«Sell in May and go away, but remember to come back in September», lautet eine alte Börsen-«Weisheit». Wie gut passt der Spruch in diesem Jahr?
Der US-amerikanische und europäische Markt hat sich seit Ende Mai um rund 5% erholt. Insofern passt der Spruch in diesem Jahr noch nicht wirklich. Chinesische Aktien waren aufgrund bestimmter staatlicher Massnahmen schwach. Für viele Anleger macht es aufgrund der Transaktionskosten und Steuern, die beim Kauf und Verkauf von Aktien in einem kurzen Zeitfenster anfallen, keinen Sinn, auf kurzfristige saisonale Faktoren zu setzen.
Die Schweizerische Nationalbank ist bei 18 US-Konzernen mit über einer Milliarde Dollar investiert, neben den grössten Tech-Konzernen (Google (Alphabet), Amazon, Facebook, Apple und Microsoft) sind Tesla und Johnson&Johnson die bedeutendsten Positionen. Ergibt diese Gewichtung Sinn?
Historisch gesehen ist Tesla eine volatile, wenn auch gute Investition. Die Frage ist, wie lange sie ihre Führung bei Elektrofahrzeugen halten können, zumal in den nächsten Jahren viele neue Marktteilnehmer hinzukommen werden.
Die andere Frage ist, ob sie die ultimativen Gewinner im Rennen um autonome Fahrzeuge (AV) sein werden oder ob Google und andere die Führung übernehmen werden. Längerfristig hängt die Investition auch davon ab, wie gut sie in China abschneiden und ob die chinesische Regierung ihren einheimischen Fahrzeugherstellern erlaubt, die führenden Akteure zu sein. Und schliesslich ist es auch schwer abzuschätzen, in welche neuen Geschäftsbereiche mit langfristigen Ertragszuwächsen das Unternehmen einsteigen wird.
Johnson&Johnson hat von seinem Impfstoff und dem Aufschwung im Gesundheitssektor profitiert, hatte aber im Laufe der Jahre einige rechtliche Probleme im Zusammenhang mit Opioiden und Talkumpuder. Johnson&Johnson ist zwar ein sehr diversifizierter Gesundheits- und Konsumgüterhersteller, der sich langfristig gut entwickeln dürfte, doch könnten extreme Klagen gegen das Unternehmen kurzfristig zu Kursschwankungen nach unten führen.
Der chinesische Aktienmarkt wird auch für immer mehr Anlegerinnen im Westen zum Thema. Wie stehen Sie zu Investitionen an Chinas Börsen?
Was China betrifft, so denke ich, dass kurzfristige Schwierigkeiten aufgrund staatlicher Eingriffe die Ergebnisse und die Stimmung belasten, was einige Quartale andauern könnte. Langfristig gesehen handelt es sich jedoch um eine grosse Volkswirtschaft, die weltweit weiterhin von Bedeutung sein wird.
Die Aktienmärkte sind sehr hoch bewertet. Was für Investitionen bieten sich derzeit am ehesten als Alternative dazu an?
Da die Aktienmärkte Rekordhöhen erreichen und die Anleihemärkte wenig bis gar keine Rendite bieten, ist ein diversifiziertes Portfolio der Schlüssel zur Sicherung künftiger Erträge. Die Aufnahme von Anlageklassen, die weniger mit den traditionellen Finanzmärkten korrelieren, kann Ihrem Portfolio erhebliche Vorteile bringen.
«Aufgrund des Wiederauftretens des Delta-Virus' haben Sektoren, die mit dem Reiseverkehr zu tun haben, in letzter Zeit unterdurchschnittlich abgeschnitten.»
Wechseln wir zum allgemeinen Börsengeschehen: Wie stark beschäftigt die Corona-Krise die Finanzmärkte?
Es gibt zwei spürbare Auswirkungen auf die Märkte, beide mit dauerhaften Folgen. Erstens haben sich Trends, die sich bereits in den Jahren vor der Krise abzeichneten, verstärkt und beschleunigt, z.B. im Bereich Online-Shopping, Fernunterricht und künstliche Intelligenz. Zudem hat sich das Leistungsgefälle zwischen bereits vorhandenen Technologien vergrössert. Zweitens kann die Bereitschaft der Regierungen, beträchtliche und anhaltende Haushaltsdefizite zu verzeichnen, dazu beitragen, die Rentabilität der Unternehmen auf einem hohen Niveau zu halten.
Was die Aktienmärkte betrifft, so stehen sie noch immer unter dem Einfluss der Coronavirus-Krise. Betrachtet man einzelne Aktien/Sektoren, so zeigt sich, dass Sektoren, die mit dem Reiseverkehr zu tun haben, in letzter Zeit aufgrund des Wiederauftretens des Delta-Virus unterdurchschnittlich abgeschnitten haben.
Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln?
Wir haben dazu keine isolierte Meinung, sehen aber, dass die Schweizer Börse einen höheren Prozentsatz an Unternehmen aus dem Gesundheitssektor aufweist. Dieser hat sich in letzter Zeit gut entwickelt, da die Zinssätze gesunken sind. Ein weiterer Grund ist vielleicht, dass der globale Gesundheitssektor aufgrund der Reaktion auf die Coronavirus-Krise insgesamt besser abschneidet.
Wo steht der SMI in zwölf Monaten?
Die Konsenserwartungen für den SMI auf 12-Monats-Sicht liegen bei etwa 10% Rendite für europäische Aktien. Ich würde wahrscheinlich einen Abschlag für den SMI vornehmen, da er aufgrund des Engagements im Gesundheitswesen und bei Basiskonsumgütern ein geringeres Beta aufweist.
Fabio Abdo hat die Fragen schriftlich beantwortet.