Es ist Mitte Februar 2004. Bei Marc Frisanco und seinem Kollegen Bharat Dube am Genfer Sitz von Richemont herrscht Alarmstufe Rot. Die beiden Männer sind für den markenrechtlichen Schutz von Luxusgütern des Konzerns – dazu gehören neun prestigeträchtige Uhrenmarken wie Cartier oder Jaeger-LeCoultre – zuständig. Via E-Mail haben Frisanco und Dube soeben eine seltsame Nachricht erhalten: Ein Unbekannter, der sich als Informatikfachmann ausgibt, bietet ihnen seine Dienste an. Er behauptet, die Website ATGWS entschlüsseln und vernichten zu können. Diese Website, die über Internet gefälschte Uhren und Montblanc-Schreibgeräte anbietet, ist Richemont ein Dorn im Auge. Wer aber ist dieser mysteriöse Kontaktmann, der nach eigenen Angaben von Australien aus agiert? Ein Hintermann und Komplize von Mark DiPadova vielleicht?

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DiPadova: Der Name dieses gerissenen Markenfälschers weckt bei den Juristen von Richemont höchst ungute Erinnerungen. DiPadova war der Erste, der wegen betrügerischer Nachahmung und Verstosses gegen das geistige Eigentum im Internet in den USA zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Für 24 Monate wanderte er hinter Gitter. Ein Schulbeispiel – und vor allem ein schöner Coup für Marc Frisanco und sein Team, die zuvor der amerikanischen Polizei und den Zollbehörden alle wichtigen Hinweise auf dem Silbertablett präsentiert hatten.

Macht der inzwischen wieder frei gekommene Mark DiPadova womöglich seine Drohung wahr? Der Betrüger kündigte im Juli 2002 an, er werde das Internet in ein «Chinatown» verwandeln. Das New-Yorker Chinesenviertel gilt als Fälscherhochburg Nummer eins.

Chronologie einer Recherche
Vom Web bis in die Hinterhöfe


Wie der Luxuskonzern Richemont einen raffinierten Uhrenfälscherring aushob. Der Krimi.


März 2001 Das Bundesgericht des kalifornischen Central District verurteilt Mark DiPadova in Abwesenheit zu einer Schadenersatzzahlung von 15 Millionen Dollar an acht Uhrenmarken der Richemont-Gruppe. Es ordnet die Schliessung von Fakegifts.com an, der Website, die Fälschungen vertreibt.


Mai 2001 Fakegifts hält den Betrieb aufrecht. Marc Frisanco, Leiter der Abteilung für geistiges Eigentum bei Richemont in Genf, eröffnet eine Untersuchung, um Mark DiPadova zu identifizieren und ausfindig zu machen. Die Untersuchung ergibt, dass Mark DiPadova fünf falsche Namen verwendet. Sie fördert ferner die Organisation zu Tage, die er für den Verkauf gefälschter Uhren über das Internet geschaffen hat.


Dezember 2001 Das Bundesgericht von Columbia, South Carolina, verurteilt Mark DiPadova zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 24 Monaten. Im Januar wird die Website Fakegifts.com geschlossen, Mark DiPadova verhaftet.


Juli 2002 Aus dem Gefängnis schickt Mark DiPadova den amerikanischen Richemont-Anwälten einen Brief. Er fordert eine Entschädigung, andernfalls werde er nach seiner Entlassung das Internet in ein «Chinatown» verwandeln, in Anlehnung an das chinesische Viertel von New York, in dem es von Fälschern wimmelt. Kurz darauf taucht die Website Replicaone.com auf, die sich als Nachfolgerin von Fakegifts ausgibt.


September 2002 Marc Frisanco und sein Team knöpfen sich Replicaone.com vor. Sie beschlagnahmen über 60 000 Dollar und wertvolle Dokumente über den Schwarzhandel. Sie entdecken, dass Fakegifts und Replicaone von Unternehmen aus Chinatown beliefert werden.


Oktober 2002 Richemont reicht Klage wegen betrügerischer Nachahmung ein. Das Unternehmen fordert von Richter Thomas P. Griesa vom Bundesgericht des Southern District des Staates New York eine Verfügung, die es zur Durchführung einer Razzia in Chinatown berechtigt.


15. Oktober 2002 Bei Beschlagnahmungen können in den Firmen JAC und Billion Fortune in Broadway ungefähr 33 000 Dokumente, 150 000 unbeschriftete Uhren sowie mit Markenzeichen versehene Uhren sichergestellt werden. Handelswert: über eine Million Dollar. Weitere 700 000 Dollar werden in Form einlösbarer Checks konfisziert. Hinweise auf das chinesische Unternehmen Thai Fung werden gefunden.


Februar 2003 Marc Frisanco ist überzeugt, dass die amerikanische JAC und Billion sowie das chinesische Unternehmen Thai Fung, ungeachtet des Verbots, weiterhin illegalen Tätigkeiten nachgehen.


April 2003 Richter Griesa verbietet Billion, Uhrenprodukte einzuführen und zu verkaufen. Er verurteilt sie zu einer Schadenersatzzahlung von 4,8 Millionen Dollar.


August 2003 Die von Richemont analysierten Dokumente führen zu Speedy Shipping. Dieses Unternehmen beliefert Websites mit gefälschten Uhren. Bei einer Hausdurchsuchung werden 750 000 Dollar in einlösbaren Checks, Bargeld sowie mehrere Tausend Zifferblätter konfisziert. Diese sind mit der Bezeichnung «Genève» beschriftet, die sich abrubbeln lässt, worauf der Namenszug «Cartier» erscheint.


März 2004 Das FBI nimmt sich der Angelegenheit an. Marc Frisanco und sein Team lassen nicht locker und heben eine Website nach der anderen aus. Bis heute 180.

Mit 4000 Zivil- und Strafprozessen pro Jahr und einem Budget von fünf Millionen Franken allein für die Marke Cartier bekämpft die Richemont-Gruppe die Fälscher an vorderster Front. Aber die Zeiten, in denen Unmengen billigster Cartier-Imitationen einfach platt gewalzt wurden, sind vorbei. Früher war der Kunde oft williger Komplize: Er kaufte bewusst eine falsche Uhr als Gag oder weil sie billig war, und man sah auf den ersten Blick, dass es sich um eine Fälschung handelte. Heute hingegen sind die Fälschungen so raffiniert, dass der Kunde mitunter überzeugt ist, er kaufe eine echte Uhr.

Überdies erlebt die Uhrenpiraterie durch das Internet einen neuen Aufschwung. Einige Websites wie Replicacenter.com empfehlen ausdrücklich die «Qualität» ihrer gefälschten Produkte, bieten eine Garantie und die Möglichkeit, mit Kreditkarte zu bezahlen. Das stiftet grosse Verwirrung.

Seit dem Jahr 2000 surfen Marc Frisanco und Bharat Dube auf ungefähr 250 Websites, die gefälschte Uhren anbieten. Sie sind fest entschlossen, eine nach der anderen zu zerstören. Die aktivste unter ihnen ist Fakegifts.com. Sie verfügt über alles, was sie dem Konsumenten gegenüber als glaubwürdige und rechtmässige Website erscheinen lässt: seriöses Zahlungssystem, anerkannte Bankverbindungen, Werbebanner. Auch ein Interview mit jenem Mann fehlt nicht, der behauptet, der Eigentümer dieser Website zu sein: ein gewisser Mark DiPadova.

Im Mai 2000 fordern die Anwälte von Richemont DiPadova per E-Mail auf, seine Geschäfte einzustellen. Der Fälscher teilt ihnen im Juli 2000 schriftlich mit, dass er den illegalen Vertrieb der betreffenden Markenprodukte aufzugeben beabsichtige. In Wirklichkeit nutzt er jedoch alle Schlupflöcher, die ihm die Informatik bietet, um seine Geschäfte fortzusetzen.

Während dieser Zeit versuchen die Leute von Richemont, den gesamten Wareneinkaufs-, Zahlungs- und Lieferprozess der Uhrenfälscher zu entschlüsseln. Sie kaufen gefälschte Ware und stossen dabei auf ein Vertriebszentrum in Lancaster, South Carolina. Sie stellen Detektive an, um die Postfächer zu überwachen.

Und was unternehmen die Polizei und die Zollbehörden? Zunächst gar nichts. Es kostet Marc Frisanco einiges an Überzeugungskraft, um sie zum Eingreifen zu bewegen. Das FBI schaltet sich schliesslich ein, als es erkennt, welch beträchtliche Summen im Spiel sind und wie die Markenpiraterie zum Waschen schmutziger Gelder dienen könnte. Die Bundespolizei verhaftet Marc DiPadova im Januar 2002 nach einer Verfolgungsjagd per Helikopter in bester James-Bond-Manier. Die Fahnder von Richemont sind zunächst überzeugt, dass die zweijährige Gefängnisstrafe für DiPadova andere Fälscher abschrecken würde. Doch weit gefehlt. Selbst hinter Gittern büsst der Internetpirat nichts von seiner Tatkraft ein.

Im Juli 2002 schreibt Mark DiPadova den Markenanwälten der Richemont-Gruppe einen langen Brief. Darin droht er, das Internet nach seiner Entlassung mit Fälschungs-Websites zu überschwemmen. Damit nicht genug: Über Hintermänner gelingt es ihm, seiner Kundschaft der geschlossenen Website Fakegifts.com das Portal Replicaone.com zu empfehlen. Marc Frisanco und Bharat Dube realisieren, dass sich Fälscher durch eine Gefängnisstrafe nicht beeindrucken lassen. Was sie antreibt, ist das Geld. Also müssen ihre Vermögenswerte beschlagnahmt und ihre Bankkonten gesperrt werden. Eine neue Strategie ist gefragt. Strafverfahren allein reichen nicht. Sie müssen durch Zivilverfahren ergänzt werden. Die Leute einzusperren, ist gut. Ihnen zudem das Geld wegzunehmen und sie dadurch ausser Gefecht zu setzen, wäre besser.

Im Kampf gegen die Internetpiraten ist der September 2002 ein Schlüsseldatum. Nachdem sie vom Richter grünes Licht erhalten haben, knöpfen sich die Männer von Richemont einen gewissen John L. vor, einen der Betreiber von Replicaone.com. Sie beschlagnahmen bei ihm 60 000 Dollar. Und sie entdecken, dass über diese Website in einem Jahr 1,6 Millionen Dollar umgesetzt wurden. Auch Adressen von Zulieferern gefälschter Waren werden sichergestellt, darunter der Name des Lieferanten Sam Liu samt Telefonnummer.

Sam Liu wohnt im New-Yorker Stadtteil Broadway, unweit von Chinatown, dem Quartier, in dem die Fälscher das Sagen haben. Zum ersten Mal ist es gelungen, eine Verbindung zwischen der virtuellen Internetwelt und der echten Welt der Fälscher herzustellen.

Jede Woche führen die US-Marshalls in den Strassen von Chinatown Razzien durch, beschlagnahmen gefälschte Waren, schliessen Geschäfte und büssen sie. Diese von den geschädigten grossen Marken unterstützten Massnahmen zeigen jedoch nur beschränkte Wirkung. Wird ein Laden geschlossen, öffnet ein anderer kurz darauf gleich um die Ecke. Die ganz am Ende der Kette stehenden, häufig zahlungsunfähigen Händler ohne Aufenthaltsbewilligung verschwinden schliesslich von der Bildfläche, ohne dass die Fälscher-Patrons behelligt würden.

Dieses Mal hingegen, so glaubt Marc Frisanco, sei ihm mit Sam Liu ein grosser Fisch ins Netz gegangen. Soll nun dieser Grossist, der sowohl Strassenverkäufer als auch Websites beliefert, dingfest gemacht werden? Nur das nicht!

Zunächst gilt es herauszufinden, wie er arbeitet. Und das ganze System zu knacken. Die Sherlock Holmes von Richemont eröffnen eine neue Website, kontaktieren Sam und bestellen zahlreiche gefälschte Uhren übers Web. Nach und nach gewinnen sie sein Vertrauen.

Wenn das Team von Marc Frisanco eine Bestellung aufgibt, erscheinen regelmässig die Namen von drei Unternehmen. Sie liegen im Umkreis von 150 Metern am Broadway. Zusammen mit den Fahndern von Richemont führen US-Marshalls am 15. Oktober 2002 in diesen drei Unternehmen umfangreiche Beschlagnahmungen durch. In den darauf folgenden Monaten erlauben die Analysen der konfiszierten Stücke, die Organisationsstruktur der Fälscher zu rekonstruieren (siehe Kasten «Vom Web bis in die Hinterhöfe»).

Zwei Unternehmen, JAC und Speedy Shipping, verschicken die Ware und lösen die Checks ein. Das dritte, Billion, importiert die Imitate, die hauptsächlich in China oder Hongkong und vorwiegend durch die Firma Thai Fung hergestellt werden. Doch in welcher Beziehung zueinander stehen die scheinbar eigenständigen Unternehmen? Beim Durchforsten der Bücher von JAC stossen die Männer von Richemont auf einen an Billion zahlbaren Check, der auf den Namen des Grossisten «Sam» indossiert ist. Die Schlinge zieht sich langsam zusammen.

Nachdem sie dem chinesischen Unternehmen Thai Fung auf die Schliche gekommen sind, beauftragen Marc Frisanco und Bharat Dube einen Ermittler in Hongkong mit Recherchen über die Firma. Aktiv wird auch der inzwischen benachrichtigte Zoll; er öffnet einige Pakete der Firma. Sie enthalten Uhrenbestandteile aus China. Bei diesem Schwarzhandel wird keine einzige fertige Uhr in die USA importiert.

Genau das macht die Arbeit der Ermittler nicht einfach, denn um eine Verletzung von Marken- und Patentrechten nachzuweisen, genügen die beschlagnahmten Einzelteile nicht. Nötig ist der Beweis, dass die fraglichen Teile dazu bestimmt sind, zu einer gefälschten Uhr zusammengebaut zu werden. Für die Ermittler kommt erschwerend hinzu, dass die Uhr nicht lange in einer Werkstatt liegen bleibt: Kaum ist sie fertig, wird sie verschickt – das lässt nur wenig Zeit zum Eingreifen. Um die Fälscher auf frischer Tat zu ertappen, ohne dabei einen entwischen zu lassen, sind viel Geduld und gute Vorbereitung gefragt.

Im August 2003 rückt der Abschluss der Ermittlungen in Griffnähe. Ein von Richemont beauftragter Detektiv folgt einem verdächtigen Paket aus China. Am Flughafen von New York wird es in einen Lastwagen verladen. Also braucht man nur dem Lastwagen zu folgen, dessen Fahrt – wie durch ein Wunder – zur Firma Billion führt. Nach einer früheren Razzia hatte Richter Thomas P. Griesa die sofortige Einstellung jeglicher betrügerischen Tätigkeiten verfügt. Nun ist der Beweis erbracht, dass die Firma sich keineswegs an diesen richterlichen Befehl hielt. Marc Frisanco frohlockt. Dieses Mal gelingt es ihm, die Piraten auf frischer Tat beim Zusammenbau der Teile, deren Herkunft und Bestimmung bekannt sind, in flagranti zu ertappen.

Den Gesellschaften JAC, Speedy Shipping und Billion wird Einfuhr und Verkauf von echten oder gefälschten Uhrenprodukten verboten. Sie werden zur sofortigen Bezahlung von 4,8 Millionen Dollar an die geschädigten Marken Piaget, Baume & Mercier, Vacheron Constantin, IWC, Jaeger-LeCoultre, Lange & Söhne, Montblanc und Cartier verurteilt.

Dies ist die höchste Busse, die in den Vereinigten Staaten je gegen einen Markenfälscher verhängt wurde. Von den gut 20 Millionen Dollar, die Richemont einfordern darf, hat das Unternehmen bereits 1,5 Millionen aus Beschlagnahmungen zurückerhalten. Darin sind die weiteren Zahlungen nicht eingerechnet, die fällig werden, sobald das New-Yorker Gericht alle hängigen Verfahren abgeschlossen hat. Und das FBI hat erkannt, welche Bedeutung der Markenpiraterie als Goldesel von Verbrecherbanden oder sogar internationalen Terroristen zukommen könnte.

Die durch die jüngsten Rückschläge misstrauisch gewordenen Internetpiraten suchen neuerdings in der Anonymität von Auktions-Websites wie E-Bay oder Yahoo Zuflucht. Marc Frisanco und sein Team müssen ihre Taktik weiter verfeinern, um auch die neusten Geheimnisse der Webpiraten zu lüften.
Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Fälschern und Ermitteln ist in eine neue Phase getreten.