Herr Boll, die Kunstmärkte geben uns stets auch Hinweise auf die Stimmung in der Wirtschaft. Was sehen Sie da momentan?
Dirk Boll: Wir haben die ersten wichtigen Abendauktionen sowie zahlreiche Tagesauktionen in diesem Jahr gehabt, und da zeigte sich: Der Markt hat ein grosses Volumen. Aber er ist auch selektiv und qualitätsbewusst.
Heisst das: Die Kunstkäufer werden vorsichtiger?
Ich würde eher sagen: Sie kennen sich immer besser aus.
Man hört zunehmend, dass neue Käuferschichten aus Asien die Preise auf immer höhere Niveaus treiben. Trifft das zu?
Das ist schwierig zu beantworten, jede Auktion ist nur eine Schlaglichtaufnahme. In den letzten Jahren hat sich das Interesse immer noch relativ gleichförmig verteilt auf Asien, Amerika und den Rest der Welt.
Spielt der Kunstmarkt insgesamt verrückt, wie manche sagen? Wie erklärt man es, wenn etwa ein Bild von Banksy für 1,3 Millionen Franken weggeht, das dann in Schnipsel geschreddert wird?
Man bezahlt das ja freiwillig. Im Banksy-Fall wurde das Werk von der Form, in der es versteigert wurde, nach der Auktion zerstört. Die Käuferin hätte also vom Kauf zurücktreten können. Sie musste sich neu dazu bekennen, und das hat sie getan. Offenbar fand sie den Vorgang so interessant, dass sie auch das neue Werk haben wollte.
Bleibt Christie’s in London?
Definitiv, natürlich. London ist Hauptsitz seit 1766.
Immerhin planten oder vollzogen Hunderte Unternehmen wegen der Brexit-Querelen einen Wegzug.
London ist seit über 250 Jahren in Europa der attraktivste Marktplatz für Kunst. Schon viele Staaten wollten etwas daran ändern, indem sie ihre eigenen Rahmenbedingungen verbesserten. Es gelang nie. Der einzige denkbare Konkurrent wäre Paris, aber da sind die Rahmenbedingungen in London doch nach wie vor besser.
Was macht es aus?
Das sind Fragen wie: Was müssen Sie bezahlen, wenn Sie Kunst ins Land bringen? Wie ist das Netzwerk an Kunstmarktteilnehmern – bis hin zu den Galerien und Rahmenbauern? Wie ist der Durchlauf von Kunstinteressierten?
Dann ist der Brexit also kein Problem in Ihrer Branche?
Die Kunstindustrie wird durch eine starke Interessenvertretung in der Lage sein, für London noch attraktivere Rahmenbedingungen zu erreichen. Nur schon, dass man überlegt, die Einfuhr-Umsatzsteuer für Kunst abzuschaffen, zeigt, dass die Kunstbranche ein Spezialfall ist, wo der Brexit ein Vorteil sein kann. Die Umsatzsteuer wurde einst nur auf Drängen der EU eingeführt, am letzten Tag der Frist. Die europäische Nivellierung hat dem Kunstmarkt in London nicht unbedingt geholfen.
«London ist seit über 250 Jahren in Europa der attraktivste Marktplatz für Kunst. Schon viele Staaten wollten etwas daran ändern. Es gelang nie.»
Dirk Boll über Londons Rolle als Kunstzentrum – vor und nach dem Brexit.
Kann man Auktionatoren eigentlich professionelle Preistreiber nennen?
«Preistreiber» hört sich sehr aktiv an. Ein Auktionator ist ein Katalysator: Er bringt eine Nachfrage zum Vorschein und er hilft, dass diese Nachfrage bis zum letzten Quäntchen zutage gebracht wird. Insofern ist er vielleicht ein Zuspitzer.
Aber der Auktionator kann viel dazu beitragen, dass eifrig geboten wird? Oder ist das meiste sowieso vorbestimmt – durch die Kataloge, durch das Angebot, durch das Setting …
Vieles ist vorbestimmt. Man weiss natürlich vorher, ob ein Objekt attraktiv ist oder ob es einen Nachfrageüberhang gibt, der sich dann in der Auktion entladen kann. Aber ein guter Auktionator hat die Gabe, das Publikum zu verführen.
Sie wissen also schon im Vorfeld recht genau, was gut ankommt und was durchfallen könnte.
Die Vorabschätzung reflektiert, wie die Experten die Nachfrage nach einem Objekt wahrnehmen. Aber es bleibt natürlich ein Spielraum. Hier will man einen Spannungsbogen gestalten, zum Beispiel durch die Abfolge der aufgerufenen Objekte.
Ein berühmter Auktionator hat einmal gesagt, er sehe, wie stark das Verlangen eines Menschen nach einem Objekt sei: «Ich spüre geradezu, wann ich warten kann, weil ein weiteres Gebot kommen wird.» Kennen Sie das auch?
Unser Chefauktionator Jussi Pylkkänen sagt Ähnliches: Er kommt in den Raum und spürt, wie die Auktion im Grossen und Ganzen verlaufen wird. Manchmal ist die Spannung zum Beispiel gross, aber es herrscht eine beobachtende Zurückhaltung vor. Oder die Aufregung ist gross, weil viele unruhig sind, ob sie ein Kunstwerk bekommen. Das ist konstruktiver.
Name: Dirk Boll
Funktion: Präsident Christie’s EMERI (Europe, Middle East, Russia, India)
Ausbildung: Studium der Rechtswissenschaften, Weiterbildung in Kulturmanagement, Promotion über Rahmenbedingungen der Kunstmärkte
Karriere: 1998 bis 2000: Mitarbeiter bei Christie’s in London. 2000 bis 2004: Repräsentant von Christie’s in Stuttgart. 2004 bis 2011: Geschäftsführer von Christie’s Schweiz. 2011 bis 2017: Managing Director für Kontinentaleuropa Seit 2017: Präsident von Christie’s EMERI.
Bieten ist auch ein Machtkampf, richtig?
Es ist sehr kompetitiv, ja.
Das heisst: Der Ablauf führt auch dazu, dass man sich am Ende an den Kopf fasst und sich fragt: «Was habe ich denn da bezahlt?»
Der berühmte «winner’s curse», der Fluch des Siegers. Den kennen alle, die schon auf Auktionen mitgeboten haben. Mir ist es selber kürzlich wieder passiert – als der Hammer fiel, bekam ich einen Schreck: «Ach du meine Güte!» Aber heute bin ich froh, dass es so kam.
Und wenn das dem Käufer passiert, dann war der Auktionator gut?
Ja. Der Auktionator will aber nicht überreden. Er will nur die Menschen an die Grenzen bringen.
Auktionatoren reden auch gar nicht so viel.
Nein, denn sie sind keine Verkäufer. Sie preisen die Objekte nicht an.
Ist es besser, auf einer Auktion Tempo zu machen? Oder gewährt der Auktionator besser viel Bedenkzeit?
Das ist sehr individuell. Der gute Auktionator erkennt, ob jemand auf Zeitdruck reagiert und ob jemand noch einen Moment braucht.
Sie selber sind zugleich Sammler und Verkäufer. Was ist für Sie ein guter Preis?
Der höchste, der in diesem bestimmten Moment zu erzielen ist. Oder den ich bereit bin, für ein Objekt zu bezahlen.
Von Warren Buffett gibt es den Spruch: «Der Preis ist das, was du bezahlst. Der Wert ist das, was du kriegst»…
… und Oscar Wilde sagte schon 1892: «Heute kennen die Menschen den Preis von allem und den Wert von nichts.»
«Die Menschen möchten Kunst, die in Relation zu ihrem eigenen Leben steht. Sie wollen die Welt, in der sie leben, reflektiert sehen.»
Dirk Boll über die Verlagerung des Markt-Interesses auf Nachkriegskunst.
Bei den Unternehmen, in die Warren Buffett investiert, berechnet man den Wert aus künftigen Erträgen. Aber was ist bei der Kunst? Spiegelt der Preis einfach eine sehr aktuelle Wertschätzung?
Das ist richtig, ein Auktionspreis ist eine Momentaufnahme. Der Wert hat nur Geltung für diesen Moment, diese Umstände, diese Situation. Schon eine Woche später kann es anders aussehen.
Sie waren dabei bei der Versteigerung von Leonardo da Vincis «Salvator Mundi», dem teuersten Kunstwerk aller Zeiten. Ihr stärkster Eindruck?
Das war eine interessante Übung, weil man dieses Bild ganz klar als Trophäenwerk markiert hat, indem man es aus dem Kontext der Altmeister-Auktionen herausnahm. Es stand für sich. Solch eine Auktion hat natürlich eine ganz besondere Öffentlichkeit. Dennoch war das endlose Bietgefecht dann sehr, sehr erstaunlich. Niemand hatte mit diesem Preis gerechnet, auch nicht mit dieser Nachfragetiefe.
Es gab also viele ernsthafte Interessenten bis in oberste Höhen.
Ja. Manchmal erreicht eine Versteigerung einen hohen Preis, obwohl es nur zwei Bieter gibt. Beim «Salvator Mundi» hatten wir selbst bei hohen dreistelligen Millionenbeträgen noch viele Bieter.
Auktionator Jussi Pylkkänen machte dennoch ein Gesicht, als ob solche Beträge das Normalste der Welt wären.
Absolut. Das muss er so machen. In dem Moment, in dem er Erstaunen signalisiert, zeigt er ja den Bietern, dass sie etwas Ungewöhnliches und Unerwartetes tun. Das will man natürlich nicht.
Und weshalb geben sich Auktionatoren am Ende auch nie euphorisch – selbst wenn wieder mal ein neuer Preisrekord gefallen ist?
Der Auktionator will dem Bieter ja nicht das Gefühl geben, er habe etwas Ausserordentliches gemacht. Zudem folgen danach noch weitere Lose, die man verkaufen muss; da sollte man nicht Emotionen kreieren für ein Objekt, das gerade verkauft wurde.
Am Ende wechselte der»Leonardo da Vinci» für insgesamt 450,3 Millionen Dollar die Hand. Wird dieser Rekord lange halten? Ist es ein Rekord für die Ewigkeit?
Das nicht, da wird schon die Inflation dafür sorgen. Ein altgedienter Kollege bei uns erzählt gern, wie er dabei war, als die «Sonnenblumen» von Vincent van Gogh fast 25 Millionen Pfund einbrachten. Erstmals erzielte ein Bild, das kein Altmeister war, den Weltrekord. «Keiner im Saal konnte sich vorstellen, dass jemals ein Kunstwerk wieder so einen hohen Preis erzielen würde», erzählt der Kollege. Aber das war erst 1987. Die nächsten Generationen werden also wohl noch ganz andere Preise erleben.
Aber momentan gibt es Blasen im Kunstmarkt, richtig?
Blasen haben die Eigenschaft, dass man sie vor allem hinterher identifiziert, darum kann ich das schlicht nicht beantworten. Aber wie gesagt: Bei Kunst kann man den Wert und den Preis als dasselbe ansehen. Ich habe selber in den letzten 15 Jahren erlebt, wie die Nachfrageseite exponentiell gewachsen ist. Ich denke, dass ein gewisser Teil der Preissteigerungen seit der Finanzkrise dieser grösseren Nachfrage geschuldet ist. Wie viel man dann drauflegen muss als «Blase», wie Sie das nennen, kann ich nicht ermessen.
Weshalb stieg zuletzt vor allem das Interesse an der Nachkriegskunst?
Die Menschen möchten Kunst, die in Relation zu ihrem eigenen Leben steht. Sie wollen die Welt, in der sie leben, reflektiert sehen. Sie haben weniger Zugang zu altgedienten Objekten. Das religiöse Wissen sinkt, anderseits hat man ein globales Selbstverständnis. Hinzu kommen bei alten Werken Zustandsprobleme und Zuschreibungsfragen – die Menschen wollen jedoch Sicherheit. Das findet sich auch andernorts, etwa in der Luxusindustrie. Auch dort spitzt sich das Interesse auf einige wenige Objektkategorien, Hersteller oder Marken zu.
Welchen Rat geben Sie jemandem, der auf Ebay eine Uhr oder ein Fahrrad ersteigern will?
Dort haben wir natürlich eine ganz andere Situation: Sie ist weniger emotional, es geht um eine rein zeitliche Zuspitzung. Deshalb muss man das Angebot eigentlich nur am Ende des Zeitrahmens anschauen. Bei Ebay kann man also nur raten: Bleiben Sie dran.
Und was können Sie einem Sammler vor einer Auktion sonst raten?
Ich stelle zwei verschiedene Bietverhalten fest. Die einen halten sich sehr lange zurück. Sie warten ab, bis das Feuerwerk abgebrannt ist und überlegen sich dann, ob sie noch einsteigen wollen. Häufig sind dies Menschen, die sich vor einem zu starken Engagement bewahren wollen. Sie setzen sich selber oft eine Obergrenze und bieten über dieser Grenze auch nicht mehr. Ein sehr rational geprägtes Modell.
«Auktionen machen Nachfrage sichtbar, und zwar unmittelbar und schnell. Und auch sehr hart.»
Dirk Boll über die Rolle von Auktionen im Kunstgeschäft.
Und das zweite Modell?
Das ist jemand, der sehr gut einschätzen kann, was ein Objekt wert ist – allgemein, aber auch persönlich. Solche Menschen steigen früh ein und bieten sehr aggressiv, in der Hoffnung, zögerlichere Interessenten abzuschrecken. Es geschieht ja manchmal, dass jemand im Saal sitzt und plötzlich fünf Bietschritte in den Raum ruft. Beim «Salvator Mundi» hatten wir ein gutes Beispiel dafür: Der letzte Gebotsschritt war plötzlich um 30 Millionen auf 400 Millionen Dollar. Da signalisierte jemand: «Ich zeig euch, dass ich es kann.» Das war ja auch erfolgreich.
In den letzten Jahren gab es mehr und mehr anonyme Telefonbieter – und damit auch Auktionen mit halbvollen Sälen, aber vollen Telefonleitungen. Wie wirkt sich das aus?
Das Problem ist dabei sicher, dass der Auktionator nicht direkt mit dem Bieter interagiert. Aber die Telefongebote waren eher ein Thema der 1990er und frühen 2000er Jahre. Heute wächst das Internetgeschäft am schnellsten; bei Christie’s bringt es etwa einen Drittel der Neukunden. Die Interessenten sitzen also vor dem Bildschirm und sehen den Auktionator – dieser wiederum sieht, wer von wo wie viel bietet. Die Verbindung besteht also wieder.
Wie bestimmt man den Schätzpreis, der vorher für ein Objekt in den Katalog geschrieben wird? Sollte er eher zu tief sein – oder eher zu wagemutig?
Im Schätzpreis gibt es zwei rationale Aspekte: Erstens die historischen Preise für Vergleichswerke. Zweitens das Wissen um die aktuelle Nachfrage. Da wird zum Beispiel ein Picasso angeboten – und das Team des Auktionshauses kennt zehn Sammler, die solch ein Bild suchen. Auf der Verkäuferseite wiederum gibt es unterschiedliche Interessen. Die einen trennen sich vom Objekt nur für einen sehr guten Preis: Sie wünschen einen hohen Schätzpreis. Anderseits gibt es auch Nachlässe, wo der Verwalter sagt: Dass sich das Objekt überhaupt verkauft, ist beinahe so wichtig wie die Erlösmaximierung. In diesem Fall wird man es wohl eher konservativ ausschreiben.
Und wie wirken sich die beiden Haltungen im Saal aus?
Der vorsichtige Preis löst mehr Gebote aus. Dies wiederum schafft häufig eine Stimmung, die den Preis insgesamt höher steigen lässt, als wenn man schon sehr hoch anfängt. Denn da kann es sein, dass viele Bieter sagen: «Interessant, aber ist mir zu teuer.»
Der Kunstmarkt ist sehr diskret – ausser bei Auktionen: Da werden die Preise plötzlich sehr öffentlich. Was bewirkt dieser Bruch?
Ich schätze, dass etwa 80 Prozent aller neuen Rekorde auf Auktionen erzielt werden. Die spezielle emotionale Situation, welche die Preise treibt, lässt sich dort eher herstellen als im Privathandel. Die Öffentlichkeit von Auktionspreisen bedeutet zudem, dass artverwandte Objekte im Nachhinein höher eingepreist werden.
Auktionen sind also ein Motor des Kunsthandels?
Motor? Nein, eher Sichtbarmacher. Es wirkt auch umgekehrt: Wenn ein Sammelgebiet aus der Mode kommt, wird dies zuerst wahrnehmbar auf der Auktion; später sieht man dann, dass solche Objekte von Messen oder aus Ausstellungskatalogen verschwinden. Auktionen machen Nachfrage sichtbar, und zwar unmittelbar und schnell. Und auch sehr hart.
Weshalb machen Auktionshäuser zunehmend Privatverkäufe?
Sie haben gelernt, ihre Informationen auch ausserhalb der Auktion kommerziell zu nutzen. Wer zum Beispiel eine Warhol-Grafik mit Marilyn Monroe verauktioniert und dort fünf Bieter hat, der kennt am Ende noch mindestens vier Menschen, die so etwas wollen und bereit sind, bis zu einem bestimmten Wert zu gehen. Wenn Sie dann etwas Vergleichbares kennen, öffnet sich manchmal die Tür für einen direkten Verkauf.