Bilanz: Herr Leemann, im Jahr 2003 gingen Sie gleich viermal auf Einkaufstour und übernahmen 120 000 Kleinkunden. Jetzt, da sich das Übernahmekarussell im Bankensektor wieder dreht, stehen Sie an der Seitenlinie. Warum?
Eduardo Leemann: Zukäufe auf diesem Niveau sind zu teuer. Es muss mir zuerst mal jemand erklären, woher dieses enorme implizierte Wachstum kommen sollte, das derartige Preise rechtfertigt, wie wir sie beim Kauf der UBS-Privatbankeneinheit durch Julius Bär oder beim Emissionspreis der EFG Bank gesehen haben.
Wie erklären Sie sich, dass zurzeit so viel für Übernahmen bezahlt wird?
Das ist das klassische Schweizer Private-Banking-Syndrom: Übertreibung. Wenn das Geschäft läuft, dann boomt es richtiggehend, und wenn es schlecht läuft, setzt sofort Katzenjammer ein. Überlegen Sie mal, wie viele Jahre man warten muss, um bei einem Kaufpreis von 5,6 Prozent der verwalteten Vermögen die Gewinnschwelle zu erreichen, wenn man landläufig davon ausgeht, dass die Bruttomarge eines Private-Banking-Kunden bei einem Prozent liegt. Diese Rechnung kann Ihnen meine Tochter lösen. Doch im Endeffekt hoffe ich für die Schweizer Bankenszene, dass so ein Konstrukt wie bei Julius Bär funktioniert. Es kann der ganzen Branche helfen.
Indem die Kunden der Bank Bär zu Ihnen abwandern?
Wir hoffen natürlich, dass wir unzufriedene Kunden übernehmen können, aber das ist ein anderes Thema. Wichtig ist, dass nun das Topmanagement der Bank Bär in der ganzen Welt herumjettet und Swiss Private Banking propagiert. Das ist super Gratiswerbung für die gesamte Branche.
Wie soll die AIG Privat Bank nun weiterwachsen?
Es wäre nicht klug, wenn ich alle meine Karten auf den Tisch legen würde. Aber es gibt alternative Wachstumsmodelle, neben den langweiligen Organic-Growth-Storys, die jeder erzählt, oder teuren Akquisitionen. Im Private-Banking-Bereich ist es entscheidend, hoch qualifizierte Mitarbeiter in den Wachstumsmärkten wie den osteuropäischen Ländern, Asien und Brasilien zu haben. Deshalb haben wir vor wenigen Wochen neben unseren Repräsentanzen in Hongkong, Singapur und São Paulo als erste ausländische Privatbank überhaupt eine weitere in Shanghai eröffnet.
Weshalb bekam gerade die AIG Privat Bank eine Lizenz, um in China tätig zu werden?
Unsere Muttergesellschaft, die American International Group (AIG), ist seit Jahrzehnten im Sachversicherungs- und Lebensversicherungsgeschäft in China tätig und geniesst dort einen hohen Bekanntheitsgrad. Zumal der Konzern im Jahr 1919 in Shanghai gegründet wurde. Dadurch hatten wir Anknüpfungspunkte bei den Regulatoren, und die Gespräche verliefen wesentlich einfacher.
Beinahe täglich liest man von einem weiteren Finanzinstitut, das sich bei einer chinesischen Bank eingekauft hat.
Diesen Konzernen war bislang nur eine Beteiligung in der Höhe von maximal 20 Prozent bei einer chinesischen Bank erlaubt. Und es gilt zu bedenken, dass alle chinesischen Finanzinstitute praktisch reine Kommerzbanken sind und kein Private Banking anbieten. Gut, für eine UBS ist ihre Beteiligung an einer Bank in China natürlich grossartig, denn sie ist dadurch automatisch im chinesischen Investment-Banking und Retailgeschäft dabei. Doch solche Beteiligungen sind auch riskant. Immerhin liest man beinahe täglich von Korruptionsskandalen bei chinesischen Banken.
Wie viele wohlhabende chinesische Kunden sollen in den nächsten Jahren bei der AIG Privat Bank ein Depot eröffnen?
Unsere Repräsentanz darf keine chinesischen Kunden anwerben, ebenso wenig wie Kontos oder Depots eröffnen.
Sie sind aber doch nicht zum Spass vor Ort, oder?
Unsere Mitarbeiter in Shanghai sollen in erster Linie unseren europäischen Kunden Hilfestellung geben, wenn diese nach China expandieren möchten oder auch nur privat dorthin reisen. Zudem sprechen unsere Mitarbeiter vor Ort mit der Presse, den Regulatoren und Politikern. Ausserdem ist Shanghai eine Anlaufstelle, um reiche Chinesen, wenn sie anfragen, an unser Office in Hongkong weiterzuweisen. Das ist uns gestattet.
Reiche Chinesen haben doch längst ein Konto in Hongkong. Da sind Sie doch ein wenig spät?
Es gibt noch genügend, die keines besitzen. Schauen Sie, die meisten Chinesen waren bislang ja nur damit beschäftigt, noch reicher zu werden, als sie es eh schon sind, und konnten sich keine grossen Gedanken über ihre Geldanlagen machen. Durch das hohe Wirtschaftswachstum wurde ein Chinese per se mit jedem Projekt, das er in die Hand nahm, noch reicher. Dieser Reichtum kumuliert sich bei einer noch kleinen Schicht. 2003 gab es in China 800 000 High Networth Individuals. Diese Zahl soll sich bis 2008 verdoppeln.
Die Angst, dass China als neue Grossmacht den westlichen Wohlstand gefährden könnte, geistert immer wieder herum. Fürchten Sie sich davor?
Die Chinesen übertrumpfen uns bereits heute hinsichtlich Ausbildung, Fleiss und Ausdauer. Fast alle Geschäftsleute, die ich bislang kennen lernte, konnten mindestens zwei abgeschlossene Studien vorweisen. Es wird so weit kommen, dass demnächst Studenten nach Peking statt Harvard gehen, um dort ihren MBA abzuschliessen. Das Bildungsministerium hat bereits 1993 ein Programm aufgelegt, bei dem bis 2010 100 Universitäten mit Schwerpunktthemen geschaffen werden. Sie sollen zu den besten der Welt zählen. Als Vorbild hat man sich keine geringere Universität als Harvard ausgesucht. Können Sie sich das vorstellen: 100 Harvards in China? Auch wenn es zuletzt nur 20 bis 30 werden sollten, ist dies beeindruckend.
In Japan kam es während der Neunziger zu einer harten Landung der Wirtschaft. China hat heute viele ähnliche Probleme wie Japan damals. Wird es in China bald zu einer Rezession kommen?
China hat viele Probleme, das ist richtig. International wird der Druck auf die Währung erhöht werden. Die Gewinnmargen werden nicht mehr in diesem Tempo wachsen können wie bisher, denn die Löhne und Produktionskosten steigen. Korruption und die fehlende Corporate Governance sind ein weiteres Problem. Aber es wird in China sicher keine Rezession geben, denn dazu ist die Dynamik zu hoch.
Sie empfehlen also chinesische Aktien?
Nein, dazu ist es zu früh. Erstens, weil ich der Corporate Governance in China nicht traue. Zweitens, weil Börsen wie Shanghai und Shenzhen noch immer einen sehr schlechten Ruf haben. Das wird sich sicher rasch ändern. Firmen wie China Mobile oder der Handyhersteller Ningbo Bird sollte man sich merken. Auch Namen wie Baosteel, einen der effizientesten Stahlhersteller der Welt, Qingdao Brewery, deren Bier Tsingtao bereits in der ganzen Welt ein Begriff ist, oder Lenovo, die kürzlich die gesamte PC-Sparte von IBM gekauft hat und damit zum drittgrössten PC-Hersteller der Welt aufgestiegen ist.
Wie sehen Sie die Entwicklung der Börsen, wo sollte man einsteigen?
Investoren sollten langsam ihre Gewinne realisieren. Amerikanische und europäische Aktien sind fair bewertet, sie haben nicht mehr allzu viel Aufwärtspotenzial. In Japan hingegen sollte man investiert bleiben. Japan ist für mich nach wie vor einer der interessantesten Aktienmärkte. Interessant sind auch alternative Instrumente, die noch immer sehr stiefmütterlich behandelt werden. Ich glaube zwar nicht, dass die Zinsen in nächster Zeit stark steigen werden, dennoch sollte man bei Obligationen konservativ bleiben und nur im kurzfristigen Bereich investieren.
In welche Branchen und Aktien sind Sie selbst investiert?
Da ich keine Zeit habe, mich mit einzelnen Aktien zu befassen, ist mein Geld in gut diversifizierten Fonds angelegt, beispielsweise Hedge-Funds, Immobilien, Private-Equity-Anlagen und Cat-Bonds.
Wie schätzen Sie die Auswirkungen des hohen Ölpreises auf die Wirtschaft ein?
Öl ist nach wie vor billig und kein Thema für mich. Vergleichen Sie mal: Ein Glas Evian im Restaurant ist teurer als ein Glas Benzin.
Da ich kein Benzin trinke, habe ich die zwei Dinge nicht miteinander verglichen.
Wenn man den Ölpreis über die letzten 20 bis 30 Jahre mit der Entwicklung der
Inflation und dem Wachstum des Bruttosozialprodukts der Industrieländer vergleicht, sollte Öl bei über 100 Dollar stehen. Wenn der Ölpreis die Leute wirklich zu schmerzen beginnt, wird man vermehrt auf alternative Energien umsteigen. Wir sind auf jeden Fall weit weg von einer Energiekrise.
Würden Sie noch in Erdöltitel einsteigen?
Ich glaube, heute es ist zu spät, um noch gross einzusteigen.
Sie haben sich ja immer wieder kritisch zur Wirtschaftspolitik in Bern geäussert. Was läuft denn falsch?
Wir haben nur eine Chance im internationalen Wettbewerb, wenn wir den Ausbildungssektor forcieren und mit innovativen Ideen junge Firmen unterstützen. Dazu gehören infrastrukturelle Zugeständnisse. Wenn wir nicht bereit sind, für Firmen attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen, müssen wir uns nicht wundern, dass wir einen Schritt zurück in Richtung Agrarland machen. Wir pflanzen lieber Zuckerrüben, als dass wir eine Biotechfirma ansiedeln, die Arbeitsplätze schafft.
Welchen Beitrag leisten denn Banken, um einen Innovationsschub in der Wirtschaft in Gang zu setzen?
Wir müssten darauf bedacht sein, dass sich mehr fähige Wirtschaftsleute politisch engagieren. Vor 20 Jahren konnte man bei der UBS kaum Karriere machen, wenn man nicht Offizier war. Es hiess, das Entsenden von Mitarbeitern zum Militär sei der Beitrag der Banken an die Schweiz. Wieso können heute nicht Grosskonzerne Mitarbeiter, die sich politisch engagieren, für zwei bis drei Jahre freistellen? In der Politik braucht es Wirtschaftsleute, die ihr Wissen einbringen. Es kann nicht sein, dass in Bern mehr Vertreter aus der Landwirtschaft sitzen als aus der Finanzbranche.
Das heisst übersetzt, Sie wollen mehr Lobbying der Banken in Bern?
Nein, ich will mehr wirtschaftlichen Sachverstand in der Politik. Bankenmitarbeiter müssen zudem nicht unbedingt auf Bundesebene tätig werden, auch in den Kantonen und Gemeinden gibt es viel zu tun. Man könnte doch beispielsweise einem Mitarbeiter erlauben, 20 Prozent seiner Arbeitszeit für einen Gemeinderat tätig zu sein. Er müsste keine Angst haben, dass seine Karriere dadurch kaputtgeht.
Wie fördern Sie Ihre Mitarbeiter, damit sie politisch aktiv sein können?
Zugegeben, persönlich engagiere ich mich zu wenig in der Politik. Immerhin ist meine Frau politisch aktiv, und ich unterstütze jeden Mitarbeiter, der politisch aktiv sein möchte. Aber wir haben auch in anderen Bereichen Vorraussetzungen geschaffen, beispielsweise für Frauen.
Und die wären?
Es ist ja ein Phänomen in der Schweiz, dass derart wenig Frauen Karriere machen. Wir verlieren fünfzig Prozent des Brain-Trusts, weil wir es nicht schaffen, Frauen die Möglichkeit zu bieten, nach der Geburt wieder arbeiten zu gehen. Wir haben keine ausreichende Infrastruktur, zu wenig Tagesschulen, zu wenig Krippen, ganz im Gegensatz zu den USA und China. In unseren Büros in Hongkong sind fünfzig Prozent Frauen. Die Hälfte davon Mütter, die ihre Kinder in Tagesschulen bringen. Es braucht Rahmenbedingungen des Staates. Wenn jemand von rechts aussen kommt und meint, dass Mütter daheim bleiben sollten, weil sie an den Herd gehörten, so soll er zurück ins 19. Jahrhundert.