Temporary, provisorisch, ist das meistverwendete Wort in dem dreistöckigen Bürogebäude an der Union Hill Road. «Temporary Cafeteria» steht, eilig auf ein Blatt Papier gedruckt, an einer Tür, «Temporary Meeting Room» an einer anderen. In einer Ecke hat einer der noch wenigen Mitarbeiter mehrere grosse, farbenfrohe Gemälde aus seiner Privatkollektion aufgehängt. Sie wirken in der kargen Umgebung wie Fremdkörper. «Es ist halt alles noch im Entstehen», entschuldigt sich David Huffard, als er die Besucher durch die leeren Gänge in einen Raum führt, den er als Labor zur Kundenbeobachtung bezeichnet. Und hier ist selbst die Bezeichnung «temporary» noch untertrieben: Die Deckenverkleidungen sind abgenommen, ansonsten steht der fensterlose Saal völlig leer.
Wer das hellgrüne X auf dem Boden der Eingangshalle übersehen hat, könnte kaum ahnen, welches Projekt in dem Gebäude in Redmond bei Seattle im Entstehen ist: Von hier aus will Microsoft, der mit Abstand grösste Softwarekonzern der Welt, mit seiner Xbox den globalen Markt für Videospielgeräte aufrollen. Woran vorletzten Winter vier Microsoft-Ingenieure in ihrer Freizeit tüftelten, ist inzwischen eine der ehrgeizigsten Initiativen des Konzerns. Und eine der riskantesten. Eine halbe Milliarde Dollar wird sich CEO Steve Ballmer allein das Marketing kosten lassen. Die Xbox wird – wie schon Windows 95 – die teuerste Produkteinführung der Industriegeschichte. Vorläufig 500 Mitarbeiter aus dem Microsoft-Imperium hat Ballmer dafür abkommandiert, später werden es bis zu tausend sein. Kein Wunder, bezeichnet Steven Guggenheimer, Chef der Consumer-Group, das Projekt für den 23-Milliarden-Dollar-Konzern als «strategisch äusserst wichtig».
Microsoft, der unbestrittene Herrscher der Bürowelt, bläst zum Angriff auf die Wohn- und Kinderzimmer. Es wird ein erbitterter Verdrängungskampf werden, denn der Markt ist seit 15 Jahren fest in japanischer Hand. Mit 67 Prozent Marktanteil ist Sony unbestritten die Nummer eins. Über 75 Millionen Einheiten seiner PlayStation hat der Unterhaltungsgigant in den letzten sechs Jahren verkauft. So erfolgreich sind die Konsolen, dass sie vorletztes Jahr stolze 40 Prozent des Konzerngewinns ausmachten. Als diesen Herbst der lang erwartete Nachfolger, PlayStation 2, in den USA lanciert wurde, campierten Hunderte von erwartungsfrohen Spielefreaks schon Tage vor Verkaufsbeginn vor den Geschäften. In Tokio verursachten sie letzten Frühling gar ein Verkehrschaos. Auch in der Schweiz wird die Konsole dieser Tage mit viel Getöse eingeführt.
Platz zwei der Beliebtheitsskala belegt Nintendo mit 29 Prozent Marktanteil. Allerdings ist sein Verkaufshit N 64 inzwischen in die Jahre gekommen; der Nachfolger Gamecube wird erst nächsten Herbst erscheinen. Sega liegt mit vier Prozent Marktanteil abgeschlagen auf Platz drei. Das Unternehmen ist massiv verschuldet und schreibt seit Jahren hohe Verluste. Zwar verkauft sich das letzten Herbst lancierte Modell Dreamcast gut; doch die Gerüchte häufen sich, dass sich Sega aus dem Hardwaregeschäft zurückziehen will.
Auch Microsoft hat mit dem Kartellverfahren und der drohenden Aufspaltung genug Sorgen am Hals. Im Hardwaregeschäft war das Unternehmen, von ein paar Joysticks und Mäusen abgesehen, nie präsent. Auf entsprechend grossen internen Widerstand ist das Projekt anfangs gestossen. Warum also investiert Microsoft mehrere Milliarden Dollar (die genaue Summe will niemand herausrücken) und geht dabei das Risiko ein, sich eine blutige Nase zu holen?
Der Markt ist attraktiv, wäre die nahe liegende Begründung. In der Tat wird mit Game-Hardware jährlich rund acht Milliarden Dollar umgesetzt – das ist mehr, als beispielsweise die amerikanische Filmindustrie einspielt. Auch die für die nächsten Jahre prognostizierten Wachstumsraten (20 bis 25 Prozent jährlich) fallen höher aus als bei Microsofts Kerngeschäft, der Bürosoftware. Doch allein deswegen dürfte Steve Ballmer kaum die geballte Kraft seines Imperiums in die Xbox stecken. Viel strategischer ist der Grund: Die Spielkonsolen wachsen zunehmend aus ihrer traditionellen Rolle heraus und wandeln sich zu Entertainmentcentern. Mit neueren Geräten kann der Benutzer CD hören, Video-DVD schauen und im Netz surfen. Gerade diese Internetfähigkeit macht Ballmer Angst: Sie gefährdet die Vormachtstellung des PC in den Haushalten, von der Microsoft wie kein anderes Unternehmen profitiert. «Das ist einer der Hauptgründe, weshalb wir mitspielen», bestätigt der Microsoft-Chef. Und er will nicht weniger, als Platz eins oder zwei auf der Highscore-Liste erobern (siehe auch das Interview auf Seite 55). Das scheint angesichts der dominanten Stellung von Sony und Nintendo ein äusserst ehrgeiziges Ziel. Die Japaner haben jahrzehntelange Erfahrung in der Entwicklung von Spielkonsolen. Microsoft muss von null anfangen – und konzentriert sich deshalb auf das Terrain, das sie am besten kennt: Die Xbox wird nichts anderes sein als ein abgespeckter PC, basierend auf einem Intel-Pentium-III-Prozessor, einer handelsüblichen Festplatte, einem DVD-Laufwerk und einer angepassten Version von Windows 2000. Das einzig Spezielle ist der Videochip, den die Firma Nvidia für die Xbox entwickeln wird und der die bisher existierenden Grafikprozessoren in den Schatten stellen soll.
Mit der Verwendung von Standardkomponenten spart sich Microsoft nicht nur milliardenschwere Entwicklungskosten (allein der Prozessor von Sonys PlayStation 2 verschlang mehr als eine Milliarde Dollar). Vor allem profitiert Microsoft bei der Produktion von den Kostendegressionen der PC-Industrie. Dies ist deshalb so wichtig, weil der Gamemarkt nach dem alten Rasierklingenmodell funktioniert: Man verkauft den Rasierer unter den Selbstkosten und holt das Geld später über die Klingen wieder herein. Entsprechend darf eine Konsole nicht mehr als 300 Dollar (500 Franken) kosten, soll sie die Wohnzimmer erobern. Somit wird Microsoft bei jeder ausgelieferten Xbox wenigstens die ersten Jahre draufzahlen. Dafür kassiert das Unternehmen pro verkauftes Spiel fünf bis sieben Dollar Lizenzgebühren – Sony hat mit der PlayStation 1 auf diese Weise über fünf Milliarden Dollar eingespielt. Trotz intensiven Verhandlungen und besten Beziehungen zu den grossen Computerherstellern fand Microsoft niemanden, der das Gerät herstellen wollte. «Wir könnten niemals genug Anreize geben an jemanden wie Compaq, damit sie ein Gerät unter den Selbstkosten verkaufen», gesteht Ballmer. Also muss der Softwarekonzern auf eigene Rechnung produzieren. Die nötigen Werkkapazitäten hat man beim Auftragshersteller Flextron eingekauft.
Doch im Videogamemarkt gelten andere Gesetze als in der Softwarebranche: Fast die Hälfte des Jahresumsatzes fällt in die Vorweihnachtszeit. Aus diesem Grund werden neue Spielkonsolen in der Regel im Herbst lanciert. Diese Deadline, der Herbst 2001, gilt auch für Microsoft. Doch das Unternehmen hat keinen guten Leistungsausweis, wenn es um eine termingerechte Markteinführung geht. Auch strategisch wichtige Produkte wie Windows oder der Internet Explorer waren erst in der dritten Version brauchbar und erfolgreich. Wenigstens kann man bei Software noch mit einem Update oder Bugfix nachhelfen – bei einem Hardwareprodukt sind Fehler nicht mehr zu korrigieren. «Das stimmt», sagt Ballmer. «Wir müssen die Xbox beim ersten Anlauf richtig hinbekommen.» Wie schwierig dies im Konsolenmarkt ist, zeigen die Produktions- und Lieferprobleme, die Sony bei der PlayStation 2 hat – und dabei geniesst das japanische Unternehmen sonst ein makelloses Qualitätsimage.
Ein Blick auf das Datenblatt der Xbox (siehe Übersicht auf Seite 51) stimmt zunächst skeptisch: Was kann eine Spielkonsole taugen, deren Komponenten für PC-Massstäbe bereits heute, knapp ein Jahr vor der Markteinführung, veraltet sind? «Die Komponenten mögen die gleichen sein wie bei einem PC, aber die Architektur ist eine andere», sagt Xbox-Marketingchef Andrew McCombie. So wurde das Betriebssystem um alle Elemente erleichtert, die für Spiele nicht benötigt werden. Und weil diese spezielle Windows-Version nur auf einer einzigen Hardwarekonfiguration läuft, sollen auch die berüchtigten Fehlermeldungen ausbleiben – im Gegensatz zur handelsüblichen Fenstersoftware, die mit Millionen völlig unterschiedlichen PC klarkommen muss. Zudem soll die eingebaute Festplatte, eine Neuheit für Spielkonsolen, schnellere Actionspiele ermöglichen.
Die PlayStation 2 um Faktor drei zu schlagen, hat Microsoft-Gründer Bill Gates seinem Entwicklerteam als Ziel vorgegeben. In der Gameszene ist man sich einig: Das dürfte der Xbox gelingen. «Die technischen Daten hauen einen um», sagt auch Chad, Verkäufer in einem Videospielladen in Downtown Seattle. «Aber was entscheidet, sind die Spiele.» Da hat die Konkurrenz eindeutig die besseren Karten: Wer heute eine PlayStation 2 kauft, kann auch die rund 1000 Games des Vorgängermodells spielen. Nintendo und Sega weisen ebenfalls eine grosse Softwarepalette vor. Microsoft muss die Beziehung zu den Spieleentwicklern erst aufbauen. Die Konsole ist mit den bisherigen Windows-Spielen nicht kompatibel. Doch weil sich die Entwicklerkits sehr ähneln, können die Softwaredesigner ohne grossen Lernaufwand sofort loslegen. Zwei Drittel der sonst üblichen Entwicklungszeit liesse sich dadurch einsparen, verspricht Peter Züger, der bei Microsoft Schweiz für die Spielkonsole zuständig ist. Ein starkes Argument: Bereits haben weltweit 160 Softwareschmieden ihre Unterstützung für die Xbox zugesagt. Zum Verkaufsstart dürften 20 Titel erhältlich sein, pikanterweise auch die elektronische Version von Monopoly (böse Zungen lästern, dies sei seit langem das Lieblingsspiel in der Microsoft-Chefetage).
Ein Drittel aller Spiele will Microsoft selbst beisteuern; schliesslich muss man im margenstarken Softwaregeschäft die Unkosten für die Konsole wieder einspielen. Mit dem Dauerbrenner «Flugsimulator» und der Strategieserie «Age of Empires» haben die Redmonder bereits in der PC-Welt grossen Erfolg gehabt. Fragt sich nur, ob Microsoft bei der Xbox-Zielgruppe, den 16- bis 24-jährigen Spielefreaks, einen ähnlichen Kult erzeugen kann wie Sony, die dieses Segment fest im Griff hat (Nintendo- und Sega-Fans sind etwas jünger). «Diese Art von Publikum haben wir bisher nie direkt angesprochen», gesteht Marketingchef McCombie. Entsprechend muss er neue Distributionskanäle erschliessen: Auch über Spielwarenläden und Videogeschäfte will er das Gamefieber verbreiten. Hinzu kommt das Markenproblem: Sony steht bei amerikanischen Jugendlichen auf der Liste der angesagtesten Brands auf Platz drei (nach Nike und Tommy Hilfiger). Microsoft dagegen ist für sie ödes Technologieestablishment. Nun muss die Marke, die auch für Datenbanken und Serversoftware steht, Richtung Spielzeug gestreckt werden. «Das wird eine Herausforderung», weiss McCombie. Auch deshalb hat man das Marketingbudget für die Akte X so enorm hoch angesetzt.
Aber nicht nur beim Image hapert es bei Microsoft, sondern auch bei den Spielehelden. Nintendo verdankt seinen Erfolg vor allem Pokémon sowie dem Comic-Klempner Super-Mario, den seine Fans schon seit 17 Jahren durch verschiedenste Abenteuer steuern. Sega hat mit dem Igeltier Sonic the Hedgehog ein ähnliches Kultobjekt. Microsoft hingegen fehlen solche Ikonen. «Die kann man machen», wiegelt Ballmer ab. Mag sein, aber es wird ein mühsamer Prozess, denn erfahrungsgemäss sind die Spielefreaks ihren Lieblingsfiguren äusserst treu. Wenigstens ist es Microsoft gelungen, zwei PlayStation-Helden (Spyro the Dragon, Crash Bandicoot) auch für die Xbox unter Vertrag zu nehmen. Sony hatte diese Figuren ausser Haus kreieren lassen, ohne sich für die Nutzung ein Exklusivrecht auszubedingen.
Nun wäre Microsoft nicht Microsoft, wenn es für das neue Projekt nicht alte Stärken einsetzte. Synergien erhofft sich das Unternehmen mit seiner Website MSN Gaming Zone (www.zone.com), einer der ersten Adressen für Spiele auf dem Internet. Online-Games gelten als Markt der Zukunft: Im Jahr 2003 sollen damit weltweit eine Milliarde Dollar umgesetzt werden. In die amerikanischen Zockerkästen baut Microsoft daher eine Netzwerkkarte ein, die den Benutzer via Gaming-Zone mit Gleichgesinnten kurzschliesst. In Europa werden die Kunden voraussichtlich ein Modem nachrüsten können. Auch die neueren japanischen Spielkonsolen bieten dieses Feature: Sega verdient bereits mehr Geld mit dem Internetzugang als mit der Konsole selber. Microsoft ist an mehreren Telekom- und Kabelnetz-Unternehmen beteiligt und könnte so gleich doppelt kassieren. Die Internetadresse für die Xbox selbst (www.xbox.com) kaufte Microsoft übrigens dem Zürcher Unternehmer Steff Gruber für gerüchteweise 300 000 Franken ab.
Bis Microsofts Wunderkiste in den Läden steht, wird Sony voraussichtlich zehn Millionen Exemplare der PlayStation II verkauft haben. Zudem lanciert Nintendo seinen Gamecube fast gleichzeitig zur Xbox. Dennoch sind die Chancen intakt, dass Microsoft den Gamemarkt revolutioniert. Denn die Geschichte der Branche zeigt, dass mit jeder neuen Hardwaregeneration die bisherige Nummer eins abgelöst wurde. Sega drängte Mitte der Achtzigerjahre den Videospielpionier Atari aus dem Markt, wurde später selbst von Nintendo entthront, und Ende der Neunzigerjahre schnappte sich Sony die Krone. Die Xbox mit ihrem völlig neuen Konzept markiert wieder einen Generationswechsel. Setzt sich diese Serie fort, wäre der nächste Marktführer im Videogamegeschäft Microsoft. Und ebenso logisch hiesse dann der übernächste nicht mehr Microsoft. Eine Marktführerschaft wieder abzugeben, wäre für den Softwaremonopolisten aus Redmond allerdings eine völlig neue Erfahrung.
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