London, am ersten Dienstag im September. Im Innenhof der gediegenen London Business School ist die Hölle los. Als stünden sie allesamt unter Drogen, sprechen am Treffen des First Tuesday Club 600 Menschen aufeinander ein. Sie wechseln in unverschämtem Tempo ihre Gesprächspartner, tauschen Ideen und E-Mail-Adressen und fühlen sich am Nabel der Welt. «Hier wird Wirtschaftsgeschichte geschrieben», ereifert sich Mark Littlewood, ein angehender Internetunternehmer auf der Suche nach Mitarbeitern. «Früher brauchte es Jahre, um eine Firma aufzubauen. Heute reichen dazu drei Monate. Und der beste Ort auf der Welt, um die richtigen Kontakte zu knüpfen, ist hier.»

Die Atmosphäre am monatlichen Treffen von Londons Internetunternehmern ist elektrisierend. Da treffen Turnschuh tragende Uniabgänger und blutjunge Unternehmensberater auf Financiers im Massanzug. Alle haben nur eines im Sinn: so schnell wie möglich ihre Claims in den verheissungsvollen Weiten des E-Business abzustecken. Etwas Ordnung ins Goldgräberchaos bringen nur die farbigen Punkte auf den Namensschildchen. Grün steht für eine gute Idee, Rot für Geld - banal, aber effizient.

Die Möchtegernunternehmer und Risikokapitalisten stürzen nur so aufeinander zu. «Wer das Gefühl hat, Europa verschlafe die Internetrevolution», empfahl kürzlich das «Wallstreet Journal», «sollte einen Abend im Londoner Networking-Club First Tuesday verbringen - falls er reinkommt.» Der Andrang zu diesem Anlass ist so gross, dass die Plätze verlost werden müssen. Für das Septembertreffen bewarben sich 1500 Interessenten. Nicht einmal die Hälfte von ihnen erhielt - selbstverständlich per E-Mail - eine Einladung zugestellt, inklusive der Adresse des ständig wechselnden Versammlungsortes, der erst im letzten Moment bekannt gegeben wird.

Einer, der sich seit Monaten keines der Treffen entgehen lässt, ist Christopher Spray, Partner bei Atlas Venture, einem auf Hightechfirmen spezialisierten Risikokapitalgeber. Wenn Spray nach der Stehparty nach Hause kommt, leuchten auf seinem Laptop bereits die ersten Mails von Jungunternehmern auf, die er nur Stunden zuvor bei einem Glas Wein kennen gelernt hat. Bereits ein halbes Dutzend Deals hat Spray auf diese Weise eingefädelt - ein Drittel aller Internetgründungen, die Atlas in England finanziert hat. «Als wir 1996 damit anfingen, in Internetvorhaben zu investieren», sagt Spray, «gab es in Europa keine Projekte mit Hand und Fuss. Seit Anfang dieses Jahres jedoch haben wir miterlebt, wie sich von London aus eine wahre Flutwelle von Internetfirmen ausgebreitet hat.» Beim Aufbau dieser Unternehmergemeinde, betont der Venture-Capitalist, habe das informelle First-Tuesday-Netzwerk eine Schlüsselrolle gespielt.

Das erste Treffen des ungewöhnlichen Klubs fand vor einem Jahr in einer Bar im Londoner Ausgehviertel Soho statt. Dazu eingeladen hatten vier Freunde, die alle an ihrer Zweitkarriere als Net-Unternehmer bastelten - ein Investmentbanker, zwei Journalisten und eine Risikokapitalistin. Bei Erkundungsreisen nach Kalifornien hatten sie darüber gestaunt, wie unkompliziert in den Salons des Silicon Valley, der Wiege des E-Business, Informationen ausgetauscht und Kontakte geknüpft werden.

Die vier beschlossen, zu Hause in London ein eigenes Netzwerk auf die Beine zu stellen. Der E-Mail-Einladung zum ersten beziehungsfördernden Umtrunk folgten sechzig Freunde und Freunde von Freunden. Elf Monate später zählte Julie Meyer, die Spezialistin für Risikokapital, die das Netzwerk inzwischen hauptamtlich managt, in ihrer Datenbank mehr als 3500 Mitgliederadressen. Und First Tuesday, der Klub, den seine Begründer wohlweislich als Aktiengesellschaft organisiert haben, erhält regelmässig Übernahmeangebote in Millionenhöhe. Der Boom in London war aber erst der Anfang. Zurzeit expandiert der unkonventionelle Unternehmertreff europaweit. Die Septemberparty fand zur gleichen Zeit in 14 Städten statt - von Oslo über Budapest bis Genf. Und am ersten Oktoberdienstag folgten bereits zehn neue Treffpunkte, darunter auch Zürich.

Zurück nach England und an die First-Tuesday-Party an der London Business School. Mitten im Getümmel erzählt der 27-jährige Adam Laird, wie er am Junianlass des Netzwerkes Kapitalgeber für seine Internetfirma Magicalia fand. «Ich lernte die Leute von Atlas Venture am Dienstagabend kennen. Am Donnerstag stellte ich mein Projekt den versammelten Londoner Teilhabern der Firma vor.» Lairds Vorhaben: Eine Reihe von Websites aufzubauen, die sich an angefressene Sportler richten. Zur Illustration seines Konzepts legte der ehemalige Unternehmensberater einen Businessplan und zwei existierende Sites zu den Themen Fahrrad und Boot vor. Die Investoren zeigten sich angetan. Einige Wochen und viele Verhandlungsrunden später war man sich einig: Im Tausch gegen knapp ein Drittel der Magicalia-Aktien und einen Sitz im Verwaltungsrat stellte Atlas dem Jungunternehmer das Gründungskapital von umgerechnet 2,5 Millionen Franken zur Verfügung.

Auch für Ernesto Schmitts Firma brachte ein First-Tuesday-Abend die Dinge ins Rollen. Der 28-Jährige knüpfte den Kontakt zum ehemaligen Chef von Compuserve Grossbritannien, der damit liebäugelte, bei einer Neugründung als Partner einzusteigen. Mit dem Internetveteran als Verstärkung des Managements und einem 100-seitigen Businessplan ging Schmitt auf Kapitalsuche. Die Geschäftsidee für sein «Peoplesound.com» getauftes Unternehmen: den Musikfans auf dem Internet dabei zu helfen, in der Flut von neuen Bands und CD die Töne nach ihrem Geschmack zu finden. Dem Net-Fonds Europ@web erschien die Idee derart viel versprechend, dass er im Rekordtempo über 30 Millionen Franken ins Unternehmen investierte. Geht Peoplesound.com in einem Jahr wie geplant an die Börse, ist Ernesto Schmitt ein gemachter Mann. Zurückgelassen hat der Firmengründer allerdings eine Karriere, nach der sich noch vor kurzem die besten Uniabgänger der Welt die Finger leckten. Gerade mal 25 Jahre alt, verdiente der Cambridge-Abgänger und Insead-Absolvent als strategischer Berater bei der Boston Consulting Group mehr als 250 000 Franken im Jahr.

Auch Julie Meyer, die First-Tuesday-Mitbegründerin, holte sich ihren MBA am renommierten Insead-Institut bei Paris. «Als ich 1997 abschloss», erzählt sie, «war der ganze Jahrgang auf die gut bezahlten Jobs bei McKinsey oder den Investmentbanken aus - schon nur, um die 60 000 Dollar Schulden fürs Schulgeld zurückzubezahlen.» Als die Amerikanerin mit Arbeitsort London vor ein paar Monaten ans Insead zurückkehrte, um ihr Netzwerk vorzustellen, hatte die neuste Studentengeneration ganz andere Pläne: Auf in den Wilden Westen des E-Business zur Gründung einer eigenen Firma - und zwar ohne Umwege!

Der einsetzende Boom von Internetfirmen in Europa stellt nicht nur die Karrierepläne von ehrgeizigen Jungmanagern auf den Kopf. Eine ganze Branche denkt um. In London und anderswo wer-den Dienstleistungen für Unternehmen in der Aufbauphase heute nicht mehr für Geld, sondern im Tausch gegen Aktienanteile erbracht. Ob Beratung durch Andersen Consulting oder McKinsey, ob Vorbereitung zum Börsengang durch JP Morgan oder Hilfe von Anwaltskanzleien und PR-Agenturen, alle lassen sich ganz oder zum Teil mit Aktienoptionen bezahlen. Gründe für diese unorthodoxe Praxis werden viele genannt: Vom fehlenden Cash bei den jungen Unternehmen bis zum Bestreben, die Partnerschaft zwischen Beratern und Unternehmer durch das Eingehen eines gemeinsamen finanziellen Risikos zu besiegeln.

Im Grunde genommen aber ist klar: Alle Beteiligten spekulieren darauf, zu Mitbesitzern der nächsten Amazon.com oder eBay.com zu werden, den Pionieren des amerikanischen E-Business, die in den vergangenen Monaten zwar dramatische Kursverluste hinnehmen mussten, ihren Gründern und Financiers aber dennoch Milliardenvermögen beschert haben. Auch das Dutzend in Europa kotierter Internetunternehmen enttäuscht zurzeit an der Börse. Der Londoner Internetgemeinde aber raubt dies kaum den Schlaf. Tatsache ist: Im europäischen E-Business ist nicht das Geld Man-gelware, sondern Ideen und Leute, die sie umsetzen können. «Vor einem Jahr», sagt First-Tuesday-Initiantin Julie Meyer, «hatten die Geldgeber Angst, ins Internet zu investieren. Heute fürchten sie sich davor, die Chance ihres Lebens zu verpassen.» Mindestens eine Milliarde Dollar Risikokapital, so rechnen Insider vor, liegt zur Investition in europäische Internetfirmen bereit. Mehr als hundert Gründungen wurden im laufenden Jahr bereits risikofinanziert. Die grössten Net-Financiers sind zwei Tycoons, die schon andere Branchen das Fürchten gelehrt haben: Bernard Arnault, der Besitzer des Luxus-Imperiums LVMH (Louis Vuitton Moet Hennessy) hat in seinem Europ@web-Fonds umgerechnet 800 Millionen Franken liegen. «Epartners», die Beteiligungsfirma, an der Medienmagnat Rupert Murdoch schwergewichtig beteiligt ist, verfügt über eine Kriegskasse von umgerechnet 600 Millionen Franken.

Noch liegt das europäische E-Business in der Bedeutung weit hinter jenem der USA zurück. Aber in Europa, und das ist für die Investoren entscheidend, wächst der Sektor schneller. «Ich erhalte laufend Anrufe von amerikanischen Venture-Capital-Firmen, die wissen wollen, wie sie sich am besten im europäischen Markt festsetzen», erzählt Thomas Paulmichl, Investmentbanker bei JP Morgan in London. Der Südtiroler, ein regelmässiger Gast auf den First-Tuesday-Partys, betreut mit seinen Kollegen gegenwärtig ein Dutzend europäischer Internetfirmen beim Gang an die Börse.

Auch Yann Borgstedt, ein Genfer in London, ist First-Tuesday-Mitglied der ersten Stunde. Er vertritt die Venture-Capital-Firma Global Investment Partners, die sich auf den Aufbau von Firmen im Detailhandel spezialisiert hat. Zu den Global-Geldgebern gehört unter anderem der Schweizer Grossverteiler Maus Frères (Manor, Jumbo). Zwei Drittel der von Borgstedt und seinen Partnern betreuten Anlagen fliessen gegenwärtig ins E-Business. «Unser grösstes Problem», sagt der Risikokapitalist, «ist es, im Internetbereich Leute zu finden, die eine Firma führen können.» Abhilfe verspricht sich Borgstedt nicht zuletzt vom Dienstagsklub, dessen Genfer Ableger er mitbegründet hat. First Tuesday soll nach den Vorstellungen seiner paneuropäischen Initianten bald mehr sein als der Ort für blosse Beziehungspflege. Demnächst wird auf der Website des Klubs konkrete Hilfe im Jungunternehmeralltag angeboten - von der Suche nach Personal und Büroräumen bis zu Tipps für die besten Deals mit Kapitalgebern.

Im Hof der London Business School ist die First-Tuesday-Party in Auflösung begriffen. Die 2400 Gläser Côte du Ventoux und Montana aus Neuseeland sind getrunken, und unter den letzten Gästen machen fantastische Geschichten die Runde. Goldgräberstorys wie die des deutschen Internet-Auktionshauses Alando, das nach nur zwei Monaten im Geschäft für 40 Millionen Dollar aufgekauft wurde. Oder jene des kalifornischen Psychotherapeuten Stephen Goldbart. Er hat sich auf Opfer des «sudden wealth syndroms» spezialisiert. Seine Klienten findet der Therapeut unter den Dutzenden von Internetunternehmern, die im Silicon Valley Woche für Woche aus heiterem Himmel zu Millionären werden.

Züri-Date mit Susan Kish
Beinahe 15 Jahre lang fühlte sich die Amerikanerin Susan Kish als Teil der UBS-Familie. Als Investmentbankerin entwickelte sie für ihren Arbeitgeber in New York neue Produktelinien, stieg ins Topmanagement auf, wurde von den Bankgesellen an den Hauptsitz geholt, wechselte ins Privatebanking und bekleidete internationale Funktionen in der Bank.

Dann kam die Fusion zur UBS, und nichts war mehr wie zuvor. Kish sah die Veränderung als Chance. «Der Merger wirkte auf mich wie ein Katalysator - ich konnte zurücklehnen und mich strategisch fragen: Was mache ich als Nächstes?»

Die erfolgreiche Bankerin entschied sich für die aufregende Welt der Firmengründer auf dem Internet. Mit Abstand die heisseste Plattform für jemanden wie Kish, die gerne mit Jungunternehmern arbeitet.

Die Amerikanerin in Zürich beriet verschiedene Net-Firmen im Aufbau bei Finanzierungs- und Managementfragen und arbeitet zurzeit hauptsächlich bei Upaq, der Internet-Kurierfirma des ehemaligen Blue-Window-Chefs Peter Rudin.

Eine von Susan Kishs Aufgaben: 25 Millionen Franken Risikokapital für den Ausbau des Unternehmens aufzutreiben. Durch den Kontakt mit der europäischen Venture-Capital-Szene hörte Susan Kish von First Tuesday in London und war vom Netzwerk gleich so begeistert, dass sie beschloss, einen Zürcher Ableger aufzubauen.

Auch wenn vom weltweit boomenden E-Business in der Schweiz noch wenig zu merken ist, sieht die Beraterin für ihre Wahlheimat doch Chancen: «Wer im Internet Erfolg haben will, muss zunehmend die regionalen Konsumenten ansprechen. Da kann die mehrsprachige und multikulturelle Schweiz auf ihre Stärken zurückgreifen.» Für eine berufliche Zukunft im E-Business hat sich Susan Kish nicht etwa aus übertriebener Risikobereitschaft entschieden. Im Gegenteil. Die dreifache Mutter, die mit einem freien Fotografen verheiratet ist, sieht sich als Haupternährerin ihrer Familie. «Als ich mir ein neues Betätigungsfeld suchte, war eines klar: Die Branche, für die ich mich entscheide, muss ein Riesenpotenzial haben.»

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