BILANZ: Herr Heller, wie ist gegenwärtig die Stimmung bei den Geldmanagern?
Gottfried Heller:
Die Stimmungslage reicht von Nervosität bis Ratlosigkeit. Hiess es im zweiten Halbjahr 1999 bis Anfang 2000 vor allem bei Hightech- und Internetwerten noch «Kaufen zu jedem Preis», lautete die Devise ein Jahr danach «Verkaufen um jeden Preis». Vorher kannte man keine Zweifel, jetzt kennt man nur noch Zweifel. Kommt eine Firma mit einer Gewinnwarnung, wird die ganze Branche runtergestuft. Jetzt geht es nur noch darum, die Gewinne zu sichern oder den Einstand wieder zu erreichen.

Sie tönen genervt.
Dieses ständige Gerede von einer Rezession geht mir langsam auf die Nerven. Es erinnert mich an 1987, als der Dow Jones an einem Tag um mehr als 20 Prozent einbrach. Damals sprachen viele sogar von 1929 – also von Depression.

Sie nicht?
Nein. Ich war einen Tag danach zusammen mit dem Chef der Finanzredaktion einer grossen deutschen Zeitung im Radiostudio. Er war pessimistisch, meinte, es werde länger dauern, bis sich die Börse von diesem Schock wieder erholen werde; ich war optimistisch, sagte eine kurze Baisse voraus und riet, jetzt Aktien zu kaufen. Wir hatten beide irgendwie Recht, doch ich habe dabei mehr verdient als er. Im Mai 1988 ging es an den Börsen dann wieder deutlicher aufwärts.

Mittlerweile dauert diese Baisse aber schon länger als ein halbes Jahr.
Die Baisse beschränkt sich auf den Technologiebereich, also im Wesentlichen auf den Nasdaq und den Neuen Markt. Dort war die Börsenblase 1999/2000 ja auch das Extremste, was ich in meiner dreissigjährigen Karriere als Fondsmanager gesehen habe. Bei diesem Crash wurden allein beim Nasdaq von der Spitze im März 2000 bis zum Tief ein Jahr danach an die fünf Billionen Dollar oder mehr als zehn Billionen D-Mark vernichtet. Das entspricht 150 Prozent des gesamten Geldvermögens der deutschen Bevölkerung. Es ist natürlich klar, dass die US-Notenbank diesen Schock nicht einfach mit ein paar Zinssenkungen vom Tisch wischen kann.

Und Sie glauben trotzdem nicht, dass die USA in eine Rezession abgleiten werden?
Heute ist die US-Wirtschaft zwar höher verschuldet, aber insgesamt ist sie gesünder als 1987. Amerika steht also nicht am Abgrund. Die Rezession findet in den Köpfen einiger Volkswirte statt. Die Stimmung ist schlecht, weil es speziell Wall Street schlecht geht, und nicht, weil es der US-Wirtschaft allgemein schlecht geht. Der Durchschnittsamerikaner konsumiert weiter, denn Main-Street-Amerika geht es ganz gut.

Viele Firmen melden aber deutlich tiefere Umsätze und Gewinne und entlassen Tausende von Leuten.
Das trifft aber vor allem auf die Technologiefirmen zu. Hier gibt es eine klare Rezession. Das ist aber nichts Aussergewöhnliches, denn wegen des Millenniumwechsels wurden Investitionen, die sich normalerweise auf vier bis fünf Jahre verteilt hätten, vorgezogen. Jetzt gibt es hier halt eine Durststrecke. Doch die Old Economy, die etwa 80 Prozent der Wirtschaft ausmacht, ist nicht dabei abzusaufen. Und vergessen Sie nicht: Die drastischen Zinssenkungen sind doch ein Geschenk des Himmels! Ein Bankkredit zu sieben Prozent lässt sich doch bedeutend leichter amortisieren als einer zu elf Prozent. Da überlegt sich doch so manch ein Manager, ob er jetzt nicht doch investieren soll.

Ausser Ihnen scheint das aber noch niemand gemerkt zu haben.
Wenn Sie täglich den Kursen nachrennen müssen, können Sie sich dem Herdentrieb nicht entziehen. Geht der Markt rauf, müssen Sie rein. Geht er runter, müssen Sie raus, selbst wenn Sie dabei Verluste erleiden. Genau so, wie man in der Hausse übertrieben hat, übertreibt man jetzt in der Baisse. Alle sind hysterisch. Jetzt merken viele Analysten, dass sie sich unsterblich blamiert haben, weil sie den Technologiesektor zu einer Wachstumsbranche erklärten, obschon IT ja eigentlich immer dem klassischen Schweinezyklus ausgesetzt war, also ein zyklisches Geschäft war, bei dem man Wachstumsraten nicht auf Jahrzehnte hinaus extrapolieren kann. Jetzt sind sie natürlich zermürbt und suchen nach einem Sündenbock.

Und der heisst Rezession? Das klingt billig.
Ist es auch. Aber so ist halt der Mensch. Wenn er Verluste macht, ist das nicht allein seine Schuld. Er muss sich reinwaschen oder rausreden, sonst geht er mental zu Grunde. Nur ein Beispiel unter vielen: Ein hoch bezahlter amerikanischer Manager hat während der Hausse seinen Marketingjob an den Nagel gehängt, um Daytrader zu werden. Nach anfänglichen Gewinnen hat er schliesslich nicht nur sein ganzes Geld verloren, sondern auch noch Schulden gemacht. Jetzt verklagt er das Daytrading-Center auf Schadenersatz. Er behauptet, man hätte ihn nicht genügend über die Risiken aufgeklärt. Das Gleiche läuft bei den Banken und den Managern. Sie haben ihren Kunden und Aktionären das Blaue vom Himmel versprochen und können es jetzt nicht einlösen. Daran sind jetzt eben nicht sie schuld, sondern es muss die Rezession schuld sein.

Und Ihre Kunden, sind die auch sauer?
Wir haben die Internetorgie nie mitgemacht. Am Anfang war das hart, aber im Rückblick bin ich froh darüber.

Optimal wäre es doch gewesen, Sie hätten mitgemacht und wären rechtzeitig ausgestiegen.
Sicher. Aber den richtigen Zeitpunkt erwischen Sie leider nie. Viele konservative Fondsmanager, die dem überschäumenden Treiben an der Nasdaq lange Zeit nur kopfschüttelnd zusahen, sind dann am Schluss aus lauter Verzweiflung doch noch eingestiegen – und haben Geld verloren.

Ein gescheiterter Internet-Yuppie hat kürzlich in einer deutschen Zeitschrift behauptet, US-Notenbankchef Alan Greenspan sei Schuld am Crash.
Ach was. Das Ganze war doch zu einem guten Teil Manipulation. Die Analysten haben hübsche Storys geschrieben, und die Manager haben getrickst, wo sie nur konnten. Zuerst haben sie ihre eigenen Aktien mit geborgtem Geld zurückgekauft und damit künstlich den Gewinn je Aktie nach oben geschraubt. Alles im Namen des Shareholder-Value. Dann haben sie ihre Angestellten mit Optionen bezahlt, die sie nicht als Personalaufwand verbuchten. Einige Firmen wie Lucent oder Motorola haben ihren Firmenkunden sogar das Geld für die Aufträge vorgeschossen. Die haben quasi Bank gespielt. So was geht natürlich nicht lange gut. Diese Firmen sind jetzt doppelt gestraft. Einerseits kommen wegen des Investitionsstopps keine neuen Aufträge mehr rein, andererseits bleiben jetzt auch die Zahlungen für bereits geleistete Lieferungen aus, weil viele Kunden – meist Internet-Start-ups – ihre Schulden nicht bezahlen können. Es wundert mich nicht, dass bei den Hightechfirmen jetzt Umsätze und Gewinne massiv eingebrochen sind.

Jetzt pumpt die US-Notenbank jede Woche Abermilliarden von Dollars in den Geldkreislauf, und trotzdem ist der Nasdaq kürzlich wieder unter die 2000er-Marke gefallen. Warum nützt es nichts?
Greenspan kann den Markt nur stützen, er kann aber keine Massenpsychosen kurieren. Das ist ein bisschen wie mit einer Grippe. Sie können Medikamente nehmen und damit den Verlauf mildern und abkürzen, aber im Endeffekt müssen Sie sie ausschwitzen.

Aber Wall Street kann sich ja immer noch glücklich schätzen. Wenn es brenzlig wird, kommt die Notenbank und überschüttet sie mit Geld.
Nein, eben nicht. Greenspan hat die Märkte voll ins Verderben rennen lassen. Erst als der Nasdaq schon um mehr als die Hälfte abgestürzt war, hat er Anfang 2001 mit Zinssenkungen eingegriffen.

Aber dann hat er aggressiv gehandelt. Hat er zu lange gewartet?
Sein erstes Anliegen ist es, die Inflation unter Kontrolle zu halten. Und dann muss er auf die Stabilität des Banken- und Finanzsystems achten. Selbstverständlich gibt es in der Industrie einige Probleme. Die Verschuldung ist extrem hoch, einzelne Unternehmen können Pleite gehen und Banken in Mitleidenschaft ziehen. Darum ist Greenspan ja so aggressiv. Er will das Finanzsystem schützen. Doch die Zocker hat er bluten lassen.

Sie würden jetzt also weder Bank- noch Technologieaktien kaufen?
Bei Bankaktien bin ich immer skeptisch. Wenn Firmen und Länder in Zahlungsschwierigkeiten geraten, bleibt immer etwas bei den Banken hängen. Für Technologieaktien bin ich optimistisch. Aber nur für die Marktführer. Qualität ist jetzt extrem wichtig.

Sind Ihnen eine Intel mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 25 oder eine Nokia mit 30 nicht zu teuer?
Diese Bewertungen liegen sicher am oberen Rand. Diese Firmen müssten ihren Gewinn im nächsten Jahr um 25 bis 30 Prozent steigern, um diesen Preis zu rechtfertigen.

Sie sind skeptisch?
Ich operiere nach dem Prinzip attraktiv und preiswert. Attraktiv sind diese Firmen allemal. Aber preiswert? Die Technologiebranche steckt jetzt in einer Rezession.

Wie lange wird sie dauern?
Das ist nicht vorauszusagen. Sicher ist, dass diese IT-Rezession vorübergehen wird. Seien wir ehrlich. Diese Branche hatte es seit jeher in der Hand, uns in Kaufzwang zu versetzen. Sie beschleunigt den Fortschritt einfach so, dass wir wieder unsere Computer aufrüsten müssen. Das neue Office-Programm von Microsoft, das mehr Speicherplatz benötigt, oder die Übertragungstechnik UMTS, für die man neue Mobiltelefone braucht, könnten schon bald einen solchen Kaufzwang auslösen.

Was schaut da für die Internetaktien raus?
Ich glaube an das Internet, es ist die Wachstumsbranche der Zukunft. Die Frage ist nur, wer damit langfristig Geld verdienen wird. Der Aktionär sicher nicht.

Das klingt ganz schön hart.
Ist es auch. Schauen Sie zurück. Was hat der Automobilboom Anfang des 20. Jahrhunderts dem Aktionär langfristig gebracht? Nicht viel. Am Höhepunkt gab es in den USA über 2000 Automobilbauer, die alle bis auf zwei entweder aufgekauft wurden oder Pleite gingen. Das Gleiche geschah mit den Eisenbahnen. Wer hat damals wirklich Geld verdient? Doch nur die Stahlhersteller, die Waggon- und Gleisbauer. Bei den heutigen neuen Entwicklungen verdienen die Betreiber und Aktionäre nur in der ersten, heissen Phase. Ist diese Welle einmal vorbei, und das ist sie, machen nur noch die Ausrüster Geld, allerdings auch nicht mehr so viel wie in der ersten Phase. Die Abnehmer, also wir Konsumenten, profitieren hingegen in jeder Phase. Wir können die neuen Technologien nutzen.

Europas Börsen setzen auf ihre neuen Märkte. Würden Sie hier investieren?
Um Gottes willen! Viele junge Unternehmen an diesen Märkten sind für mich nicht vertrauenswürdig. Es wird weitere Pleiten geben.

Was stört Sie am Frankfurter Neuen Markt?
Selbst die grösste Wachstumsbörse Europas ist mir zu wenig transparent. Es wimmelt von illiquiden Aktien, die von gewissen Fondsmanagern manipuliert wurden. Es gibt einige Perlen, aber auch viel Schrott. Dann ist auch nie ersichtlich, wie diese Firmen zu ihren Emissionsbanken stehen. Anders als in den USA sind diese Banken in Europa ja zugleich Kreditgeber. Wenn es denen zu brenzlig wird, stossen sie diese Firmen ganz einfach über die Börse ab. Das Resultat kann man jetzt ja am Nemax ablesen.

Haben die Aufsichtsbehörden geschlampt?
Es gibt in Deutschland keine Behörde, die diesen Namen verdient. Wir bräuchten dringend eine Börsenaufsicht nach dem Muster der amerikanischen SEC. Am Humankapital würde es uns ja nicht mangeln. Als die SEC in den Dreissigerjahren gegründet wurde, ernannte man Joseph Kennedy, den Vater des späteren US-Präsidenten, zu deren Chef. Er war eine gute Wahl, denn er war ein gewiefter Manager, der sämtliche Tricks kannte, weil er sie vorher selbst praktiziert hatte. Ich könnte Ihnen jetzt mindestens zehn deutsche Kandidaten aufzählen, die nach diesen Kriterien für den Job eines Aufsichtschefs in Frage kämen.

Wie wird es an den Börsen weitergehen?
Wir befinden uns in einer Phase der Bodenbildung. Ich rechne damit, dass sich die Börsen so bis in den Spätsommer hinein unter Schwankungen tendenziell nach oben hangeln. Die gute Nachricht, davon bin ich überzeugt, ist die, dass es keine Baisse geben wird.

Und die schlechte?
Die leichten Börsengewinne sind passé. In Zukunft macht nur Gewinne, wer die richtigen Aktien auswählen kann.
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