Wenn sich Peter Vonlanthen über die Halbgötter in Nadelstreifen auslässt, nimmt er kein Blatt vor den Mund. Wortgewaltig prangert der Geschäftsleiter des Kaufmännischen Verbands Zürich (KVZ) ihre «grössenwahnsinnigen Akquisitionen» an, wirft den Bankoberen vor, «Millionen in fragwürdige Internetprojekte gebuttert zu haben», und kritisiert ihre «unbedachten Allfinanzstrategien», die zu kumulierten Risiken geführt hätten. «Und zuletzt», empört sich Vonlanthen, «schleichen die Topshots davon, nicht ohne sich vorher einen goldenen Fallschirm angeschnallt zu haben.»
Agent provocateur oder Prophet im eigenen Land? So falsch liegt Vonlanthen jedenfalls nicht. Der Finanzplatz Zürich blickt auf drei rabenschwarze Jahre zurück. Banken und Versicherungen leiden unter der anhaltenden Börsenschwäche. Ihre Expansionen sind gescheitert, die Erträge bis zu fünfzig Prozent eingebrochen. Und weil viele Institute den Ernst der Lage zunächst unterschätzt hatten, mussten sie schliesslich drastische Sparmassnahmen treffen. Allein in den letzten zwölf Monaten strichen sie mindestens 7500 Stellen.
In vielen Geldinstituten sorgen sich die Beschäftigten, denn eine Erholung ist nicht in Sicht. Zusätzlich verunsichert haben das Bank- und Versicherungspersonal die Prognosen des St. Galler Hochschulprofessors Beat Bernet. Der Wandel in der Branche werde über die nächsten drei Jahre weitere 20000 Stellen vernichten oder ins Ausland verlagern, sagte er vor einigen Monaten in Zürich. Quer durch die Limmatstadt macht man sich seither aufs Schlimmste gefasst.
Im Grossraum Zürich gibt es rund 250 Banken, die gut 50000 Personen beschäftigen. Hinzu kommen etwa 22000 Personen, die im Versicherungssektor tätig sind. Rechnet man finanznahe Berufe wie Treuhänder, freie Vermögensverwalter oder Anwälte hinzu, dürfte jede fünfte Person in Zürich finanziell mehr oder weniger direkt vom Finanzplatz abhängen. «Die wirtschaftliche Ausstrahlungskraft der Finanzindustrie ist gross», unterstreicht Christian Rahn, Teilhaber der ältesten Zürcher Privatbank, Rahn & Bodmer.
25 Prozent der Wertschöpfung im Wirtschaftsraum Zürich werden vom Finanzsektor erbracht; in Frankfurt sind es 15 Prozent. Die Stadt Zürich schöpfte bislang etwa die Hälfte ihrer Steuereinnahmen aus der Finanzbranche.
Wird das auch in Zukunft der Fall sein? Oder steigt die Zürcher Geldbranche in die Bedeutungslosigkeit ab? Mit solchen Fragen befasste sich kürzlich auch ein Symposium am Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon bei Zürich. Das Thema hiess: «Finanzplatz Zürich – dead or alive?» Der Befund war rasch klar: Zürichs Position als internationaler Finanzplatz wankt. Indizien dafür gebe es genug, urteilten die Fachleute.
Gefährdet sei Zürich, weil sich die Finanzwelt immer mehr nach London und New York ausrichte. Ausserdem würden viele vermögende Privatpersonen ihr Geld lieber im eigenen Land auf die Bank bringen, als es ins Ausland, namentlich in die Schweiz, zu transferieren. Der Bedeutungsverlust äussere sich auch an der Schweizer Börse SWX. Sie habe bedeutende Marktanteile an London und New York verloren. Und schliesslich würden sich andere Standorte innovativer verhalten. Luxemburg profiliere sich als Drehscheibe im Anlagefondsgeschäft, und Dublin habe steuerliche Anreize gesetzt, um Finanzkonzerne anzuziehen.
Einen wesentlichen Grund für die schwindende Bedeutung des hiesigen Finanzplatzes sehen viele Fachleute im hohen Kostendruck in der Schweiz: hohe Löhne, hohe Immobilienpreise, ein insgesamt hohes Lebensniveau – all das nagt an der Wettbewerbsfähigkeit vieler Geldinstitute. Die Situation hat sich durch die rückläufigen Kommissionseinnahmen noch massiv verschärft. Viele Banken haben es in den letzten Jahren überdies versäumt, einzelne Aktivitäten auszulagern, um zu sparen. Stattdessen hielten sie am Universalbankenmodell fest. Noch heute beraten Banker ihre Kunden, verbuchen Börsengeschäft und entwickeln neue Finanzprodukte unter einem Dach.
«Da muss die Branche über die Bücher», bekennt Raymond J. Bär, Verwaltungsratspräsident der ältesten börsenkotierten Zürcher Privatbank, Julius Bär. Vor allem in der Informatik und im Backoffice liessen sich einzelne Bereiche gut auslagern. «Die Banken müssen davon abkommen, alles selber machen zu wollen», doppelt der Ökonom Martin Janssen nach, «in der Industrie ist es schon seit langem so, dass es eine intensive Arbeitsteilung gibt. Die Finanzbranche wird in den kommenden Jahren den gleichen Weg gehen.»
Auch Rahmenbedingungen beeinträchtigen den Finanzplatz, so etwa die Stempelsteuer bei Börsengeschäften. Mit der internationalen Handelsplattform Virt-x ist die Schweizer Börse SWX auch in London präsent. Wird über das dortige System gehandelt, entfällt die Stempelsteuer. Dies hat dazu geführt, dass grössere Institute ihre Transaktionen in der Themsestadt und immer weniger in Zürich abwickeln.
Benachteiligt werden kleinere Institute auch durch Vorschriften der Aufsichtsbehörden. So müssen sie wie die Grossbanken teure Systeme zur Bemessung von Zinsrisiken aufbauen. «Angesichts der mininalen Zinsrisiken, die bei der Geschäftstätigkeit von Privatbankiers bestehen, ist das unverhältnismässig», findet Christian Rahn. Auch verfügten die Privatbanken über ein Mehrfaches der notwendigen Eigenmittel.
Der Geldbranche setzen auch Imageprobleme zu. Ob nachrichtenlose Vermögen, Diktatorengelder, Swissair-Grounding, Millionenboni und eine restriktive Kreditpolitik bei kleinen und mittleren Unternehmen: Die Schlagzeilen haben in der Schweiz wie im Ausland dem Renommee eines ganzen Berufsstandes schwer geschadet. «Wenn man sagt, man arbeite bei einer Bank, löst das keine Bewunderung aus», erklärt Rahn.
«Das Image ist schlecht», sagt Raymond J. Bär, «weil es in der Diskussion oft auch nur um das Bankgeheimnis geht.» In der Tat gibt es immer mehr auch inländische Interessenvertreter, die den Finanzplatz anschwärzen und das Bankgeheimnis abschaffen wollen. Vor allem die Privatbankiers verstehen diese Kritik nicht. «In Luxemburg etwa gehört die Linke zu den leidenschaftlichsten Verfechtern des Finanzplatzes», weiss Ivan Pictet vom gleichnamigen Institut in Genf: «Sie ist sich bewusst, dass ein Grossteil der Steuereinnahmen vom Finanzsektor stammen, was eine grosszügige Sozialpolitik ermöglicht.»
Muss der Finanzplatz angesichts all dieser Probleme um seine Position fürchten?
Hochschulprofessor Beat Bernet winkt ab: «Der Finanzplatz steht nicht in oder vor einer Krise. Das gilt natürlich nicht für jede Bank und jede Versicherung im gleichen Umfang. Aber es gilt für das System als Ganzes und damit für das, was wir als Finanzplatz bezeichnen.» Und sein Kollege Martin Janssen von der Universität Zürich ergänzt: «Insgesamt ist der Finanzplatz Zürich nach wie vor gut positioniert.»
Er hat eine hervorragende Infrastruktur und ist politisch wie wirtschaftlich stabil. Die Banker verfügen über ein immenses Know-how. «Nichts ist so ergiebig wie das Anlageberatungs- und Vermögensverwaltungsgeschäft», sagt Martin Janssen. «Wenn die Banken pro Jahr nur ein Prozent an den rund 2000 Milliarden Franken ausländischen Geldes verdienen, die in ihren Depots in der Schweiz liegen, sind das 20 Milliarden Franken Ertrag.»
Die Banken in Zürich verstehen es sogar, das Geldgeschäft mit den Reichen dieser Welt auszubauen. So akquirierte die UBS im ersten Quartal 2003 gut 17 Milliarden Franken an neuen Kundengeldern. Gute Aussichten bestehen auch im Family Office. Dabei geht es um die Betreuung von Familienvermögen von mindestens 50 Millionen Franken. Die Institute bieten dabei Dienstleistungspakete an, die neben der Vermögensverwaltung auch die Beratung in Steuer- und Erbschaftsfragen sowie juristischen Angelegenheiten umfassen. Die US-Bank J.P. Morgan Chase schätzt, dass es weltweit gut 10000 Familien gibt, die über mehr als 100 Millionen Dollar verfügen, Tendenz steigend. In der Schweiz gilt vor allem die Genfer Privatbank Pictet als Pionierin in dieser Sparte. Doch auch die Grossbanken sowie die Zürcher Bank Julius Bär wollen in dieser Domäne ihren Anteil ausweiten.
Wachstum erwartet Raymond J. Bär auch im Bereich Global Custody, der Verwaltung und Verwahrung von Vermögenswerten institutioneller Investoren und Grossanleger. Einiges verspricht man sich vor allem von wohlhabenden Kunden aus dem Nahen Osten, die seit dem 11. September 2001 aus Sicherheitsgründen ihr Geld aus den USA abgezogen und teilweise in die Schweiz transferiert haben. «Dieser Trend setzt sich fort», betont Raymond J. Bär.
Ein positives Zeichen setzte jüngst auch der Bundesrat. Ihm gelang es, in den zähen Verhandlungen mit der EU über die Besteuerung von Zinserträgen eine Lösung zu erreichen, die das Schweizer Bankgeheimnis nicht berührt. Damit ist das Bankgeheimnis bis auf weiteres gesichert. Für die Schweizer Geldhäuser stellt dies einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber Banken im Ausland dar.
Der Finanzplatz Zürich lässt sich allerdings nicht auf die Banken reduzieren. Hinter London und München ist Zürich der drittwichtigste Assekuranzmarkt der Welt. In den letzten zehn Jahren hat sich die Limmatstadt zu einem global führenden Zentrum für Risikomanagement und Rückversicherung entwickelt. Firmen wie Swiss Re, Converium oder die Zürcher Niederlassungen des deutschen Allianz-Konzerns sind führend, namentlich auch im alternativen Risikotransfer. Dabei übernehmen die Institute Risiken, die im herkömmlichen Versicherungsgeschäft kaum gedeckt werden können, wie etwa die Schäden von Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen. Daneben entwickelt sich Zürich auch zu einem der weltweit führenden Zentren für alternative Anlagen wie Hedgefunds oder Private Equity.
Einiges deutet also darauf hin: Es gibt noch Wachstumsperspektiven für die Branche – selbst nach drei Jahren, die enorm Substanz geraubt haben. Die Probleme hatten auch etwas Gutes: An der Spitze vieler Institute wurde der Generationenwechsel beschleunigt. Macht- und expansionshungrige CEO, die den Bezug zur Realität verloren hatten, mussten ihre Sessel räumen und jüngeren Managern Mitte vierzig Platz machen. Diesem Generationenwechsel gewinnt auch Raymond J. Bär Positives ab: «Die neuen Leute stellen sich vermehrt dem Zeitgeist und tragen so dazu bei, dass die Branche wieder ein besseres Image erhält.»
Viel Lob erntet etwa der frühere Credit-Suisse-Mann Rolf Dörig (45). Er liess sich im vergangenen November auf den schwierigen Job an der Spitze der angeschlagenen Rentenanstalt/Swiss-Life-Gruppe ein. Innert kurzer Zeit ist es ihm gelungen, die Fehlentscheide seiner Vorgänger zu korrigieren und den grössten Schweizer Lebensversicherer wieder auf sein Kerngeschäft auszurichten. Dörigs zielstrebiges und unaufgeregtes Handeln überzeugt auch die Börse: Seit Anfang Jahr hat der Kurs der Rentenanstalt-Aktie um fast 30 Prozent zugelegt.
Massive Verluste erlitt die Credit-Suisse-Tochter «Winterthur», bis sie zuletzt auf milliardenschwere Kapitalspritzen der CS angewiesen war. Diese Krise löste ebenfalls einen Chefwechsel aus. Anstelle des glücklosen Thomas Wellauer übernahm der Deutsche Leonhard Fischer (40) das Zepter bei der «Winterthur». Bereits wenige Wochen nach seinem Amtsantritt im vergangenen Januar richtete der frühere Investmentbanker bei der Dresdner Bank das über 125-jährige Traditionsunternehmen neu aus, indem er vor allem den überdimensionierten Verwaltungsapparat verkleinerte.
Fischer mag in der Öffentlichkeit bisweilen etwas quirlig wirken, oberflächlich ist er nicht. Im Gegenteil: Zu seinen Qualitäten zählt nicht nur seine Schnelligkeit, sondern auch seine besonnene Art. Rat sucht er gern in den Werken griechischer Philosophen, und als liebstes Hobby nennt er Nachdenken. Entsprechend überlegt umreisst er seine berufliche Herausforderung: «In der Versicherungsbranche findet ein tief greifender Wandel statt. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir künftig einen viel geringeren Gewinn aus unseren Kapitalanlagen erzielen werden. Deshalb müssen wir im operativen Geschäft profitabler werden.» Erste Resultate sprechen für ihn.
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Nach massiven Restrukturierungen ist im ersten Halbjahr auch die Credit Suisse Group wieder besser in Fahrt gekommen. Die Erzrivalin UBS segelt unter der Führung von Peter Wuffli (45) bereits seit geraumer Zeit auf Erfolgskurs. Umsichtig und diszipliniert führt der unprätentiöse Chef die grösste Schweizer Bank und hat es so verstanden, das frühere Misstrauen der Anleger zu beseitigen und der Bank eine Dynamik zu verleihen, die auch an der Börse honoriert wird.
Dass inzwischen wieder beide Schweizer Grossinstitute Erfolge vermelden können, ist eine gute Voraussetzung für den Finanzplatz, insbesondere auch für die Limmatstadt. Denn: «Zürich ist und bleibt das Zentrum unseres Finanzwesens. Hier wird die Zukunft der Schweizer Finanzdienstleistungen Gestalt annehmen», sagt Philipp M. Hildebrand (40), der jetzt ins dreiköpfige Direktorium der Schweizerischen Nationalbank aufrückt. Die obersten Währungshüter unseres Landes haben mit seiner Ernennung einigen Mut zu einer «jungen» und unkonventionellen Lösung bewiesen.
Wie nur wenige seiner Zunft verkörpert der international beschlagene Manager präzise den Typus einer neuen Generation von Top-Bankern. Hildebrand sammelte berufliche Erfahrungen beim World Economic Forum in Genf sowie bei der US-Finanzgruppe Moore Capital Management und bei der Zürcher Bank Vontobel, bevor er Chief Investment Officer bei der Genfer Union Bancaire Privée wurde. Er ist ausserdem bekannt für seine pointierten und auch gegenüber seinem Berufsstand selbstkritischen Äusserungen.
Seine Lehren aus den Umwälzungen in der Finanzbranche? «Wir können uns nicht mehr hinter analytischer Mittelmässigkeit und leeren Anlageempfehlungen wie Über- oder Untergewichten verschanzen. Unsere Kunden sind anspruchsvoller geworden. Sie verlangen eine absolute Wertsteigerung in ihren Depots und den Schutz ihres Kapitals.»
Das sind klare Forderungen an eine Branche, die sich viel zu lange vom Trugschluss endloser Prosperität hat leiten lassen. Nun muss sie sich fast von Grund auf neu erfinden. Wie wichtig dieser Prozess für die gesamte Wirtschaft ist, wissen auch die Vertreter der Arbeitnehmer. «Wir sind nicht grundsätzlich gegen Restrukturierungen», betont Willy Rüegg vom Kaufmännischen Verband Zürich, «wir wehren uns nur gegen die Kaltschnäuzigkeit, mit der das Personal in den letzten Jahren behandelt wurde.» Er verlangt, dass Banken und Versicherungen vermehrt auch Werten wie Sozialkompetenz, Vertrauen, Zuverlässigkeit und Verantwortlichkeit nachleben.
Professor Beat Bernet von der Hochschule St. Gallen formuliert es so: «In den nächsten Jahren brauchen wir wahrscheinlich weniger Reorganisatoren und Optimierer, dafür etwas mehr Philosophen. Oder, um es auf den Punkt zu bringen: Wir brauchen an der Spitze unserer Banken und Versicherungen weniger Manager, dafür etwas mehr Denker.»
Claude Baumann
Redaktor im Wirtschaftsressort der «Weltwoche», setzt sich vorwiegend mit Finanzthemen auseinander.
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