Nachdem 1993 der erste Indexfonds als Exchange Traded Fund (ETF) an der Wall Street kotiert worden war, kannte dieser Finanzzweig lange nur eine Richtung: bergauf. Das Wachstum litt selbst in Krisenzeiten wie 2001 nicht, als die Dotcom-Blase platzte, oder 2008 beim Ausbruch der Finanzkrise. Im Gegenteil. Die Nachfrage und parallel dazu das Angebot an Produkten schienen sich gar noch zu beschleunigen.
So droht die Industrie ein Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Denn das enorme Wachstum und der Kampf um Marktanteile brachten immer komplexere Strukturen und Produkte hervor. «Diverse Anbieter haben unter dem zugkräftigen ETF-Label Strukturen konstruiert, die mit der Grundidee nur noch wenig zu tun haben», sagt Christian Gast, Leiter von Marktleader iShares in der Schweiz (siehe Interview unter 'Nebenartikel').
Dieser Trend und die Angst vor möglichen Risiken für die Finanzstabilität riefen im Jahresverlauf verstärkt Kritik diverser internationaler Finanzmarkt-Aufsichtsorgane wie etwa des Financial Stability Board (FSB), der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich oder zuletzt auch der schweizerischen Finanzmarktaufsicht Finma hervor.
In den Vereinigten Staaten befasst sich gar der Senat mit der Gefahr von Systemrisiken, die angeblich vom wilden täglichen Börsenhandel mit spekulativen Indexprodukten ausgehen soll. Und als ob es noch eines Sündenbocks bedurft hätte, trug der UBS-Händler Kweku Adoboli mit nicht verbuchten Transaktionen im Bereich ETF-Handel und -Absicherung seiner Bank rund 2,3 Milliarden Dollar Verlust ein. Allerdings ohne dabei das Finanzsystem in Schieflage zu bringen und eine Systemkrise auszulösen.
Vorerst scheinen die Kritiken am Markt abzuprallen. Weltweit und in der Schweiz geht das Wachstum ungebremst weiter. Doch die Anbieter haben den Wink der Behörden und Politiker mit dem Zaunpfahl verstanden. Mit selbst verordneten Richtlinien und Standards gehen die führenden Anbieter wie Marktführer iShares (BlackRock) oder Lyxor (Société Générale) mit gutem Beispiel voran. Vermögensverwalter und ETF-Spezialist Alex Hinder ist daher zuversichtlich: Die eingeleiteten Reformen und Anstrengungen gingen in die richtige Richtung und setzten andere Anbieter unter Druck, ihren Qualitätsstandard ebenfalls zu verbessern. «Ich bin überzeugt, dass die ETF-Industrie gestärkt aus den Turbulenzen hervorgeht», so Hinder.
Eine der heftigsten Kontroversen dreht sich um die Art der Indexnachbildung. Der Klassiker sind die ETF, die einen Index physisch nachbilden. Sie investieren das Fondsvermögen anteilsmässig exakt im gleichen Verhältnis in die Titel, aus denen der Index zusammengesetzt ist. Entsprechend ist die Wertentwicklung nach Abzug der Fondskosten gleich wie beim Index. Diese Methode eignet sich für einen Index mit sehr liquiden Basiswerten, etwa den Deutschen Aktienindex (DAX) oder den Schweizer Leitindex SMI.
Bei sehr breit gestreuten Indizes stösst diese Form von ETF aber bald an Grenzen: Es ist kaum möglich, das Vermögen anteilsmässig in alle Titel des Weltaktienindex MSCI World mit seinen 1700 Aktien zu investieren. Schon beim Swiss Performance Index (SPI) mit 230 Titeln ist eine volle Nachbildung meist nur mit Einschränkungen möglich. Die Zusammensetzung wird derart angepasst, dass kleine, illiquide Titel mit wenig Einfluss auf die Indexentwicklung ausgeblendet werden. Diese Methode wird optimierte Replikation genannt.
Riskante Swaps. Eine ganz andere Kultur vertreten ETF, die einen Index synthetisch nachbilden. Sie investieren nicht mehr direkt in die Titel, sondern tauschen einen Teil des Vermögens mit einer Gegenpartei, die dafür die Rendite des Index liefert. Bei diesem Swap-Geschäft besteht für den ETF-Anleger das Risiko, dass die Gegenpartei in Konkurs gehen kann und damit der Anteil des getauschten Vermögens verloren geht. Gemäss den europäischen UCITS-Fondsrichtlinien dürfen deshalb höchstens zehn Prozent des Fondsvermögens für solche Swap-Geschäfte verwendet werden.
Es gibt zwei Arten von Swaps: Unfunded und Fully Funded Swaps. Bei den Ersteren investiert die Fondsgesellschaft das Anlegerkapital zunächst in ein Wertpapierportfolio und schliesst gleichzeitig mit einer oder mehreren Gegenparteien ein Swap-Geschäft ab. Die Performance des Korbs wird dann gegen den Wert des abzubildenden Index getauscht. Der Fonds hält also mindestens 90 Prozent des Vermögens in Wertschriften, die aber oft nicht mit jenen im abgebildeten Index übereinstimmen, sondern möglichst geringe Steuerfolgen haben und leicht liquidierbar sein sollten.
Bei den Fully Funded Swaps überweist der ETF-Anbieter das gesamte Vermögen zur Swap-Gegenpartei. Diese investiert das Geld in einen Wertschriftenkorb, der bei einer unabhängigen Depotbank als Sicherheit (Collateral) ausgelagert wird. In dieser Konstruktion umfasst das Collateral zwischen 100 und 120 Prozent des Fondsvermögens, abhängig vom Typ und von der Qualität der Besicherung. Diese Art von Indexnachbildung steht nun besonders in der Kritik der Finanzmarktaufsicht.
So moniert etwa die Finma, dass diese Art Swap in der Regel nur mit einer einzigen Gegenpartei abgeschlossen werde. Damit komme der Gefahr einer Insolvenz der Gegenpartei eine besondere Bedeutung zu. Zudem könnte der Zugriff der Fondsgesellschaft auf das Collateral in einem möglichen Insolvenzfall erschwert werden. Die UBS entgegnet, dass sich mit ihrer Struktur bei einer möglichen Insolvenz keine Nachteile für den Fonds ergäben. Die Sicherheiten würden bei der Depotbank in einem separaten Konto im Namen des Fonds gehalten. Das Gegenparteirisiko werde zudem zu 105 Prozent mit Staatsanleihen hoher Bonität besichert.
Erste Anbieter kommen nun der Forderung nach mehr Transparenz bei der Zusammensetzung dieser Wertschriftenportfolios und bei der Gegenpartei des ETF bei Swap-Geschäften nach. So legen etwa DB X-Tracker (Deutsche Bank) oder Lyxor bei Unfunded Swaps bereits jetzt auf ihren Websites den Swap-Anteil und die Zusammensetzung des Wertschriftenportfolios (Substitute Baskets) relativ zeitnah offen. Anleger wissen damit jederzeit, in welche Werte sie effektiv investieren. Sodann hat sich Lyxor in ihrer soeben veröffentlichten «ETF-Charta» zum Ziel gesetzt, das Kontrahentenrisiko auf täglicher Basis auf null zu reduzieren.
Doch das sind erst Anfänge. Noch immer ist nicht bei allen ETF auf Anhieb ersichtlich, ob der zugrunde liegende Index physisch oder synthetisch nachgebildet wird. Wollen Anleger erfahren, in welche Wertschriften ein ETF effektiv investiert hat, müssen sie bei den meisten Anbietern schon vertiefte Recherchen in den Dokumenten des Fonds vornehmen, zum Beispiel im Geschäftsbericht oder im Fondsprospekt.
Bonitätsprüfung. Unbestritten sind hingegen die Vorteile von synthetischen ETF. Sie ermöglichen den Zugang zu Märkten mit geringer Liquidität, etwa bei Obligationen. Viele Anleger können überhaupt erst in Wachstumsmärkte wie Indien oder Brasilien mit solchen ETF investieren. «Eine physische Replikation des indischen Leitindex würde wegen hoher Steuern etwa fünf Prozent kosten», weiss Alex Hinder. Auch bei den meisten Rohstoffen erfolgt die Replikation mittels Derivaten. Die Ausnahme bilden Edelmetall-ETF diverser Anbieter, die durch physischen Besitz von Gold oder Silber vollständig besichert sind.
Etwas trifft Swap-basierte ETF genauso wie physisch basierte: die Wertschriftenleihe. Viele Fonds verleihen ihre Wertschriften gegen eine Gebühr an eine Drittpartei und erhalten im Gegenzug als Sicherheit einen Wertschriftenkorb, der in der Regel mit 105 Prozent der ausgeliehenen Papiere abgesichert wird. Eine in der gesamten Fondsindustrie seit langer Zeit gängige Praxis, die der Performanceverbesserung dient. «Der Erlös aus der Wertschriftenleihe kann schnell einmal bis zu 20 Basispunkte ausmachen», sagt Vermögensverwalter Hinder.
Um keine böse Überraschung zu erleben, sei jedoch zwingend erforderlich, dass die Gegenpartei eine gute Bonität aufweise und der Sicherheitskorb in einem separaten Konto bei einer grossen Depotbank im Namen der Fondsgesellschaft geführt werde. Im Falle einer Insolvenz der Gegenpartei sei der Fonds dadurch in der Lage, die Wertschriften zu verwerten und finanziellen Schaden abzuwenden. Einzelne Marktteilnehmer publizieren bereits regelmässig, welchen Anteil an Wertpapieren sie ausgeliehen haben, wie sich das Collateral zusammensetzt und wie der Erlös zwischen den Parteien aufgeteilt wird.
Ob synthetisch oder physisch: Letztlich bilden beide Gattungen von ETF einen Index möglichst genau nach. Anders ist das bei Short ETF und den gehebelten ETF. Bei Short ETF wird auf eine gegenläufige Entwicklung des zugrunde liegenden Index gewettet. Gehebelte ETF verstärken mit Einsatz von Krediten den Indexverlauf – nach unten wie nach oben.
Diese ETF eignen sich nur für kurzfristig orientierte und risikofreudige Anleger, was der Ausrichtung der ETF widerspricht. Das Handicap besteht darin, dass die Renditeberechnungen auf Tagesbasis erfolgen. Sinkt ein Index in fünf Tagen um 20 Prozent, erleidet ein Anleger mit einem Short ETF unter Umständen trotzdem einen Verlust, obwohl er genau auf fallende Kurse gesetzt hat (siehe «Unerwarteter Verlust» unter 'Downloads').
Short ETF in der Kritik. Doch nicht nur wegen der für Anleger kaum erkennbaren Risiken ist diese neue Art von ETF-Produkten besonders heftig umstritten. Sie verstärkten die Volatilität an den Finanzmärkten und stellten unter Umständen ein Systemrisiko dar, lauten die Vorwürfe insbesondere in den USA. Unter anderem sollen sie entscheidend zum sogenannten Flash Crash – der Dow Jones Index stürzte im Mai 2010 innert Kürze um fast zehn Prozent ab – beigetragen haben, da der ETF-Markt quasi illiquid war.
Eine Kritik, die für Christian Gast zu kurz greift, da der Anteil der ETF-Liquidität nur einen kleinen Teil der Gesamtliquidität der Börsen ausmache. «Zudem folgt die Liquidität von ETF der Liquidität der Titel, die ein Index enthält, und nicht umgekehrt», stellt Gast klar.
Generell stützen ETF also die Liquidität im Markt. Wenn nun Verwerfungen an der Börse einzelne Titel abstürzen lassen, der Handel zeitweise ausgesetzt wird oder das Gefälle zwischen Kauf- und Verkaufspreisen drastisch ansteigt, ist davon in der Folge auch der ETF-Handel betroffen. Solche Verwerfungen erschwerten es den ETF-Verwaltern, die zugrunde liegenden Wertpapiere zu bewerten, so Christian Gast weiter.
Angesichts der Tatsache, dass der gesamte ETF-Markt erst zwei Prozent der weltweiten Börsenkapitalisierung ausmacht, dürfte davon kaum ein Risiko für die Stabilität des Finanzsystems ausgehen – schon gar nicht von den Nischenprodukten der Short ETF und der gehebelten ETF. Vorfälle wie bei der UBS in London oder unerklärbare Verluste der Anleger wegen mangelnder Transparenz und zu komplexer Produkte könnten aber das weitere Wachstum der erfolgsverwöhnten Branche in Frage stellen.
Aufklärungsbedarf. Angesichts von über 700 verschiedenen Angeboten allein an der Schweizer Börse wird die Wahl des geeigneten Produkts für Anleger zunehmend anspruchsvoll. Nur schon mit der Indexwahl kann die Rendite von der Entwicklung des Markts abweichen, in den jemand investieren wollte.
Beurteilen sollten Anleger sodann die Währung, in welcher der ETF geführt wird. Auch die Handhabung der Dividenden oder Zinsen kann zu erheblichen Abweichungen der Rendite zwischen gleichartigen ETF oder der Indexentwicklung führen. Neben den Kosten müssen auch die Art der Indexnachbildung beziehungsweise die Liquidität im Handel der ETF-Anteile zwischen den einzelnen Produkten verglichen werden.
Ob ETF als Ergänzung in einer Anlagestrategie eingesetzt werden oder als Basis: Sie bilden auch weiterhin für institutionelle Investoren und Privatanleger eine Möglichkeit, Vermögen liquid und kostengünstig zu bewirtschaften. Die zunehmende Verschärfung im Umgang mit Vergütungen beim Vertrieb von Finanzprodukten dürfte zudem dazu führen, dass in der Vermögensverwaltung und vor allem bei Vorsorgeprodukten wie Lebensversicherungen ETF an Bedeutung gewinnen werden.
Allerdings zeigt der geringe Anteil von erst zehn Prozent an ETF in den Depots der Privatkunden in Europa, dass die junge, wachstumsverwöhnte Branche noch einigen Aufklärungsbedarf hat, um weiteres Wachstumspotenzial zu erschliessen.