Für viele Konsumenten und Konsumentinnen sind Bestellungen im Internet mittlerweile so selbstverständlich wie der Gang zum nächsten Einkaufszentrum. Trotz dem enormen Wachstum der letzten Jahre ist der Markt noch nicht gesättigt. Besonders die Logistikbranche dürfte weiter profitieren und bietet eine interessante Chance für längerfristige Investoren.
Als ein junger Mann namens Phil Brandenberger aus Philadelphia im August 1994 eine CD des britischen Musikers Sting online bestellte und diese anschliessend mittels Kreditkarte bezahlte, ahnte er nicht, dass er soeben die erste E-Commerce-Transaktion durchgeführt hatte. Die Welt des Einzelhandels hat sich seither massiv verändert. Mehr als 20 Prozent der Umsätze werden heutzutage online erzielt.
Die Durchdringung des Online-Handels variiert dabei stark zwischen den einzelnen Produktgruppen. Lebensmittel und Getränke werden weiterhin vorwiegend in lokalen Geschäften gekauft, während in Marktsegmenten wie «Outdoor & Sport» oder «Elektronik» mehr als jeder dritte Dollar bereits online erwirtschaftet wird. Beim Bücherverkauf, dem ursprünglichen Geschäftsfeld von Amazon, werden in den USA bereits über 70 Prozent des Verkaufsvolumens online abgewickelt.
Auch in der Schweiz ist der Internethandel eine wachsende Kraft, wie die Schliessung der Jelmoli- und Manor-Kaufhäuser an der Zürcher Bahnhofstrasse eindrücklich verdeutlicht. Der unaufhaltsame Konkurrenzdruck aus dem Internet belastet die Margen und sorgt für tiefere Gewinne im traditionellen Geschäft.
Angesichts des rasanten Aufstiegs des Online-Handels in den letzten Jahrzehnten erscheint eine baldige Abkühlung unausweichlich – doch der Schein trügt: Ein Vergleich mit Asien zeigt, dass der Internethandel in den USA und Europa sein volles Potenzial noch lange nicht erreicht hat.
Westliche Industrienationen holen auf
Gemäss dem Marktforschungsunternehmen E-Marketer überschritt der Umsatz des E-Commerce im Jahr 2022 erstmals die 5-Billionen-Dollar-Marke und soll bis im Jahr 2025 auf rund 7,3 Billionen Dollar steigen. E-Commerce ist besonders in asiatischen Ländern stark verbreitet. So entfallen in Südkorea bereits rund 37 Prozent des Einzelhandelsumsatzes auf Internetbestellungen.
Über den Autor
Rolf Kuster ist Senior Research Analyst bei der Schwyzer Kantonalbank.
Anders verhält es sich in den USA und besonders in Europa. Hierzulande ist der Internethandel weiter unterrepräsentiert. Gemäss den Prognosen wird sich dieser Unterschied in den nächsten Jahren durch überdurchschnittliches Wachstum in den westlichen Industriestaaten ausgleichen.
Neue Wachstumstreiber entstehen
Technologischer Fortschritt war schon immer einer der wichtigen Treiber des Online-Handels. Erst durch die weite Verbreitung des Internets wurde diese Art des Einkaufens überhaupt für die Masse zugänglich. Dieser Prozess ist in den meisten Ländern inzwischen weitgehend abgeschlossen.
Nun sollen neue technische Möglichkeiten das Einkaufserlebnis verbessern und vereinfachen. So sollen beispielsweise Produktvisualisierungen im virtuellen Raum helfen, Produkte vorgängig auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Virtuelle Verkaufsberater mit künstlicher Intelligenz ersetzen teilweise die persönliche Beratung und vereinfachen nebenbei den Kundenservice.
Letztlich sind Bestellungen über das Internet aber schlicht und einfach bequemer, weniger zeitintensiv und stressfreier. Gesellschaftliche Trends wie die voranschreitende Urbanisierung oder auch das stärkere digitale Verständnis verstärken den Wandel. Einerseits werden Menschen, die im digitalen Zeitalter aufwachsen, immer zahlungskräftiger, während auf der anderen Seite die Anzahl der Personen ohne Interneterfahrung stetig abnimmt.
Gut orchestrierte und gehypte Verkaufsveranstaltungen wie Black Friday oder Cyber Monday treffen den Zeitgeist und bieten Gelegenheit, zusätzliche Nutzerinnen und Nutzer auf die Plattformen zu lotsen, den Umsatz zu bündeln und gleichzeitig den Warenbestand zu optimieren.
E-Commerce beflügelt Logistikbranche
Der Internethandel ist hart umkämpft, bietet aber trotzdem interessante Anknüpfungspunkte für Anlegerinnen und Anleger. Ein spannender Teilbereich ist die Logistik. Eine effiziente Auftragsabwicklung ist für erfolgreiche Internethändler zentral. Kunden werden dabei immer anspruchsvoller: Lagerverfügbarkeit in Echtzeit, Sendungsverfolgung oder verschiedene Zustellungsoptionen gehören bei den meisten Online-Geschäften mittlerweile zum Standard.
Neuere Konzepte wie die Zustellung am Bestelltag oder am Abend erfreuen sich einer steigenden Nachfrage. Die schnelle Zustellung wird durch zunehmende Lebensmittelbestellungen weiter an Bedeutung gewinnen und in vielen Produktkategorien zu einem der wichtigsten Alleinstellungsmerkmale werden.
Rücksendungen auf dem Vormarsch
Versand und Zustellung sind jedoch nur eine Seite der Medaille. Durch die hohe Anzahl von Retouren mit Reparaturen oder von Entsorgungen müssen Logistikprozesse zusehends auch rückwärts einwandfrei funktionieren. Umfassende Prozessautomatisierung mit hochmodernen Lagersystemen und «intelligente» Softwarelösungen sind nötig, um die künftige Paketflut verarbeiten zu können.
Schätzungen gehen davon aus, dass der Logistikmarkt in den grossen E-Commerce-Regionen um 10 bis 15 Prozent pro Jahr wachsen wird. In der Schweiz rechnet das Marktforschungsinstitut «Ti» gar mit einem jährlichen Wachstum von 18,4 Prozent bis 2026.
Als grösster Profiteur des E-Commerce-Booms in der Schweiz profitiert vor allem Interroll von den Investitionen der Internethändler in der Logistik. Das Unternehmen bietet Komponenten für automatisierte Lagersysteme an, zum Beispiel Förderrollen und Antriebe. Zu den Endkunden zählen unter anderem Amazon, Zalando und UPS. Interroll dürfte in den nächsten Jahren überdurchschnittlich wachsen und weist eine solide Bilanz auf. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis für 2023 beträgt 30.
Ferner sind auch weitere Unternehmen bei der Logistik für E-Commerce vertreten, wenn auch weniger stark als Interroll. Auch Forbo produziert Komponenten für Logistiksysteme, nämlich Förderbänder. Allerdings ist der Anteil dieses Geschäfts am gesamten Unternehmen relativ gering.
Kardex bietet komplette automatisierte Lagersysteme an und beliefert vor allem Kunden aus der verarbeitenden Industrie. Dank dem grösseren Servicegeschäft ist Kardex weniger zyklisch als Interroll. Die Bilanz ist solide, das Kurs-Gewinn-Verhältnis für 2023 beträgt 25.
Kühne + Nagel schliesslich ist einer der weltgrössten Logistikanbieter, wobei die See- und Luftfracht im Vordergrund steht. In der kleineren Sparte Kontraktlogistik bietet Kühne + Nagel aber auch Lösungen für E-Commerce-Unternehmen an.
Vorsicht bei Investitionen in Einzeltitel
Die Wachstumsaussichten für den Internethandel sind gut. Technologische Neuerungen und gesellschaftliche Trends führen dazu, dass der Einzelhandel immer digitaler wird. Gleichzeitig gilt der Markt als fragmentiert und hart umkämpft. Während der Investitionsdruck bei Unternehmen hoch bleibt, verfügen Kunden über immer bessere Preis- und Produktinformationen. Dies kann die Margen einzelner Unternehmen belasten. Für Anlegerinnen und Anleger ist es sinnvoll, eine allfällige Investition auf mehrere Unternehmen aufzuteilen.