Gates Anspruch auf staatliche Leistungen haben, entspricht dies einer völlig neuen Philosophie.
Votieren Sie demzufolge auch für eine Privatisierung der staatlichen Krankenversicherung?
43 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner besitzen keine Krankenversicherung, weil das gegenwärtige System an das Vorhandensein einer festen Anstellung gekoppelt ist. Auf Grund dieser unzeitgemässen Vorbedingung geniessen Arbeitslose, Temporärkräfte und die Mitarbeiter von vielen Kleinbetrieben im Krankheitsfall keinen Versicherungsschutz. Diese perverse Regelung stellt ein Relikt aus einer Zeit dar, als die lebenslange Anstellung bei ein und demselben Betrieb noch die Regel war. Angesichts der gestiegenen Mobilität auf dem Arbeitsmarkt schlagen wir stattdessen ein Obligatorium vor, bei dem sich die Bürger individuell versichern, während der Staat denjenigen gezielt unter die Arme greift, die ihre Prämien nicht aus eigenen Mitteln bezahlen können. Ihre Leser werden entzückt sein, wenn Sie erfahren, dass uns die Schweiz auf diesem Gebiet als Modell dient.
Obschon die Schweiz über einen gut ausgebauten Sozialstaat verfügt, gilt sie wegen ihrer liberalen Arbeitsmarktpolitik als eines der amerikanischsten Länder Europas.
Der Sozialvertrag, wie er uns für die USA vorschwebt, kombiniert eine maximale Flexibilität für die Wirtschaft mit einer maximalen Sicherheit für das Individuum. Unter dem Strich ergibt sich dadurch mehr Raum für kreative Zerstörung: Arbeitskräfte können von den Unternehmen nach Belieben angeworben und auch wieder gefeuert werden, ohne dass sie dadurch ihre Ansprüche auf Krankenversicherung und Altersvorsorge verlieren.
Deckt sich dies mit der Idee eines «universellen Kapitalismus», die Ihnen offenbar vorschwebt?
Hinter diesem Konzept, das momentan auch in Grossbritannien diskutiert wird, steht die Überzeugung, dass jedes Individuum ein Stakeholder der Gesellschaft sein sollte. Um dies zu unterstreichen, könnte der Staat jedem Bürger bei Geburt ein bestimmtes Grundkapital zuweisen, zum Beispiel 6000 Dollar. Bei durchschnittlicher Verzinsung würden daraus in achtzehn Jahren rund 20 000 Dollar, womit beim Eintritt in die Adoleszenz ein hübsches Startkapital für eine weitergehende Ausbildung oder die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit zur Verfügung stünde.
Glauben Sie, dass sich die wachsende Kluft in einer globalisierten Wirtschaft damit zuschütten liesse?
Viele Menschen leiden darunter, dass sie gewissermassen an einem globalen Spieltisch sitzen, ohne über einen geeigneten Einsatz zu verfügen. Wenn man ihnen diesen Einsatz von Beginn weg in die Hand gäbe, wäre ihr Anreiz mitzuspielen vermutlich grösser.
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