Seit zwei Wochen wird in Visakhapatnam Rohöl in die Tiefe gepumpt. Dort an der indischen Ostküste, 162 Meter unter dem Meeresspiegel, füllt die zähe, schwarze Flüssigkeit langsam einen 7,5 Kilometer langen Stollen. Mehrere Wochen wird es dauern, bis der in Stein gehauene Tank mit 1,3 Millionen Tonnen Öl im Wert von 357 Millionen Dollar gefüllt ist. Mit Hochdruck wird an weiteren, noch grösseren Lagerstätten gebaut. Schon im Oktober sollen zwei in Mangaluru und Padur fertig sein.

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Indien ist der viertgrösste Ölverbraucher der Welt und versucht, möglichst lange vom niedrigen Ölpreis zu profitieren. Der Subkontinent muss ein Drittel seines Budgets in Öl investieren und zählt daher zu den grössten Nutzniessern des Ölpreisverfalls. Produzenten wie Russland oder Venezuela sind die grossen Verlierer.

Gewaltige Geldströme

Es sind gewaltige Geldströme, die 2015 ihre Richtung ändern. Weil sich das Fass WTI-Öl von 100 auf bis zu 45 Dollar verbilligte, fliessen von den ursprünglichen 3300 Milliarden Franken jetzt 1500 Milliarden Franken statt in die Kassen der Ölproduzenten in die der Importeure.

«Der Preisverfall löst einen massiven Wohlstandstransfer von Produzenten zu Konsumenten aus», heisst es beim weltgrössten Vermögensverwalter BlackRock. Solch gewaltige Umbrüche haben vielfältige Auswirkungen und bergen auch für Anleger Chancen.

Die Aktienmärkte profitieren, da mit dem Ölpreis die Inflation fällt. In vielen Ländern ist die gefürchtete Deflation bereits Realität. Von den Notenbanken ist dadurch noch mehr Einsatz gefragt. Weiterhin treiben niedrige oder sogar Negativzinsen die Investoren in risi​kobehaftete Anlagen und somit an die Börsen. Das Anleihenrückkaufprogramm der EZB kommt als Kurstreiber noch dazu.

Im Dollar ist die Ölpreiskorrektur noch deutlicher als in den abgewerteten Währungen Euro oder Yen. Schätzungen gehen von einem Ölbonus von 750 Dollar je US-Haushalt aus. Weil Amerikaner für zehn Gallonen Benzin nicht mehr eine Stunde, sondern nur noch 40 Minuten arbeiten müssen, steigt das Konsumentenvertrauen. Besonders spürbar ist dieser Effekt bei einkommensschwachen Gruppen. Zur Freude der Wirtschaft geben diese das Geld im Schnitt auch wieder schneller aus.

Öl schmiert den Konjunkturmotor

Die Kasse klingelt bei Einzelhändlern wie Walmart, Restaurantketten wie McDonald’s oder Shake Shack, einer seit kurzem kotierten Schnellimbisskette. Der Einfluss des Konsums auf das Bruttoinlandprodukt ist mit fast 70 Prozent so stark wie in keinem anderen Land der Welt. Öl schmiert den Konjunkturmotor USA und damit die Weltwirtschaft.

Europa kann diesen Rückenwind gut gebrauchen. Der Kontinent konsumiert jedes Jahr 3,14 Milliarden Fass Öl mit einem aktuellen Gegenwert von rund 151 Milliarden Franken und ist damit der grösste Importeur der Welt. Die durch den Ölpreiskollaps gewonnene Kaufkraft: 144 Milliarden Franken.

Europäische Konsumgüterhersteller und ihre Aktien ziehen einen Teil dieses Geldes an sich. In diesem Sektor lässt sich mittels ETF auf den MSCI Europe Consumer Staples wetten. Bei Logistikern wie Kühne + Nagel oder Fluggesellschaften wie Turkish Airlines machen die Treibstoffkosten einen wesentlichen Teil der Ausgaben aus. Tankerkonzerne wie die in einer Restrukturierung befindliche Frontline und DHT Holding profitieren mehrfach. Neben den tieferen Kosten steigt durch die Korrektur der Ölverbrauch. Zudem werden ihre Schiffe als schwimmende Öllager gebraucht. Die Nachfrage ist gross. Nicht nur Indien bunkert Öl. Die Lager sind mit 418 Millionen Fass so voll wie nie seit der Datenerhebung im Jahr 1982.

Mehr Geld in der Kasse

Viel mehr Geld in der Kasse bleibt Ölimporteuren aus den Entwicklungsländern. «86 Prozent der Emerging Markets sind grundsätzlich Gewinner», sagt Mickaël Tricot, Deputy Head Global Emerging Markets Aktien bei Amundi. Zu den grössten Importeuren zählen China, Indien, Indonesien, die Türkei, Thailand, Polen, Südafrika und die Philippinen. Wichtig ist jedoch, dass die Regierungen das frei gewordene Kapital nachhaltig investieren.

«Werden statt Öl einfach nur andere Produkte gekauft und verbraucht, macht das wenig Unterschied», sagt Tricot. Beispiele für so ein Verhalten finden sich in der Türkei und Südafrika. Besser schlagen sich die Regierungen in Ländern wie Thailand, den Philippinen, China oder Indien. Sie bauen die Infrastruktur aus und stärken den Produktionsstandort, um ausländische Unternehmen und damit nachhaltig Gelder anzuziehen. Ihre Bemühungen bekommen mit Hilfe der frei gewordenen Petrodollars jetzt zusätzlichen Antrieb.

Gute Schüler bevorzugt

«Der Ölpreisverfall hat in den Emerging Markets den Unterschied zwischen guten und schlechten Schülern verstärkt», sagt Simon Pickard, Chef des Emerging-Market-Teams der Fondsgesellschaft Carmignac. Der von den Finanzmärkten geliebte Premierminister Narendra Modi sagt Indien neunprozentige Wachstumsraten voraus. Über die sinkenden Lebensmittelpreise kommt der Ölpreis den Konsumenten indirekt zugute. Auch dem philippinischen Bruttoinlandprodukt wachsen mit einem Plus von mehr als sieben Prozent in diesem Jahr Flügel. Mit boomenden chinesischen Märkten rechnen die Carmignac-Experten nicht zuletzt wegen des Ölturbos. «Thailand profitiert vom Ölpreisverfall wahrscheinlich am meisten», sagt Tricot.

Die Chancen in den Schwellenländern können Anleger kostengünstig mit Länder-ETFs wahrnehmen. Ein Emerging-Markets-Fonds, der sich über die letzten zehn Jahre überdurchschnittlich gut schlug, ist der First State Global Emerging Markets Leaders. Alles schon in den Kursen eingepreist? «Wahrscheinlich unterschätzen wir den positiven Effekt der niedrigeren Ölpreise», sagt Amundi-Experte Tricot. Und je länger der Ölpreis am Boden bleibt, desto stärker der positive Effekt und die Erfolgsaussichten der ETFs. «Solange die Ölpreise niedrig bleiben, dauern die Flitterwochen bei den Nettoimporteuren Asiens an», sagt Davis Hall, Leiter Advisory bei Crédit Agricole Private Banking.

Gute Aussichten

Die Aussichten auf lange Flitterwochen sind gut. Die Zeit von dreistelligen Ölpreisen scheint mittelfristig vorbei. Öl wird weniger von der Nachfrage als vom Angebot getrieben. In den Jahren, als das Fass Öl für mehr als 100 Dollar verkauft werden konnte, wurden Rekordsummen in die Förderung investiert. Kostspielige Produktionsarten wie die Bohrungen nach Schieferöl (Fracking) oder die Förderung über Ölsand wurden rentabel. Vor allem durch das Fracking in den USA kam die Balance von Nachfrage und Produktion aus dem Gleichgewicht.

Der Produktionszuwachs, den die USA im Vorjahr erzielten, war der viertgrösste seit 1965. Laut der Energieagentur EIA werden die USA dieses Jahr 9,3 Millionen Barrels am Tag produzieren. Vor wenigen Jahren waren es gerade einmal halb so viele. Gemessen an der Öl- und Gasproduktion haben die USA inzwischen Saudi-Arabien überholt. In diesem Umfeld ist Saudi-Arabien auf die Verteidigung der Marktanteile bedacht und dürfte die Ölpumpen trotz des niedrigen Preises vorerst nicht drosseln. Die Folgen für den Ölpreis: «Der durchschnittliche Ölpreis wird in diesem Jahrzehnt deutlich niedriger sein als im vergangenen», heisst es in einer Studie von Goldman Sachs.

Pro Tag werden 92 Millionen Fass Öl, das sind über 14 Milliarden Liter, konsumiert. Jeder Mensch verbraucht im Schnitt täglich zwei Liter Öl. Der Produktionsüberschuss ist mit 1,5 Millionen Fass pro Tag, also 1,6 Prozent des Konsums oder 32 Milliliter pro Mensch, auf den ersten Blick nicht wirklich gross. Dennoch wurde durch die zusätzlichen Fördermengen der höchste Überschuss seit der Asienkrise anno 1990 erreicht.

Auch wenn die durchschnittliche Produktionsmenge auf längere Zeit höher bleiben dürfte als in den letzten Jahren, wird der Preiskollaps die Ausweitung der Fördermenge bremsen. Hunderte von Bohrinseln machten bereits dicht. Auch Ölsand und Schieferöl rechnen sich auf dem aktuellen Preisniveau nicht mehr. «Wir schätzen, dass es 9 bis 15 Monate dauern wird, bis Produktionskürzungen amerikanischer Unternehmen von Schieferöl zu beobachten sind und sich der Ölmarkt wieder ein Stück weit einpendelt», sagt Michael Hulme, Manager eines Rohstofffonds bei Carmignac. Die meisten Experten prognostizieren im zweiten Halbjahr eine leichten Erholung der Preise.

Auf die Verlierer setzen

Im Unterschied zu den langfristigen Länderwetten bieten sich bei einem sogenannten Rebound für kurzfristig orientierte Länder Chancen. Die besten Chancen haben jene Werte, die beim Ölkollaps am stärksten unter die Räder kamen. Dazu zählen etwa Investments in regenerative Energien und Ölserviceunternehmen. Doch überstürzen müssen Anleger nichts. Bei den Öldienstleistern ist der Boden wohl nicht erreicht. Ein wichtiger Indikator ist die Zahl der aktiven Ölplattformen in den USA. Bisher haben 470 Plattformen ihre Pumpen abgestellt, das ist ein Minus von 30 Prozent. Bei vorhergehenden Ölpreiskorrekturen, etwa in den Jahren 2001/02 und 2008/09, belief sich das Minus auf 43 beziehungsweise 57 Prozent.

Doch Anleger können sich auf die Lauer legen. Steigt die Zahl der aktiven Plattformen wieder an und beginnt die Ölproduktion in Nicht-Opec-Ländern zu wachsen, sollte die Reise bei den Aktienkursen der Öldienstleister in die andere Richtung gehen. Anleger sollten kleine No-Names meiden und sich auf Branchengrössen wie Schlumberger oder Baker Hughes konzentrieren.

Mit Paukenschlag gestartet

Erstere, der grösste Ölservicekonzern der Welt, stellt sich für die nächsten Jahre auf niedrige Ölpreise ein und hat mit dem Abbau von 9000 Mitarbeitern das Restrukturierungsprogramm mit einem Paukenschlag gestartet. Der Plan ist, so den Gewinn je Aktie zu verdoppeln. Die Aktie des Ölbohrspezialisten wird mit einem Kurs-Buchwert von 2,8 gehandelt, das ist das niedrigste Niveau seit den 1980er Jahren. Als lokalere Alternative bietet sich der österreichische Dienstleister Schoeller-Bleckmann Oilfield (SBO) an. Obwohl Umsatz wie auch Gewinn im vierten Quartal deutlich zulegten, hat die Aktie schon einen Rückgang eingepreist.

Anders als die Aktien der Ölservicefirmen kamen die Master Limited Partnerships, die sogenannten MLPs, weitgehend unschuldig unter die Räder. Die Titel gaben um 20 bis 25 Prozent nach, obwohl ihre Gewinne von der Korrektur der Ölpreise nur marginal beeinflusst werden. Der Löwenanteil der Geschäfte basiert auf Gebühren. Nicht der Ölpreis, sondern die transportierte Menge ist relevant. MLPs bringen das Öl von den Förderanlagen zum Konsumenten. Ist das Ölpreisniveau niedrig, steigt die Chance, dass der Verbrauch sogar noch wächst. ETF Securities hat im Vorjahr einen ETF auf Energie-Infrastruktur auf den Markt gebracht. Der passive Fonds bildet den Solactive US Energy Infrastructure MLP Index nach. Der ETF wird in Franken gehandelt.

Vorsicht vor Riesen

Egal ob die Ölpreise wieder steigen oder nicht: Anleger sollten die Finger von den Branchenriesen lassen. Ein Erholungsrally gibt es nicht. Denn Aktien wie Exxon Mobil, Shell, BP oder Chevron haben ihre Qualität als defensive Anlagen bewiesen und sind anders als der Ölpreis nicht eingebrochen. Der Hintergrund: Ölaktien werden zu einem grossen Teil von Privaten gehalten, die diese Titel wegen ihrer Dividenden und der Finanzkraft schätzen.

Zugleich wirkt sich der Ölpreisverfall stark auf das operative Geschäft aus. So ist der für 2015 von Exxon prognostizierte Gewinn nur noch halb so hoch wie letztes Jahr. Der Gewinn der grossen Energiekonzerne soll laut Schätzungen im letzten Quartal um 20 Prozent eingebrochen sein. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse sind dadurch in die Höhe geschossen. Besserung ist nicht in Sicht. Trotz massiver Investitionen in die Exploration – Exxon hat allein letztes Jahr 38 Milliarden Dollar investiert – wächst das Ölgeschäft nur halb so stark wie die Weltwirtschaft. Mittlerweile gibt es keinen Ölriesen mehr, der die Ausschüttung noch aus dem Cashflow finanzieren kann und nicht auf Fremdfinanzierung zurückgreifen muss. Royal Dutch hat die Dividende seit 1945 nicht gekürzt. Exxon schüttet bereits seit einem Jahrhundert Gewinne aus. Es droht eine Ära zu Ende zu gehen.