BILANZ: Professor Galbraith, hat Sie der jüngste Kursrutsch an der Nasdaq überrascht?
John Kenneth Galbraith: Keineswegs, das war ein Crash mit Ankündigung. Ich habe seit langem vor dem hektischen Tempo der Zo-cker gewarnt.
Warum hat niemand auf Sie gehört?
Weil die Nasdaq die Graue-Anzug-Welt der Börsen in eine Gameshow für jedermann verwandelt hat. Jeder hatte die nächste grossartige Idee, wie die Welt mit einem Internet- shop für Hundefutter zu verändern sei.
So ein Kapitalismus zum Mitmachen müsste Ihnen doch sympathisch sein.
Unfug! Was sich vollmundig New Economy nannte, hatte am Ende ja eine ganz hässliche Seite. In einem Jahr haben sich Billionen an Papiervermögen verflüchtigt. Während die Banken Rekordgewinne einfuhren, verloren Kleinanleger so viel wie niemals zuvor.
Der Massenmensch, der im Winde treibt, schrieb José Ortega y Gasset schon im Börsencrash-Jahr 1929 …
Ich würde das weniger poetisch sagen. Die meisten der Kleinaktionäre sind schlicht der Duftspur des schnellen Geldes gefolgt.
Sie haben das Verhalten von Spekulanten in einer Phase kräftig steigender Kurse schon früher als Massenflucht aus der Wirklichkeit bezeichnet.
Ja, ich sehe hier eine Tendenz zur Selbstverdummung. In der Spekulation gerät die Fähigkeit zur Selbstkritik, die beste Garantie für ein Minimum an gesundem Menschenverstand, in Gefahr. Die Menschen denken im Übrigen immer, wer viel Geld macht, sei besonders schlau. Ich halte mich eher an den Spruch: Finanzgenie ist man nur bis zum Bankrott.
Warum werden finanzielle Pleiten so schnell vergessen?
Weil das Gedächtnis in Finanzdingen allenfalls 20 Jahre zurückreicht. Es ist auch der Zeitraum, der normalerweise nötig ist, bis eine neue Generation die Szene betritt, die wie ihre Vorgänger von der eigenen Genialität überzeugt ist.
Haben Sie in der jüngsten Krise frühere Crashs wiedererkannt?
Ja natürlich, meist beginnt eine solche Boom-Bust-Phase in einer Zeit stabilen Wirtschaftswachstums. Erst gehen die Gewinne der Unternehmen hoch, dann steigen die Erwartungen der Anleger langsam, und die Aktienkurse klettern stetig. Das heizt die Erwartungen weiter an, die Kurse beginnen zu fliegen.
Plötzlich reichen traditionelle Bewertungskriterien nicht mehr aus?
Ja, Theorien von einer neuen Ära werden populär. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts lösten vermeintliche Kartellgewinne einen Börsenboom aus. In den Zwanziger- jahren glaubten die Leute an eine Ära hoher Produktivität. In den Sechzigerjahren war es der Irrglaube, Wirtschaftszyklen durch Fis- kalpolitik kontrollieren zu können. Und in den Neunzigerjahren die Mär von der New Economy. Früher oder später wurden all diese Theorien von der Wirklichkeit eingeholt.
Ist Amerikas Hang zur masslosen Übertreibung aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht dennoch ein Segen?
Exzesse an der Börse mit wirtschaftlichem Fortschritt gleichzusetzen, halte ich für gefährlich. Natürlich ging dem Crash von 1929 eine jahrelange Hausse der Automobil- und Broadcasting-Stocks voraus …
… wobei die Infrastruktur für den Nachkriegsboom geschaffen wurde …
… ja, aber die unmittelbare Konsequenz des Zusammenbruchs war die Weltwirtschaftskrise mit all ihren hässlichen Folgen.
Der Venture-Capitalist Roger McNamee fordert zum Dank an all jene auf, die im Januar 2000 eingestiegen sind. Deren Geld mag sich in Luft aufgelöst haben – die auf diese Weise finanzierten Internetrouter aber nicht.
Sie sind in der Schweiz doch das beste Gegenargument für diese zynische These. Ihr Erfolg basiert nicht auf hysterischen Exzessen, sondern auf besonnenem Wirtschaften bei gleichzeitiger politischer Stabilität. Und wenn biedere Familienväter in der Hoffnung, mal eben ein zweites Jahresgehalt einstreichen zu können, alle Vorsicht über Bord werfen, kann ich daran nichts Gutes erkennen.
Hätte der Staat eingreifen müssen, um diese Kleinanleger zu retten?
Um Gottes willen, nein! Das ist doch eine wertvolle Lektion, dass alles nur Papier ist. Ich habe immer gefordert, nicht einen Cent Steuergeld etwa zur Rettung von Derivaten einzusetzen. Wenn Aktienwerte von Unternehmen verschwinden, die nicht mehr als einen fantasievollen Geschäftsplan zu bieten haben: weg damit!
Das klingt Ihrerseits zynisch!
Keineswegs! Wir müssen echte Werte schützen. Wir müssen unsere Industrien, unsere Landwirtschaft, den realen Wirtschaftsablauf schützen. Wir müssen die Renten aufrechterhalten. Wir müssen die Staatsanleihen verteidigen. Wir müssen die Integrität der Währungen erhalten. Die Hauptaufgabe ist, zu echtem Wirtschaftswachstum zurückzukehren und mit einem Seufzer der Erleichterung zu sagen: Es ist nur Papier, das kollabiert.
Experten fürchten dennoch, das angeschlagene Vertrauen der amerikanischen Verbraucher könnte eine Rezession auslösen, die eine Weltwirtschaftskrise nach sich zöge.
Mit Prognosen für die Zukunft bin ich vorsichtig. Natürlich ist es denkbar, dass sich die Spirale womöglich zum Teufelskreis entwickelt. Fatal aus meiner Sicht ist, dass eine Krise wieder einmal die ärmeren Bevölkerungsschichten am härtesten treffen würde.
Letztere haben schon von der Partylaune der letzten zehn Jahre kaum profitiert.
Der jüngste Boom hat die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert. Das Einkommen der Mittelschichten ist in dieser Zeit kaum gestiegen, und viele brauchen einen Zweit- oder gar einen Drittjob, um sich und ihre Familien zu ernähren. Uns Amerikanern ist es nicht gelungen, den neuen Wohlstand auf die breiten Massen zu verteilen. Die Gesellschaft ist härter und ungerechter als je zuvor.
Können die Ärmsten auf Unterstützung seitens der neuen Bush-Regierung hoffen?
Machen Sie Witze? Bushs Satz «Wir werden alles unterlassen, was unserer Wirtschaft schaden könnte» erweist sich als das eigentliche Regierungsmotto der Republikaner. Der Mann arbeitet gerade einen langen Zettel mit Firmen und Wirtschaftsverbänden ab, bei denen er sich noch für eine kleine Aufmerksamkeit bedanken muss.
Dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit hat bisher noch jeder Präsident nach seinem Amtsantritt betrieben.
Richtig, aber noch keiner so schamlos wie Bush. Dabei steht das eigentliche Geschenk an die Reichen und Mächtigen mit der drastischen Senkung der Steuersätze noch aus.
Was ist falsch am Argument, dass Steuerdollars bei den Bürgern besser aufgehoben seien als bei den Bürokraten in Washington?
Ach, hören Sie mir damit auf! Das Versprechen einer Rückzahlung hat Bush sofort mit der Ankündigung verbunden, überall dort zu streichen, wo er zu viel Fett vermutet, also vorzugsweise bei den Sozialausgaben.
Ihr Kollege Paul Krugman spricht bereits von einer Art neuem Klassenkampf «derer da oben» gegen «die da unten».
Völlig zu Recht! Nach den Bush-Plänen bleiben über 40 Prozent der enormen Summe, die er ausschütten will, bei dem einen Prozent der amerikanischen Steuerbürger hängen, deren Jahreseinkommen bei einer Million Dollar und mehr liegt.
Ist es nicht ein Armutszeugnis für die Finanzbranche, die Politik und die Wirtschaftswissenschaften, wenn ständig die Angst umgeht, dass jederzeit eine Finanzkrise ausbrechen kann?
Absolut! Nach den Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise 1929, der Spekulationsblase in Japan und den Ereignissen um den Hedgefonds LTCM kann man als verantwortlicher Bankier, Politiker oder Wissenschaftler doch nicht abwarten, bis das fragile und überhitzte Kartenhaus der Weltfinanzmärkte zusammenklappt.
Eingriffe gegen das Dogma des freien Finanzmarktes gelten heute freilich als Gotteslästerung. Können die westlichen Demokratien überhaupt gegensteuern?
Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Ich bezweifle, dass die Demokratien einen Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte überleben würden.
Von der Chicago-Schule um Nobelpreisträger Milton Friedman bis zu Francis Fukuyama glauben die Protagonisten freier Märkte, dass sich die Leistungsgesellschaft weltweit durchsetzt.
Der Markt teilt die Gesellschaft in drei Schichten – die an den Rand gedrückten Armen, die Mittelklasse, die den Grossteil der Steuerlast trägt, und die Reichen, die den Mittelstand vorschicken, wenn der Staat weiter zurückgedrängt werden soll. Geht das so weiter, zerbricht die Gesellschaft – und mit ihr auch der scheinbar so siegreiche Kapitalismus.
Wundert es Sie, dass inzwischen selbst ein Erzkapitalist wie George Soros behauptet, der Laissez-faire-Kapitalismus könne die Zivilisation zerstören?
Leute wie Soros gibt es leider viel zu wenig. Im System des freien Marktes – wir Wirtschaftswissenschaftler sprechen ja schon lange nicht mehr vom Kapitalismus – ist das ständige Deregulieren und Privatisieren zum Selbstzweck geraten. Eine Welt, der es nur auf Wachstum, Wettbewerb und Produktivität ankommt, hat abgewirtschaftet.
Ihr Landsmann John Saul findet die Marktideologie so absolutistisch wie Faschismus oder Marxismus: Alle drei würden von elitären Interessengruppen getrieben.
Heute teilen Manager, Banker und Berater immer mehr Macht unter sich auf und führen eine Kampagne, die in allen Fragen von Privatisierung und Leistungskürzung eine Atmosphäre panisch galoppierender Dringlichkeit geschaffen hat. Und die Politiker beten ihre Rezepte reflexhaft nach. Noch nie stand so viel Geld zur Verfügung, und doch ist kein Geld für das Gemeinwesen da.
Die Kapitalisten selbst verlieren immer mehr Einfluss, weil das wichtigste Produktionsmittel gar nicht mehr ihnen gehört, sondern ihren hoch qualifizierten Mitarbeitern oder jungen Selbstständigen. Was hat das noch mit dem Kapitalismus von Karl Marx zu tun?
Absolut nichts! Wissen ist an Individuen gebunden und kann nicht in das Eigentum anderer übergehen. Marx beklagte ja gerade, dass die Arbeiter vom Besitz der Produktionsmittel ausgeschlossen seien und deshalb ausbluteten.
Der Klassenkampf ist ad acta gelegt?
An die Stelle des alten Klassengegensatzes tritt heute ein neuer Konflikt zwischen der Minderheit der Wissensarbeiter mit ihrer knappen und daher teuren Qualifikation – Softwareentwickler, Berater, Aktienanalysten – und der Mehrheit normaler Arbeitnehmer, deren Fähigkeiten im Überfluss zu haben sind.
Was heisst das konkret?
Die Finanzmarktjongleure der Credit Suisse in New York sind nicht mehr von den Aktionären der Bank abhängig, sondern die Bank ist es von ihnen.
Sie braucht die Talente und zahlt dafür horrende Preise.
Richtig, die Spezialisten können ja über Nacht woanders anheuern oder sich selbstständig machen. Das Verhältnis zwischen der Ideenarbeit und dem Kapital dreht sich, der Einzelne erzielt den aktuellen Marktwert für seine Leistung. Gleichzeitig ist er voll den Risiken des Marktes ausgesetzt.
Auf Unternehmerseite wird in diesem Zusammenhang gerne das Bild vom emanzipierten Mitarbeiter und vom partnerschaftlichen Verhältnis bemüht.
Eine Mogelpackung, denn der Hinweis auf die Selbststeuerung der Arbeitnehmer wird ausschliesslich zur Effektivitätssteigerung genutzt. Dies gilt laut Managerliteratur zurzeit als das beste Instrument, um aus den Beschäftigten ein Maximum an Leistung herauszuholen.
Intel-Chef Andrew Grove beschreibt die wichtigsten Motivationskräfte so: Angst vor dem Wettbewerb, Angst vor einem Bankrott, Angst, einen Fehler zu machen, und Angst zu verlieren.
Das ist doch furchtbar! Mein Kollege Edward Luttwak, der die völlig überdrehte freie Marktwirtschaft als «Turbokapitalismus» bezeichnet hat, beklagt das Phänomen, dass viele Arbeiter aus ständiger Furcht um Job, Haus und Hof krank werden.
Lange gaben sich die Kritiker des Kapitalismus progressiv. Heute bewahren die Kritiker das Alte: eine stabile Arbeitswelt, den Sozialstaat, die alte Einkommensverteilung. Sind Sie heute der eigentlich Konservative?
Diese Unterstellung würde ich weit von mir weisen. Statt lautstark einen Kapitalismus ausser Rand und Band zu fördern, denke ich aber über machbare Schritte nach. Ich bin Realist!
Und als Realist sind Sie davon überzeugt, dass sich ein entfesselter Kapitalismus selbst zerstört?
Ja, er ist kein Wertesystem an sich, sondern nur durch andere Werte in Schach zu halten. Denn wenn ausschliesslich an Profitmaximierung interessierte Konzerne den Staat als Ordnungshüter hoffnungslos überfordern, geht schliesslich die Marktwirtschaft selbst kaputt. Karl Marx hoffte auf diese Entwicklung, Joseph Schumpeter fürchtete sie. Und der Sozialphilosoph Michael Walzer wundert sich über die Anhänger des reinen Kapitalismus: Es müsse doch jedem klar sein, dass eine Gesellschaft, wie diese sie wollten, unanständig wäre.
Würden Sie gleichwohl der These «Capitalism is the worst system, except for all the others» zustimmen?
Stammt der Satz von mir? Wenn nicht, hätte ich gern das Copyright darauf!
John Kenneth Galbraith: Keineswegs, das war ein Crash mit Ankündigung. Ich habe seit langem vor dem hektischen Tempo der Zo-cker gewarnt.
Warum hat niemand auf Sie gehört?
Weil die Nasdaq die Graue-Anzug-Welt der Börsen in eine Gameshow für jedermann verwandelt hat. Jeder hatte die nächste grossartige Idee, wie die Welt mit einem Internet- shop für Hundefutter zu verändern sei.
So ein Kapitalismus zum Mitmachen müsste Ihnen doch sympathisch sein.
Unfug! Was sich vollmundig New Economy nannte, hatte am Ende ja eine ganz hässliche Seite. In einem Jahr haben sich Billionen an Papiervermögen verflüchtigt. Während die Banken Rekordgewinne einfuhren, verloren Kleinanleger so viel wie niemals zuvor.
Der Massenmensch, der im Winde treibt, schrieb José Ortega y Gasset schon im Börsencrash-Jahr 1929 …
Ich würde das weniger poetisch sagen. Die meisten der Kleinaktionäre sind schlicht der Duftspur des schnellen Geldes gefolgt.
Sie haben das Verhalten von Spekulanten in einer Phase kräftig steigender Kurse schon früher als Massenflucht aus der Wirklichkeit bezeichnet.
Ja, ich sehe hier eine Tendenz zur Selbstverdummung. In der Spekulation gerät die Fähigkeit zur Selbstkritik, die beste Garantie für ein Minimum an gesundem Menschenverstand, in Gefahr. Die Menschen denken im Übrigen immer, wer viel Geld macht, sei besonders schlau. Ich halte mich eher an den Spruch: Finanzgenie ist man nur bis zum Bankrott.
Warum werden finanzielle Pleiten so schnell vergessen?
Weil das Gedächtnis in Finanzdingen allenfalls 20 Jahre zurückreicht. Es ist auch der Zeitraum, der normalerweise nötig ist, bis eine neue Generation die Szene betritt, die wie ihre Vorgänger von der eigenen Genialität überzeugt ist.
Haben Sie in der jüngsten Krise frühere Crashs wiedererkannt?
Ja natürlich, meist beginnt eine solche Boom-Bust-Phase in einer Zeit stabilen Wirtschaftswachstums. Erst gehen die Gewinne der Unternehmen hoch, dann steigen die Erwartungen der Anleger langsam, und die Aktienkurse klettern stetig. Das heizt die Erwartungen weiter an, die Kurse beginnen zu fliegen.
Plötzlich reichen traditionelle Bewertungskriterien nicht mehr aus?
Ja, Theorien von einer neuen Ära werden populär. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts lösten vermeintliche Kartellgewinne einen Börsenboom aus. In den Zwanziger- jahren glaubten die Leute an eine Ära hoher Produktivität. In den Sechzigerjahren war es der Irrglaube, Wirtschaftszyklen durch Fis- kalpolitik kontrollieren zu können. Und in den Neunzigerjahren die Mär von der New Economy. Früher oder später wurden all diese Theorien von der Wirklichkeit eingeholt.
Ist Amerikas Hang zur masslosen Übertreibung aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht dennoch ein Segen?
Exzesse an der Börse mit wirtschaftlichem Fortschritt gleichzusetzen, halte ich für gefährlich. Natürlich ging dem Crash von 1929 eine jahrelange Hausse der Automobil- und Broadcasting-Stocks voraus …
… wobei die Infrastruktur für den Nachkriegsboom geschaffen wurde …
… ja, aber die unmittelbare Konsequenz des Zusammenbruchs war die Weltwirtschaftskrise mit all ihren hässlichen Folgen.
Der Venture-Capitalist Roger McNamee fordert zum Dank an all jene auf, die im Januar 2000 eingestiegen sind. Deren Geld mag sich in Luft aufgelöst haben – die auf diese Weise finanzierten Internetrouter aber nicht.
Sie sind in der Schweiz doch das beste Gegenargument für diese zynische These. Ihr Erfolg basiert nicht auf hysterischen Exzessen, sondern auf besonnenem Wirtschaften bei gleichzeitiger politischer Stabilität. Und wenn biedere Familienväter in der Hoffnung, mal eben ein zweites Jahresgehalt einstreichen zu können, alle Vorsicht über Bord werfen, kann ich daran nichts Gutes erkennen.
Hätte der Staat eingreifen müssen, um diese Kleinanleger zu retten?
Um Gottes willen, nein! Das ist doch eine wertvolle Lektion, dass alles nur Papier ist. Ich habe immer gefordert, nicht einen Cent Steuergeld etwa zur Rettung von Derivaten einzusetzen. Wenn Aktienwerte von Unternehmen verschwinden, die nicht mehr als einen fantasievollen Geschäftsplan zu bieten haben: weg damit!
Das klingt Ihrerseits zynisch!
Keineswegs! Wir müssen echte Werte schützen. Wir müssen unsere Industrien, unsere Landwirtschaft, den realen Wirtschaftsablauf schützen. Wir müssen die Renten aufrechterhalten. Wir müssen die Staatsanleihen verteidigen. Wir müssen die Integrität der Währungen erhalten. Die Hauptaufgabe ist, zu echtem Wirtschaftswachstum zurückzukehren und mit einem Seufzer der Erleichterung zu sagen: Es ist nur Papier, das kollabiert.
Experten fürchten dennoch, das angeschlagene Vertrauen der amerikanischen Verbraucher könnte eine Rezession auslösen, die eine Weltwirtschaftskrise nach sich zöge.
Mit Prognosen für die Zukunft bin ich vorsichtig. Natürlich ist es denkbar, dass sich die Spirale womöglich zum Teufelskreis entwickelt. Fatal aus meiner Sicht ist, dass eine Krise wieder einmal die ärmeren Bevölkerungsschichten am härtesten treffen würde.
Letztere haben schon von der Partylaune der letzten zehn Jahre kaum profitiert.
Der jüngste Boom hat die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert. Das Einkommen der Mittelschichten ist in dieser Zeit kaum gestiegen, und viele brauchen einen Zweit- oder gar einen Drittjob, um sich und ihre Familien zu ernähren. Uns Amerikanern ist es nicht gelungen, den neuen Wohlstand auf die breiten Massen zu verteilen. Die Gesellschaft ist härter und ungerechter als je zuvor.
Können die Ärmsten auf Unterstützung seitens der neuen Bush-Regierung hoffen?
Machen Sie Witze? Bushs Satz «Wir werden alles unterlassen, was unserer Wirtschaft schaden könnte» erweist sich als das eigentliche Regierungsmotto der Republikaner. Der Mann arbeitet gerade einen langen Zettel mit Firmen und Wirtschaftsverbänden ab, bei denen er sich noch für eine kleine Aufmerksamkeit bedanken muss.
Dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit hat bisher noch jeder Präsident nach seinem Amtsantritt betrieben.
Richtig, aber noch keiner so schamlos wie Bush. Dabei steht das eigentliche Geschenk an die Reichen und Mächtigen mit der drastischen Senkung der Steuersätze noch aus.
Was ist falsch am Argument, dass Steuerdollars bei den Bürgern besser aufgehoben seien als bei den Bürokraten in Washington?
Ach, hören Sie mir damit auf! Das Versprechen einer Rückzahlung hat Bush sofort mit der Ankündigung verbunden, überall dort zu streichen, wo er zu viel Fett vermutet, also vorzugsweise bei den Sozialausgaben.
Ihr Kollege Paul Krugman spricht bereits von einer Art neuem Klassenkampf «derer da oben» gegen «die da unten».
Völlig zu Recht! Nach den Bush-Plänen bleiben über 40 Prozent der enormen Summe, die er ausschütten will, bei dem einen Prozent der amerikanischen Steuerbürger hängen, deren Jahreseinkommen bei einer Million Dollar und mehr liegt.
Ist es nicht ein Armutszeugnis für die Finanzbranche, die Politik und die Wirtschaftswissenschaften, wenn ständig die Angst umgeht, dass jederzeit eine Finanzkrise ausbrechen kann?
Absolut! Nach den Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise 1929, der Spekulationsblase in Japan und den Ereignissen um den Hedgefonds LTCM kann man als verantwortlicher Bankier, Politiker oder Wissenschaftler doch nicht abwarten, bis das fragile und überhitzte Kartenhaus der Weltfinanzmärkte zusammenklappt.
Eingriffe gegen das Dogma des freien Finanzmarktes gelten heute freilich als Gotteslästerung. Können die westlichen Demokratien überhaupt gegensteuern?
Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Ich bezweifle, dass die Demokratien einen Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte überleben würden.
Von der Chicago-Schule um Nobelpreisträger Milton Friedman bis zu Francis Fukuyama glauben die Protagonisten freier Märkte, dass sich die Leistungsgesellschaft weltweit durchsetzt.
Der Markt teilt die Gesellschaft in drei Schichten – die an den Rand gedrückten Armen, die Mittelklasse, die den Grossteil der Steuerlast trägt, und die Reichen, die den Mittelstand vorschicken, wenn der Staat weiter zurückgedrängt werden soll. Geht das so weiter, zerbricht die Gesellschaft – und mit ihr auch der scheinbar so siegreiche Kapitalismus.
Wundert es Sie, dass inzwischen selbst ein Erzkapitalist wie George Soros behauptet, der Laissez-faire-Kapitalismus könne die Zivilisation zerstören?
Leute wie Soros gibt es leider viel zu wenig. Im System des freien Marktes – wir Wirtschaftswissenschaftler sprechen ja schon lange nicht mehr vom Kapitalismus – ist das ständige Deregulieren und Privatisieren zum Selbstzweck geraten. Eine Welt, der es nur auf Wachstum, Wettbewerb und Produktivität ankommt, hat abgewirtschaftet.
Ihr Landsmann John Saul findet die Marktideologie so absolutistisch wie Faschismus oder Marxismus: Alle drei würden von elitären Interessengruppen getrieben.
Heute teilen Manager, Banker und Berater immer mehr Macht unter sich auf und führen eine Kampagne, die in allen Fragen von Privatisierung und Leistungskürzung eine Atmosphäre panisch galoppierender Dringlichkeit geschaffen hat. Und die Politiker beten ihre Rezepte reflexhaft nach. Noch nie stand so viel Geld zur Verfügung, und doch ist kein Geld für das Gemeinwesen da.
Die Kapitalisten selbst verlieren immer mehr Einfluss, weil das wichtigste Produktionsmittel gar nicht mehr ihnen gehört, sondern ihren hoch qualifizierten Mitarbeitern oder jungen Selbstständigen. Was hat das noch mit dem Kapitalismus von Karl Marx zu tun?
Absolut nichts! Wissen ist an Individuen gebunden und kann nicht in das Eigentum anderer übergehen. Marx beklagte ja gerade, dass die Arbeiter vom Besitz der Produktionsmittel ausgeschlossen seien und deshalb ausbluteten.
Der Klassenkampf ist ad acta gelegt?
An die Stelle des alten Klassengegensatzes tritt heute ein neuer Konflikt zwischen der Minderheit der Wissensarbeiter mit ihrer knappen und daher teuren Qualifikation – Softwareentwickler, Berater, Aktienanalysten – und der Mehrheit normaler Arbeitnehmer, deren Fähigkeiten im Überfluss zu haben sind.
Was heisst das konkret?
Die Finanzmarktjongleure der Credit Suisse in New York sind nicht mehr von den Aktionären der Bank abhängig, sondern die Bank ist es von ihnen.
Sie braucht die Talente und zahlt dafür horrende Preise.
Richtig, die Spezialisten können ja über Nacht woanders anheuern oder sich selbstständig machen. Das Verhältnis zwischen der Ideenarbeit und dem Kapital dreht sich, der Einzelne erzielt den aktuellen Marktwert für seine Leistung. Gleichzeitig ist er voll den Risiken des Marktes ausgesetzt.
Auf Unternehmerseite wird in diesem Zusammenhang gerne das Bild vom emanzipierten Mitarbeiter und vom partnerschaftlichen Verhältnis bemüht.
Eine Mogelpackung, denn der Hinweis auf die Selbststeuerung der Arbeitnehmer wird ausschliesslich zur Effektivitätssteigerung genutzt. Dies gilt laut Managerliteratur zurzeit als das beste Instrument, um aus den Beschäftigten ein Maximum an Leistung herauszuholen.
Intel-Chef Andrew Grove beschreibt die wichtigsten Motivationskräfte so: Angst vor dem Wettbewerb, Angst vor einem Bankrott, Angst, einen Fehler zu machen, und Angst zu verlieren.
Das ist doch furchtbar! Mein Kollege Edward Luttwak, der die völlig überdrehte freie Marktwirtschaft als «Turbokapitalismus» bezeichnet hat, beklagt das Phänomen, dass viele Arbeiter aus ständiger Furcht um Job, Haus und Hof krank werden.
Lange gaben sich die Kritiker des Kapitalismus progressiv. Heute bewahren die Kritiker das Alte: eine stabile Arbeitswelt, den Sozialstaat, die alte Einkommensverteilung. Sind Sie heute der eigentlich Konservative?
Diese Unterstellung würde ich weit von mir weisen. Statt lautstark einen Kapitalismus ausser Rand und Band zu fördern, denke ich aber über machbare Schritte nach. Ich bin Realist!
Und als Realist sind Sie davon überzeugt, dass sich ein entfesselter Kapitalismus selbst zerstört?
Ja, er ist kein Wertesystem an sich, sondern nur durch andere Werte in Schach zu halten. Denn wenn ausschliesslich an Profitmaximierung interessierte Konzerne den Staat als Ordnungshüter hoffnungslos überfordern, geht schliesslich die Marktwirtschaft selbst kaputt. Karl Marx hoffte auf diese Entwicklung, Joseph Schumpeter fürchtete sie. Und der Sozialphilosoph Michael Walzer wundert sich über die Anhänger des reinen Kapitalismus: Es müsse doch jedem klar sein, dass eine Gesellschaft, wie diese sie wollten, unanständig wäre.
Würden Sie gleichwohl der These «Capitalism is the worst system, except for all the others» zustimmen?
Stammt der Satz von mir? Wenn nicht, hätte ich gern das Copyright darauf!
Partner-Inhalte