Pierre Boulez über Unterhaltungsmusik: «Bum, bum, bum ... Auf solche Muster kann jeder reagieren.» |
Pädagoge und Provokateur
Pierre Boulez (77) zählt zu den anerkanntesten Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Nach 1945 avancierte der Franzose zur Galionsfigur der musikalischen Avantgarde. Beim Publikum lösten seine mathematisch durchstrukturierten Werke immer wieder Stürme der Entrüstung aus. Erst mit den Jahren wurden seine Kompositionen etwas zugänglicher. Als Dirigent hatte Pierre Boulez rund um den Globus wichtige Chefposten inne. Im August wird er an den Luzerner Musikfestwochen zu sehen sein. Für 2004 ist an der Musikhochschule Luzern die Errichtung einer «Akademie Pierre Boulez» geplant. BILANZ hat den unkonventionellen Maestro an seinem Wohnort in Baden-Baden getroffen.
BILANZ: Ist es vertretbar, in den Terrorakten vom 11. September – abgesehen vom Leid, das sie über die Betroffenen gebracht haben – auch etwas Befreiendes zu sehen? Gibt es positive Aspekte der Zerstörung?
Pierre Boulez: Ich kann in den Anschlägen vom letzten Herbst kein Signal der Befreiung erblicken. Dahinter verbirgt sich religiöser Fanatismus. Selbst wenn es heute auf der Welt so etwas wie eine Diktatur des Kapitalismus gibt, sehe ich keinen Sinn darin, diese durch eine Diktatur des Fanatismus zu ersetzen.
Der Komponist Karlheinz Stockhausen hat den Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme als «Gesamtkunstwerk» bezeichnet.
Das war ein grosses Missverständnis. Stockhausen hat seine Aussage nachträglich relativiert. Geblieben ist trotzdem nur dieser eine isolierte Satz. Worauf er mit seinem Vergleich hinauswollte, war dies: Wenn wir Komponisten von unserer Aufgabe ebenso besessen wären, wie es die Attentäter vom 11. September waren, dann könnten auch wir wesentlich mehr erreichen. Oder anders formuliert: Wir sind nicht intensiv genug.
Zu Beginn Ihrer Karriere hatten Sie den Ruf eines Radikalen. Als Sie in den Sechzigerjahren in einem Gespräch mit dem «Spiegel» forderten, man solle die Opernhäuser in die Luft sprengen, wurde das von vielen als Aufruf zur Gewalt aufgefasst.
Anscheinend hat niemand besagtes Interview je richtig gelesen. Ich wollte damit nur ausdrücken, dass es im Musikbetrieb meiner Meinung nach viel zu viel Routine gab. Die eleganteste Lösung – so schien es mir damals – wäre die gewesen, sämtliche Häuser in die Luft zu sprengen, um danach wieder ganz von vorne anfangen zu können. Ich sagte dies mit Humor. In der Schlagzeile, die daraus gemacht wurde, ging dieser jedoch völlig unter.
Glauben Sie an die Existenz gesellschaftspolitischer Konstellationen, in denen die Zerstörung der einzig gangbare Weg ist, um Raum zu schaffen für etwas Neues?
Solange die Frage ungeklärt bleibt, was auf das kapitalistische System folgen soll, kann ich beim besten Willen nicht für dessen Zerschlagung plädieren. Trotzdem verstehe ich diejenigen sehr gut, die in Genua oder in Brasilien gegen die Globalisierung auf die Barrikaden gehen. Ihr Kampf ist gerechtfertigt. Es gibt Exzesse in diesem System, und es ist nötig, ein neues Gleichgewicht zu finden. Mit religiösem Fanatismus haben diese Proteste überhaupt nichts zu tun.
Sie haben zeit ihres Lebens den Fortschritt gepredigt. Sind Sie in dieser Beziehung mit den Jahren skeptischer geworden?
Ich bin nicht skeptischer geworden. Ich realisiere nur, dass die Gefahren, etwas Falsches zu tun, grösser geworden sind.
In einer dynamischen, wettbewerbsorientierten Wirtschaft werden bestehende Produktionsmethoden laufend durch neue Technologien und Innovationen in Frage gestellt und verdrängt. Glauben Sie, dass diese Entwicklung an Grenzen stösst?
Eine Zivilisation, die unaufhaltsam vorwärts strebt, sieht sich früher oder später mit dem Problem der Sättigung konfrontiert. Dass die Nachfrage langfristig hinter dem Produktionspotenzial zurückbleibt, scheint mir unvermeidlich. Irgendwann haben die Konsumenten das Konsumieren satt.
Gibt es auch in der Kunst einen Zwang zur schöpferischen Zerstörung?
Im Unterschied zur Wirtschaft zielt die Innovation in der Kunst nicht auf einen Zugewinn an Höhe oder Menge. Die besten Werke von Schönberg sind nicht besser oder reicher als die besten Werke von Bach oder Beethoven. Sie sind einfach anders. In der Kunst geht es nicht permanent aufwärts, sondern man gibt etwas auf, um etwas Neues zu erschaffen.
Auf dem Gebiet moderner E-Musik herrscht ein erheblicher Angebotsüberhang, während die Leute von aktueller U-Musik – und sei diese noch so banal – nie genug zu bekommen scheinen. Stimmen Sie dem zu?
Im Bereich der Unterhaltungsmusik ist es sehr selten, dass ein Produkt oder eine Gruppe mehr als fünf Jahre überlebt, denn es handelt sich dabei mehrheitlich um Konsumware. Bei der so genannten E-Musik ist das anders: Beethoven für immer! Die geringere Nachfrage hat aber auch damit zu tun, dass es auf diesem Gebiet zu wenig Provokation und bei den Hörern zu wenig Neugier gibt.
Welche Rolle spielt hier die Erziehung?
Eine eminent wichtige. Natürlich ist es viel einfacher, Unterhaltungsmusik zu konsumieren. Das Vokabular ist sehr einfach: Bum, bum, bum … Auf solch primitive Muster kann jeder reagieren.
Vom Anspruch, kreatives Schaffen sollte möglichst spontan und unverstellt sein, scheinen Sie nichts zu halten?
Ich halte dies für einen Irrtum. Wer keine Schule besucht hat, kann sich auch nicht ausdrücken. Ohne Erziehung gibt es keine Kommunikation.
Sie mögen damit wohl Recht haben, setzen sich aber dem Vorwurf aus, elitär zu sein.
Man sieht kaum Angehörige der höchsten Gesellschaftsschicht in Konzerten, vor allem nicht in solchen für zeitgenössische Musik. Wenn die Mitglieder der gesellschaftlichen Elite tatsächlich Interesse hätten, würden sie als Mäzene in Erscheinung treten. Keine Spur davon. Finden Sie in unserem Metier einmal einen Mäzen! Im Bereich der bildenden Kunst verhält es sich dagegen völlig anders. Dort wird spekuliert: Man kauft ein Werk für 5000 Dollar und hofft insgeheim, dass es in zehn Jahren eine halbe Million kosten wird.
Sie selbst können sich in Sachen Unter- stützung wenig beklagen. Über Jahre hinweg konnten Sie auf finanziellen Support aus der guten Basler Gesellschaft bauen.
Ja, das stimmt.
Mit dem Resultat, dass sich die meisten Ihrer Originalpartituren heute in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel befinden.
Praktisch alle.
Was hat Paul Sacher an Ihrer Arbeit so sehr interessiert?
Als Berufsmusiker brachte er von vorneherein sehr viel Verständnis auf. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er eine ganze Generation von Komponisten – von Strawinsky bis Honegger – persönlich kennen gelernt. Nach dem Krieg hätte er sich also leicht sagen können: Ich habe meine Ära gehabt. Statt dessen hat sich Paul Sacher aber nie gegen neue Tendenzen verschlossen. Zeitlebens hat er sich für die jüngere Generation interessiert und diese auch tatkräftig unterstützt. Bis zum Schluss ist dieser Mann neugierig und wach geblieben. Da bildet er wirklich eine Ausnahme. Im Unterschied zu ihm wirken in diesem hohen Alter bei vielen Menschen die Hormone nicht mehr (lacht).
Was hat diesen aussergewöhnlichen Menschen sonst noch angetrieben?
Intelligenz und die Erkenntnis, dass alles im Leben transitorischen Charakter hat. Sacher hat tief verinnerlicht, dass alles provisorisch ist und man in erster Linie Sensibilität und Wachheit benötigt, um alle Provisorien nacheinander möglichst intensiv zu durchleben.
In den Sechzigerjahren haben Sie eine Zeit lang in Basel gewirkt. Entsprachen Sie damit einem Wunsch von Sacher?
Von 1960 bis 1963 habe ich in Basel unterrichtet und anschliessend auch noch zwei Meisterkurse für Dirigenten abgehalten. Er hat das damals organisiert.
Als Komponist sind Sie dafür bekannt, dass Sie Ihre Werke in grösseren Abständen immer wieder überarbeiten. Gibt es in diesem Prozess ein Optimum, einen Endpunkt, bei dem Sie sich sagen müssen, wenn ich jetzt noch weiter daran schleife, dann wirkt sich dies womöglich kontraproduktiv aus?
Natürlich. Dieser Prozess ist nicht endlos. Es gibt durchaus Werke von mir, die definitiv abgeschlossen sind. Darunter sind auch Stücke, die ich erst vor relativ kurzer Zeit komponiert habe. Demgegenüber gibt es Sachen, die benötigen mehr Zeit. Ich gebe Ihnen hierfür ein Beispiel: In Luzern werde ich im Herbst ein Stück dirigieren, dessen Urfassung ich 1946 im Alter von 21 Jahren geschrieben habe. 1953/54 habe ich dieses Stück dann erstmals überarbeitet, und die definitive Fassung stammt aus dem Jahr 1986. Vierzig Jahre liegen dazwischen.
Halten Sie die letzte Fassung eines Werks jeweils für gelungener, oder ist sie einfach anders?
Neben meiner Tätigkeit als Komponist bin ich immer auch mein eigener Interpret. Ich dirigiere meine eigene Musik, was manchmal sehr peinlich sein kann.
Inwiefern?
Ich sehe selbst am besten, wo die Fehler liegen. Um diese zu beheben, braucht es eine Mischung aus Utopie und Realismus. Die Utopie kommt immer zuerst, weil einen der Realismus allein nicht sehr weit bringt. Realismus braucht es allenfalls bei der Umsetzung.
Kommt es vor, dass Sie nach diversen Überarbeitungen zur Erkenntnis gelangen, dass die frühere Version eines Stücks eventuell auch ihre Vorzüge hatte?
Nein. Was vorbei ist, ist vorbei. Es handelt sich nicht um Etappen, die man konservieren kann. Hinterher gibt es keine Zweifel.
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