Juni 2002: Im Vortragsraum der Deutschen Bank in Zürich herrscht dicke Luft. Über hundert verunsicherte Kleinanleger im Alter zwischen 50 und 70 Jahren haben sich in den viel zu kleinen Saal gedrängt. Für ihren Investmentguru Uwe Lang sind sie bereit, alles zu geben. «So einem kann man eben noch trauen», meint ein älterer Investor.

Dann ist es so weit. Lang, ehemaliger Pfarrer, betritt den Saal. «Die Tiefststände sind bald vorbei, ein genereller Rückzug aus den Aktien wäre das Dümmste, was wir jetzt tun könnten», hebt der begnadete Anlageberater seine Stimme an. Ein Raunen geht durch den Saal. Die Zuhörer hängen an seinen Lippen. Genau das wollten sie von ihrem Star hören.

Jetzt redet er sich in Trance und die andern in den Schlaf. Über drei Stunden hinweg legt er einen Chart nach dem anderen auf. Nach einem schier endlosen Monolog über die Mechanismen der Aktienmärkte kommt endlich wieder Leben in die Bude. Lang zückt seine Empfehlungsliste. Der Saal greift nach allem, was irgendwie nach beschreibbarem Material aussieht. Taschentücher, Briefcouverts, lose Zettel.

Langs langer Rede kurzer Sinn
Lang ist gnadenlos. Er gibt seinen Schäflein nur wenig Zeit. Nach wenigen Sekunden lässt er die Aktienliste – eine Ansammlung von Schweizer und deutschen Blue Chips – schon wieder in seiner Mappe verschwinden. Auch bei Lang gibt es nichts umsonst. Wer es genau wissen will, soll gefälligst seinen Börsenbrief oder einen seiner sieben Bestseller kaufen.

Zum Schluss gibt der 59-Jährige seinen Jüngern noch seinen Segen mit auf den Weg: «Die Kurse werden bald wieder Höhenluft atmen.» Amen, aus. Gemeinsam schreitet man zum Buffet.

September 2002: Ein paar Meter weiter, im Zürcher Kongresshaus, findet ein weiterer Mega-Event statt. Der St.-Galler Privatbankier Konrad Hummler (49) geniesst, ebenso wie Lang, bei den Kleinanlegern Kultstatus. Hummlers mehrseitiger Börsenkommentar hat mittlerweile eine Auflage von rund 8000 Exemplaren erreicht. Diesmal haben ihm mehr als 1000 Leser die Ehre erwiesen, so viel wie noch nie. Einfach überwältigend sei das gewesen, schwärmt Hummler.

Es scheint, als seien Hummler und Lang die letzten Überlebenden ihrer Zunft. Seit die Börsen nur noch fallen, steht es schlecht um das Image der meisten Verfechter des Shareholder-Value.

Das Schweigen der Ebner
Der gescheiterte Bankier Martin Ebner, der wochenlang durch die Schweiz tingelte und Vorträge über die Vorzüge des Aktiensparens hielt, ist von der Bildfläche verschwunden. Oder Erwin Heri, geschasster CS-Chefstratege und Buchautor («Die acht Gebote der Geldanlage»), der nie müde wurde, seine Strategie vom Kaufen und Halten in den Medien zu propagieren, predigt jetzt vorzugsweise weitab von der Zürcher Bahnhofstrasse.

Auch der deutsche Wall-Street-Guru und FAZ-Kolumnist Heiko Thieme, der über dreizehn Jahre lang Dauergast bei Vorträgen der Coop-Bank und der Basellandschaftlichen Kantonalbank war, hat sich weitestgehend abgemeldet, seit er seinen American Heritage Fund in den letzten fünf Jahren von 160 Millionen Dollar auf unter eine Million heruntergewirtschaftet hat.

Verschwunden sind auch die dynamischen Analysten der Banken, welche die Anleger mit ihren Visionen einer aufstrebenden Hightechzukunft begeistern konnten.

Doch sind Hummler und Lang wirklich so gut, wie sie tönen?

Das Prinzip Hoffnung im Quadrat
Für den eloquenten Hummler («Ich gebe lustige Antworten«) sind Aktien nur schon aus lauter Angst, man könnte den nächsten Aufschwung verpassen, unabdingbar. Der ernsthafte Uwe Lang betrachtet vergangene Perioden zwar durchaus kritisch, zieht dann aber Schlüsse, die nicht so recht ins düstere Bild passen wollen.

So rechnet er seiner Zuhörerschaft detailliert vor, dass die Börsen zuerst in den Dreissiger- und dann auch in den Sechzigerjahren Jahrzehnte brauchten, bis sie frühere Höchstkurse wieder erreichten. Aber solange der 59-Jährige noch auf Erden weilt, haben höhere Mächte so etwas ganz einfach zu verhindern: «Lange können die mächtigen Finanzinstitute dem Ausverkauf an den Börsen nicht mehr zusehen. Die Banken und Topmanager werden schon dafür sorgen, dass die Kurse bald wieder Höhenluft atmen», halluziniert er. Schliesslich lebten die ja davon. Er aber auch.

Gelobt sei die Vergesslichkeit
Dass die beiden trotz der desaströsen Kursbilanz und den unsicheren Aussichten weiterhin bedingungslos Aktien empfehlen, ist eigentlich nur eine logische Fortsetzung früherer Empfehlungen und wird vom Publikum kritiklos zur Kenntnis genommen.

Dass ihre Kaufargumente immer dünner werden, je tiefer die Kurse sinken, stört die Zuhörer kaum. Vergessen sind die falschen Tipps von gestern, ausgelöscht die Erinnerung an Fehleinschätzungen der Vergangenheit. Niemandem fallen die zahlreichen Widersprüche auf.

Im Januar 2000 sieht Lang den Crash kommen, empfiehlt aber die Papiere des Automobilherstellers DaimlerChrysler beim Kurs von 75 Euro zum Kauf. Gleichzeitig warnt er davor, stark gefallene Aktien nachzukaufen. Als die Daimler-Aktie dann nur noch die Hälfte wert ist, rät er prompt zum Wiedereinstieg.

Seine Methode, günstige Kaufgelegenheiten aufzustöbern, indem er den Kurs ins Verhältnis zum Umsatz setzt, fördert zuweilen haarsträubende Resultate zu Tage. Auf Langs Bewertungsliste stehen nicht selten Pleitekandidaten wie Gretag Imaging, Von Roll oder Distefora.

Auch Konrad Hummler flattert wie eine Fahne im Wind. Seine Strategien sind ein einziger Zickzackkurs. Zwar sieht auch er den Crash kommen, doch an Aktien hält er fest. Im Januar 2001 führt er gar Indexaktien ins Feld, weil die eine «lücken- und überschneidungslose Abdeckung» garantieren.

Nachdem die Börsenindizes in den USA und in der Schweiz um 20 bis 30 Prozent gefallen sind, sattelt er auf Einzelaktien um und erklärt jetzt plötzlich die Suche nach Qualität zu seinem «ersten Kernsatz».

Verlieren ist doch etwas Positives!
Im März 2001 vergleicht Hummler den Crash noch mit einem «Krieg der Spermien» und behauptet, das Ganze sei rational und diene dazu, die Spreu vom Weizen zu trennen. Die Börse lobt er als einen Mechanismus, der weltweit dafür sorge, dass Kapital am richtigen Ort platziert werde. Ein Jahr später ist dann allerdings alles wieder anders. Hummler ist aufgewacht und sieht sich umgeben von Lug und Trug. Die Börsen, wettert er nun, seien bloss «ein von Korruption und Betrügereien durchtränktes Megacasino», Aktien – man staune – «ein gefährliches Anlagevehikel, zumindest gefährlicher als lange gedacht».

Er, der noch grossspurig behauptet hat, die Pleite des amerikanischen Energieriesen Enron sei vorhersehbar gewesen, fühlt sich plötzlich nicht mehr in der Lage, eine solide Unternehmensanalyse durchzuführen. «Wie es wirklich um die Ertragslage der Unternehmen steht, weiss man nicht.»

Das Ausmass der Baisse hat beide eiskalt erwischt. Doch während sich Lang hartnäckig an die Hausse klammert und sich weigert, seine Fehlleistungen einzugestehen, gibt sich Hummler neuerdings kleinlaut. «Die Aktienstrategie war ein Fehlentscheid. So was haben wir, wenn wir ehrlich sind, nicht vorausgesehen», entschuldigt er sich bei seinen Kunden. Aber selbst in der Misere findet er noch Gutes. «Kursverluste hinnehmen zu können, ist, da ohnehin unvermeidlich, für alle Beteiligten positiv», tröstet er die Anleger.

Dann packt ihn die nackte Panik. Soll man jetzt aus dem Aktienmarkt aussteigen?, fragt er sich. Er ist hin und her gerissen. Ja, verkaufen, rät er, wenn man keine Zeit und keine Möglichkeit habe, mit dem Verlustrisiko zu leben. Nein, nicht verkaufen, meint er, wenn man Zeit habe und nicht auf die Renditen angewiesen sei. Und dann kann er doch wieder nicht loslassen, kapituliert und rettet sich in den Königssatz unter den Binsenwahrheiten: «Nicht dabei zu sein, ist am Ende immer das grössere Risiko.»

Konfuse Schuldzuweisungen
Mit einer Aktie könne man am Wirtschaftswachstum teilhaben, wirbt Hummler. Aber wo bitte ist das Wachstum? Den fünfprozentigen Anstieg des amerikanischen Inlandprodukts (BIP) im ersten Quartal 2002, von dem er schwärmt, gibt es so gar nicht und soll wohl nur seine «Kauft immer und jederzeit Aktien!»-Strategie untermauern. Die BIP-Zahlen sind annualisiert, das effektive Quartalswachstum der US-Wirtschaft beträgt nicht 5, sondern nur 1,2 Prozent.

Für Lang ist das alles ein einziges Rätsel. In seiner Verzweiflung sucht er Zuflucht in Verschwörungstheorien. Der Absturz der Deutschen Börse sei von den Amerikanern herbeigeführt, unter anderem weil sich der amerikanische Präsident George W. Bush nicht mit dem deutschen Regierungschef Gerhard Schröder verstehe, halluziniert er.

Aber warum wollen die Propheten der ewigen Dauerhausse eigentlich nie das Wasser trinken, das sie selber predigen?

Börsenpapst Lang, der seinen Jüngern eine Aktienquote von bis zu 100 Prozent nahe legt, weil Aktien gemäss seiner Rechnung langfristige Renditen von 15 bis 20 Prozent abwürfen, hat seine eigenen Positionen angeblich kurz vor dem Crash verkauft. «Erst nach dem September-Crash 2002 bin ich wieder eingestiegen», prahlt der Messias freimütig im «Tages-Anzeiger».

Irgendwer hat Recht. Aber wer? Wann?
Hummler, ebenfalls ganz Wolf im Schafspelz, hält neben seiner 25-prozentigen operativen Beteiligung an der St.-Galler Privatbank Wegelin nur ganz wenige oder fast keine Aktien. Sein privates Vermögen hat er, der seinen Kunden einbläut, es gebe nichts Schlimmeres als verpasste Gelegenheiten an den Aktienmärkten, in Obligationen und Bargeld angelegt. Das, meint er, seien gute Anlagen in Krisenzeiten. Wie wahr.

Jeder Zyklus hat seine Propheten, und jeder Prophet hat seinen Zyklus. Die Haussiers, jahrelang am Drücker, scheinen diesmal definitiv abgedankt zu haben. Da nützt alle Rhetorik nichts mehr.

Mit den Verheissungen der Baissiers à la Felix Zulauf, Marc Faber oder Fredmund Malik hat man während der Hausse Millionen an den Börsen verloren. Vor zwei Jahren, als die Baisse begann, hätte man mit ihren Tipps Millionen gewonnen.

Über Jahre hinweg geisselten Malik, Zulauf und Faber die stetig steigende Verschuldung von Staaten, Verbrauchern und Unternehmen, während sich die Heerscharen der Haussiers die Köpfe darüber zerbrachen, wie sie die immer höheren Aktienkurse rechtfertigen sollten. Die wahre Kunst für den Anleger liegt wohl darin, zu erkennen, wann er welchem Propheten glauben soll.
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