BIlANZ: Kein Versicherer ist «too big to fail». Wieso braucht die Versicherungsbranche den SST?
René Schnieper: Falls ein Versicherer in Schwierigkeiten gerät oder gar liquidiert werden muss, besteht die Gefahr, dass Kunden einen massiven finanziellen Verlust erleiden. Wird etwa ein Lebensversicherer insolvent, so könnten Versicherte einen Teil ihres Ersparten verlieren. Die Kunden davor zu schützen, ist die wichtigste Aufgabe der Versicherungsaufsicht. Der SST ist ein modernes Instrument, das der Finma erlaubt, die Solvenz der Versicherer zu beurteilen. Dies trägt wesentlich zur Stabilität und zur Transparenz des Marktes bei.
Die Versicherer haben eigene Modelle ausgearbeitet, mit denen der SST berechnet wird. Die Modelle müssen von der Finma überprüft werden. Wie ist der Stand?
Von den rund 140 Versicherern und Assekuranzgruppen verwenden etwa 70 ein sogenanntes internes Modell. Die Diskussionen mit den Versicherern im Rahmen des Genehmigungsprozesses gestalten sich intensiver als angenommen. Diverse interne Modelle befinden sich immer noch in der Entwicklungsphase. Viele Versicherer verfügen über keine genehmigungsfähige Dokumentation ihres Modells. In anderen Fällen sind notwendige Anpassungen Gegenstand intensiver Diskussionen. Ausser in den Fällen, in denen die Finma schwere Mängel festgestellt hat, erlaubt sie den Versicherern, die internen Modelle provisorisch zu verwenden. Die Verzögerung des Genehmigungsprozesses hat somit keine negativen Auswirkungen auf die Versicherer und verhindert den Aufsichtsprozess nicht.
Die EU bereitet mit Solvency II ähnliche Richtlinien vor, die 2012 in Kraft treten könnten. Wieso übernimmt die Schweiz diese nicht einfach?
Im Rückblick erweist sich die Tatsache, dass der SST bereits 2011 voll implementiert wird – und nicht erst 2012 oder 2013 –, als grosse Chance. Der SST erlaubt uns eine Früherkennung von Problemgesellschaften, gerade im Tiefzinsumfeld ist dies ein grosser Vorteil. Mit Hilfe des SST wird die Gefahr rechtzeitig erkannt. Ab Januar 2011 können auf dieser Basis auch sichernde Massnahmen durch die Finma ergriffen werden. Was die Vergleichbarkeit von SST und Solvency II angeht, so ist zu berücksichtigen, dass beide auf denselben Grundsätzen beruhen und somit ähnliche Ergebnisse liefern.
Was wird sich mit dem SST in der Versicherungsbranche ändern?
Seit den ersten Testläufen mit dem SST im Jahr 2006 hat sich das Risikomanagement verbessert. Risiken werden früher erkannt. Gelegentlich wird behauptet, der SST schränke die Firmen übermässig ein, besonders bei der Wahl ihrer Kapitalanlagen. Es muss aber betont werden, dass der SST in keiner Weise die Wahl des Geschäftsmodells limitiert. Der SST quantifiziert nur den Kapitalbedarf, der sich aus den eingegangenen Risiken ergibt. Allfällige Einschränkungen können daraus resultieren, dass das Unternehmen zu wenig kapitalstark ist. Wer Risiken eingehen will, muss über die notwendige Risikofähigkeit verfügen. Nur so können die Interessen der Versicherten geschützt werden.
René Schnieper ist Leiter des Geschäftsbereichs Versicherungen und Mitglied der Geschäftsleitung der Finma.