BILANZ: Swissair am Boden, «Zürich» unter Übernahmedruck, Vontobel im Banne des Internetbank-Debakels, Sulzer in Daueragonie: Ist diese Häufung negativer Ereignisse Zufall oder nicht?
Manfred Timmermann:
Nein, das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis des beschleunigten Wandels. Das Management ist nicht in der Lage, diesem Wandel rasch zu folgen, und zwar in Bezug auf die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft der Unternehmen.

Dennoch fragen wir uns: Warum konnte so etwas passieren?
Das Tempo ist so hoch, dass ihm die Spitzenmanager eben nicht mehr folgen können. Die Kommunikation spielt bei diesen Veränderungsprozessen die zentrale Rolle. Jene Chefs, die dieses Instrument beherrschen, konnten die Veränderungsbereitschaft intern stärken. Jene, die es nicht geschafft haben, sind heute in einer prekären Situation.

Der finanzielle Absturz der Swissair ist für die Schweizer Wirtschaft peinlich, weil das Establishment im Verwaltungsrat sass. Wer trägt die Hauptschuld am Debakel: der ehemalige Konzernchef Philippe Bruggisser oder der Verwaltungsrat?
Swissair ist ein Fall Bruggisser, doch noch mehr ein Fall Verwaltungsrat. Das Unternehmen hat nicht nur die falsche Strategie eingeschlagen mit Sabena und all den andern Airlines, sondern es fährt im operativen Geschäft täglich Millionenverluste ein. Das kommt nicht von heute auf morgen. Wenn ein Verwaltungsrat die Monats- und Quartalsabschlüsse auch nur halbwegs angeschaut hätte, dann hätte er erkannt, dass sich Verluste auftürmen, und er hätte die rote Lampe betätigen müssen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie tief diese Verwaltungsräte geschlafen haben, um dies zu übersehen. Vielleicht haben sie die Unterlagen ganz einfach nicht studiert.

Womöglich hat man auch zu sehr an Bruggisser und an seine waghalsige Hunter-Strategie geglaubt.
Da kann man nur einen alten Satz anfügen: Pleite geht man nur operativ. Strategisch kann man tolle Sachen machen und auch eine Zeit lang bluffen. Bruggisser mag mit seiner Strategie beeindruckt haben, zumal sie McKinsey entwickelt hatte und auch CS-Chef Lukas Mühlemann dahinter stand. Doch eine operative Schieflage kann man aus den Zahlen ablesen. Wer da nicht hinschaute, kann sich heute nicht mit gruppendynamischen Entschuldigungen herausreden.

Unverständlich ist, wie erfolgreichen Führungskräften wie Lukas Mühlemann und Thomas Schmidheiny solche Fehler unterlaufen konnten.
Sie haben versagt, und man kann dies weder mit Arbeitsüberlastung noch mit Filz erklären. Wenn Mühlemann heute einwendet, er habe im Einzelfall Einspruch eingelegt, so ist dies kein Argument. Hätte er die Situation wirklich erkannt, hätte er auf die Bremse treten müssen. Ordnungspolitisch stellt sich noch ein anderes Problem: Der Wettbewerb wird nicht durchgezogen, und so wird die Swissair auch nicht Pleite gehen. Die drei Banken CS, UBS und Deutsche Bank werden sie retten, da sie dazu verpflichtet sind. Denn sie waren alle personell mit Swissair verstrickt. Hätten im Übrigen die Banken Swissair fallen gelassen, wäre mit Sicherheit der Bund eingesprungen.

Ist die Situation der «Zürich» mit Swissair vergleichbar?
Ja, auch hier hat der Verwaltungsrat nicht bemerkt, dass die Strategie nicht aufgeht. Ich mache niemandem den Vorwurf, diese oder jene Strategie eingeschlagen zu haben. Man darf durchaus einen Irrtum begehen, doch man muss ihn erkennen und daraus die Konsequenzen ziehen. Wenn bei «Zürich» jetzt nicht reagiert wird, wird es wie bei Swissair enden, sofern es nicht schon zu spät ist. Dass grosse Firmen ins Trudeln geraten, ist ja nicht ungewöhnlich. Denken wir an den Riesenkonzern IBM, der einst als unschlagbar galt und dann in enormen Schwierigkeiten steckte. Heute steht IBM wieder blendend da. Man kann also den Turnaround durchaus schaffen.

Die Finanzmärkte verlangen den Kopf von Rolf Hüppi. Die Frage ist, wer ihn entlässt. Hüppi ist ja gleichzeitig Verwaltungsratspräsident und Konzernchef.
«Zürich» hat es in guten Zeiten verpasst, die Corporate Governance so zu regeln, dass Strukturen und Prozesse der Entscheidungsfindung sauber getrennt sind. Jetzt straft die Börse, die ja heute faktisch die Oberaufsicht über ein Unternehmen hat, Hüppi ab. Doch es gibt noch andere Schuldige: Versagt haben auch die Analysten. Wenn sie so gut wären, wie sie behaupten, hätten sie die dicken Verluste erkennen müssen. Auch die Wirtschaftsprüfer wären verpflichtet gewesen, den Verwaltungsrat rechtzeitig über die Finanzlage zu informieren, wobei eben erschwerend dazu kommt, dass Konzernchef Hüppi zwei Hüte trägt und auch den Verwaltungsrat präsidiert.

Wäre die Schieflage bei Swissair und «Zürich» früher aufgedeckt worden, wenn in der Schweiz die strengeren amerikanischen Accounting-Standards zur Anwendung gekommen wären?
Nein, den Regeln des Rechnungswesen traue ich nicht viel Kraft zu, sodass ich heute sogar eher den umgekehrten Schluss ziehe. Den CEOs ist es sehr recht, dass man drei verschiedene Standards anwenden kann. Man sucht sich jenen Standard aus, der einem am besten passt, um seine Strategie zu rechtfertigen. Auf die Wirtschaftsprüfer ist schon gar kein Verlass, weil die führenden Treuhandfirmen von Grosskonzernen mitunter Hunderte von Millionen für Prüfung und Beratung generieren. Würden Sie nun einen grossen Kunden aufgeben, weil er beispielsweise mit geeigneten Bewertungen der Pensionsrückstellungen das Ergebnis aufpoliert? Bestimmt nicht. Die Abhängigkeit der Wirtschaftsprüfer von den zu prüfenden Firmen ist viel zu gross. Auch hier wird nicht nach Corporate-Governance-Kriterien gehandelt, sonst würden die Prüfungsgesellschaften häufiger ausgewechselt.

Im Zwielicht stehen auch die Berater wie im Fall Swissair-McKinsey. Muss man heute von einer generellen Beraterkrise sprechen?
Ja, doch sie ist auch heilsam, weil in den Unternehmen viel zu viel auf die Beratung gehört wird. Häufig wird sie instrumentalisiert, um den internen Machtkampf zu gewinnen. Auf jeden Fall hat die Glaubwürdigkeit der Berater gelitten. Gerade nach dem Fall Swissair wird man sich überlegen, ob man noch einen Strategieberatungsauftrag erteilt. Vergessen wir auch die Rechtsanwälte nicht, die praktisch alle Fusionsverträge ausarbeiten. Doch zu den ökonomischen Konsequenzen sagen sie nichts. Ihre Honorare sind hoch, ihre Verantwortung ist gleich null. Gleichwohl wächst ihre Bedeutung markant. Von den Investmentbankern lässt sich Ähnliches sagen. Sie blenden die Manager mit ihrer extrem schwierigen Fachsprache und ihren speziellen Bewertungstricks. Man hat nicht mehr den Mut zu sagen, man solle nicht alles so kompliziert machen. Letztlich kommt es doch nur auf eines an: Umsatz minus Kosten.

Konsequent wäre, wenn die Beratungsunternehmen für ihre Fehler haften müssten.
Weshalb nicht? Ich stelle diese Frage auch bei den Analysten und den Verwaltungsräten. Gerade die Verwaltungsräte sollten für weit höhere Beträge geradestehen und sich dafür versichern lassen. Denn dann wird die Höhe der Prämie diskutiert, und so entsteht der nötige Druck, möglichst qualifizierte Leute in die Verwaltungsräte zu berufen. Ich würde weiter ein oberes Durchschnittsalter von 55 Jahren für den Verwaltungsrat festlegen, damit auch 45- und 50-Jährige vermehrt zum Zug kommen. Dabei erweist sich eine Zahl von fünf bis sieben Verwaltungsräten als ideal. Im Vergleich zu Amerika läuft bei uns alles zu spät an. In den KMUs sitzt meist ein Aeropag zusammen (ein Ältestenrat, die Red.), der nur Bedenken trägt und den Wandel verhindert. Die Bedeutung der Erfahrung nimmt beim schneller werdenden Wandel ständig ab. Neue Ideen sind gefragt. Bezeichnenderweise gehören Verwaltungsräte, Analysten und Berater zu den wenigen Berufen, für die keine Qualifikation nachgewiesen werden muss. Steuerexperten brauchen ein eidgenössisches Diplom, Unternehmensberater kann sich jeder nennen.

Soll der Staat mit gesetzlichen Regelungen eingreifen?
Nein, es muss nicht gleich eine gesetzliche Lösung sein. Wenn die Verbände noch eine Berechtigung haben, hätten sie da eine gute Chance. Auch Universitäten könnten sich zusammenraufen und ein Zertifikat für den eidgenössisch geprüften Verwaltungsrat kreieren.

Bei der New Economy haben die Buchprüfer den Crash ebenfalls nicht verhindert.
Ja, sie haben nicht rechtzeitig gewarnt, sondern haben, beeindruckt vom Aktienrausch, alles testiert. Auch hier stellt sich die Haftungsfrage: Wirtschaftsprüfer haften bis zu zehn Millionen Franken, ein vergleichsweise bescheidener Betrag.

Erschreckend ist, dass die ganze Kette von Kontrollinstanzen auf allen Stufen nicht funktioniert hat.
Richtig. Von den rationalen Instrumenten her existiert kein Automatismus, das Frühwarnsystem wirklich in Gang zu setzen. Das Management lebt nun einmal vom Prinzip Hoffnung. Doch Hoffnung ist der Tod des Kaufmanns. Als Erster versagt der Controller. Er operiert nach dem militärischen Motto «Melden macht frei». Er belässt es bei einer Mitteilung an die Konzernleitung, statt zu drohen, die Sache vor den Verwaltungsrat zu bringen. Die zweite Stufe ist der Verwaltungsrat. Er nimmt die Zahlen zur Kenntnis, die man ihm vorlegt. Dabei müsste er im Zweifelsfall den Controller konsultieren und Zusatzinformationen anfordern. Dritte Stufe: der Wirtschaftsprüfer. Auch er schweigt, weil er am Ast, auf dem er sitzt, nicht sägen mag. Denn die Mutigen haben bei unserer Unternehmenskultur eine schlechte Chance.

Schwappt die Führungskrise bei den Grossen nun auch auf die KMUs über?
Ja, ganz stark sogar, weil insbesondere in vielen Firmen die Führungsnachfolge nicht geregelt ist und bis zuletzt hinausgeschoben wird. Das Wichtigste, die rechtzeitige Kont- rolle, hängt auch bei den KMUs entscheidend von der Qualität der Verwaltungsräte ab. Sie müssten den Mut haben zurückzutreten, wenn das Management oder die Eigentümer-familie die nötigen Konsequenzen nicht zu ziehen bereit ist.

Bei Swissair ist der neue starke Mann, Mario Corti, das letzte Aufgebot. Lebt die Schweiz punkto Managementkapazität über ihre Verhältnisse?
Nicht nur die Schweiz. In Deutschland ist die Situation ja noch schlimmer. Wir ziehen an den Universitäten keine Eliten mehr heran, weil uns der Wohlstand satt gemacht hat. Deutschland spielt in der internationalen Wissenschaftsszene keine grosse Rolle mehr. Die amerikanischen Studenten meiden unsere Universitäten, weil hier nichts mehr geboten wird. Nur Eliteleute können den Strukturwandel bewältigen.

Fehlt es der 68er-Generation an Härte und Leadership?
Ja, die Gesellschaft zwingt uns nicht, Spitzenleistungen zu erbringen, weil der Wettbewerb fehlt. Man hat als Folge der 68er-Bewegung möglichst viele Absolventen in die Universitäten geschleust und dabei das Leistungsniveau gesenkt.

Auch in Deutschland stehen die Chefs grosser Konzerne wie DaimlerChrysler und Telekom unter gewaltigem Rücktrittsdruck.
In der Tat sind viele Konzernchefs, die in den Medien genannt werden, angeschlagen. Aber es gibt auch mehrere erfolgreiche Topmanager wie Siemens-Chef Heinrich von Pierer und Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle, denen man nichts vorwerfen kann. Es ist eben auch nicht so einfach, Unternehmen im globalen Wettbewerb immer nur fehlerfrei und erfolgreich zu führen. Für mich zeichnen sich gute Topmanager auch dadurch aus, dass sie Krisen und Rückschläge meistern. Als Beispiel ist hier Rolf Breuer zu nennen, der die fehlgeschlagene Fusion von Deutscher Bank und Dresdner Bank mit grossem Kommunikationsaufwand nach innen und aussen in kürzester Zeit für die Deutsche Bank fast vergessen gemacht hat.

Soll man auch DaimlerCrysler-Chef Jürgen Schrempp noch eine Chance geben?
Er hat ja das gemacht, was man Philippe Bruggisser vorwirft: ohne Not verlustträchtige Unternehmen zu kaufen. Es zeigt sich immer mehr, dass bei der Krisenbewältigung die Unternehmenskommunikation nach innen und aussen eine entscheidende Rolle spielt. Wenn Mario Corti wirklich die Swissair-Pressekonferenz durch den Hinterausgang verlassen hat, statt mit den einzelnen Journalisten nach dem offiziellen Teil ausführlich zu diskutieren, so erliegt er der Gefahr abzuheben. Neben exzellenter Sachkunde gehören auch Ausstrahlung und Charisma zu einem erfolgreichen Unternehmensführer.

Das Volk hat somit Recht, dass es den Managern tief misstraut: Sie beziehen hohe Gehälter und nehmen im Notfall den goldenen Fallschirm, statt zu den Fehlern zu stehen.
Ja, wenn man an Klaus Esser denkt, der 60 Millionen Mark Abfindung kassierte, weil er die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone abgesegnet hatte. Es ist den Managern zwar ziemlich egal, ob sie zwei oder vier Millionen verdienen. Sie wollen die Grössten sein und bei den Lohnrankings zuoberst stehen. Diese Prestigelüsternheit gehört leider dazu.

Die Gier lässt sich demnach nicht stoppen.
Gute junge Leute wachsen nach, die sich durch Bescheidenheit auszeichnen. Doch vielleicht ist dies auch nur eine Hoffnung.
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