Monat für Monat tummeln sich ein paar Wettbewerber mehr auf der imposanten Übersichtskarte, auf der die Swisscom die hiesige Fintech-Szene abbildet. Insgesamt 217 Unternehmen sind es, welche die «Start-up Map November 2017» zieren, im Oktober waren es 211, im September 208, vor drei Jahren noch keine hundert – eine Branche im Wachstumsfieber. Und die Jungunternehmen geben sich wenig bescheiden: Wer sich durch die Webpages oder Verlautbarungen der Firmen zappt, stösst auf markige Anglizismen wie «Gamechanger» oder «disruptive», und auch der Vergleich mit Uber, dem Fahrdienst, welcher die Taxibranche auf den Kopf gestellt hat, wird gerne bemüht. Die Message dahinter: Die etablierte Finanzindustrie muss sich warm anziehen, ganz nach dem Spruch von Bill Gates: «Banking is necessary, banks are not.»
Los gings mit dem Boom vor rund fünf Jahren. Doch heute beginnt sich zunehmend Ernüchterung breitzumachen: Die reale Bedeutung von Fintech ist aller Euphorie zum Trotz klein geblieben, wie die Zahlen zeigen. Laut einer Studie der EU ist die gesamte Fintech-Industrie in Europa derzeit rund sechs Milliarden wert – allein der Börsenwert einer Bank Julius Bär ist doppelt so hoch.
Bescheidene Rolle in der Wertschöpfungskette
In der Schweiz betrug das ganze Fintech-Investitionsvolumen im letzten Jahr 168 Millionen Franken – die Credit Suisse begleitet jährlich Übernahwelmen und Finanzierungen in mehrfacher Milliardenhöhe. Auch die Kundenzahlen sind bescheiden. So verwaltet der 2013 gegründete Robo-Advisor True Wealth, einer der Trendsetter im Fintech-Markt, laut der «Neuen Zürcher Zeitung» Kundengelder in Höhe von gesamthaft über 50 Millionen Franken (das Unternehmen selbst gibt keine Zahlen bekannt). So viel kommt bei der Grossbank UBS bei einem Neugeldwachstum von quartalsweise 12,1 Milliarden in etwas mehr als neun Stunden herein – und dies Tag für Tag.
Disruptionen sind bei den Banken auch keine zu spüren – Fintech spielt in der Wertschöpfungskette eine bescheidene Rolle: «Trotz der Aufmerksamkeit, die Fintech in den letzten Jahren auf sich gezogen hat, ist ihr Einfluss in der Erfolgsrechnung von Banken kaum bemerkbar. Das wird in den nächsten drei Jahren vermutlich auch so bleiben», bemerkt die Zürcher Kantonalbank in einer Sektorstudie trocken.
Pleitewelle droht
In der Szene schwindet denn auch die Euphorie. «Die erste Phase der Begeisterung hat abgenommen», sagt Thomas Puschmann, Leiter des in Lehre und Forschung schwergewichtig auf Fintech fokussierten Swiss FinTech Innovation Lab der Universität Zürich, einer neutralen Plattform, die gemeinsam mit Start-ups und etablierten Finanzplayern neue Konzepte erarbeitet.
Dabei steht das dicke Ende für die Fintech-Szene erst noch aus – Experten erwarten eine regelrechte Pleitewelle. Johannes Höhener, Leiter Fintech bei der Swisscom, schätzt, dass rund 50 Prozent der Firmen ihre Geschäftstätigkeit in den kommenden Jahren einstellen werden. Nur rund 20 Prozent würden nachhaltig Fuss fassen können, rund 30 Prozent dürften von etablierten Playern übernommen werden.
Starke Stellung der Finanzbranche als Problem
Marc P. Bernegger, als Fintech-Investor der ersten Stunde und Gründer von Internetfirmen wie Usgang.ch oder Amiando eine feste Grösse in der Schweizer Digitalwirtschaft, zieht denn auch eine «ernüchternde Bilanz» für die Schweizer Fintech-Szene. Er sieht im Ausland klar bessere Chancen und konzentriert inzwischen 90 Prozent seiner Aktivitäten auf Investments ausserhalb der Schweiz – vor allem auf die blühende Start-up-Szene in Berlin.
Erstaunlich, denn eigentlich würde man meinen, dass das Bankenland Schweiz mit seinem im Verhältnis zur Landesgrösse gigantischen Finanzsektor eine besonders üppige Weide bietet.
Doch paradoxerweise ist es gerade die starke Stellung der Schweizer Finanzbranche, die einer stärkeren Ausweitung der jungen Fintech-Szene im Weg steht. Dies aus zwei Gründen: Erstens hat die hohe Qualität der Bankdienstleistungen in der Schweiz zu einer tiefen Verankerung bei den Kunden geführt – kaum ein Land weist so wenige Wechsel von Kundenbeziehungen auf wie die Schweiz. Zweitens haben die Banken selber tiefe Taschen, können in Ruhe das Geschehen beobachten und die wichtigsten Trends adaptieren – um dann mit viel Geld eigene, oftmals sogar bessere Lösungen hervorzuzaubern.
Auch der hohe Regulierungsstandard in der Schweiz wirkt bremsend: Eine Bankenlizenz zu bekommen, ist ein langwieriger und teurer Prozess, auch wenn die Finanzmarktaufsicht Finma die Bewilligungspraxis künftig vereinfachen will. «Der Schweizer Finanzplatz hat es geschafft, sich gut abzuschotten», sagt Investor Bernegger. Der Schweizer sei wenig preissensitiv, der Leidensdruck der Konsumenten sei klein und der Kunde daher nicht gerne zu Experimenten bereit.
Digitale Lösungen stossen im Ausland auf mehr Akzeptanz
Im Ausland ist das anders, ganz besonders in den Emerging Markets wie zum Beispiel Indien oder China. In diesen beiden Ländern ist das Vertrauen in die Banken nicht vorhanden, man vertraut aber Brands wie Facebook, Google oder Apple. Digitale Lösungen, vom Zahlungsverkehr bis zur Anlageberatung, stossen daher einfacher auf Akzeptanz. Nicht das Bankgebäude, sondern das Smartphone wird so zum Ort für Finanzgeschäfte.
Wie der indische Finanzminister Arun Jaitley am diesjährigen Kongress des Institute of International Finance (IIF) in Tokio ausführte, beschleunige die Tatsache, dass heute selbst im hintersten Dorf die meisten Leute ein Mobiltelefon besässen, die Ausbreitung von Bankdienstleistungen, ja sie ermögliche diese oft erst: Fast 100 Millionen neue Konti seien in den letzten Jahren eröffnet worden, von reisenden Bankbeamten mit wenig mehr als dem Handy im Gepäck. «In den Emerging Markets werden die früheren Entwicklungsphasen, die wir bei uns durchlaufen haben, nämlich eine Bankenwelt mit vielen Filialen und Kundenberatern, einfach übersprungen – man geht direkt aufs Smartphone», sagt Experte Puschmann von der Universität Zürich.
Selbstverständlich bietet derlei auch eine leichtere Ausgangslage für Fintech. In den weltweiten Fintech-Rankings trumpft Asien denn auch mit weitaus imposanteren Zahlen auf als Europa und die Schweiz; die USA, zwar Technik-affin, aber auch mit starkem Bankenestablishment, liegen im Mittelfeld. Doch auch hier sollte man die Relation sehen: 36 Milliarden beträgt der Wert der gesamten Fintech-Branche in den USA – allein die Grossbank J.P. Morgan ist zehn Mal so viel wert.
Kooperation statt Kampf
All diesen Zahlen zum Trotz warnt Puschmann davor, die langfristigen Effekte von Fintech zu unterschätzen, auch in der Schweiz: «Die nachlassende Begeisterung ist ein typisches Muster grosser Umwälzungen. Wir tendieren dazu, deren Geschwindigkeit zu über- und die Auswirkungen zu unterschätzen.» Eins ist aber klar: Um die grossen, etablierten Player kommt die Fintech-Branche gerade in Europa bisher nicht herum. Diese Erkenntnis setzt sich in der Schweizer Szene immer mehr durch. Nun werden neue Wege gesucht: Statt disruptiv dem Establishment an den Karren zu fahren, sucht man die Nähe – Kooperation statt Kampf lautet das Motto.
Aktuellstes Beispiel ist das Start-up Sentifi, an dem sich die Postfinance Mitte Oktober minderheitlich beteiligt hat. Sentifi analysiert und bündelt unstrukturierte Daten aus sozialen Medien wie Newsfeeds, Blogs oder Twitter und bereitet diese für Finanzinvestoren auf. Eine Win-win-Situation: Sentifi bekommt durch Postfinance den Zugang zu neuen Kunden, Letztere kann der bestehenden Klientel eine weitere Dienstleistung bieten.
Eine ähnliche Taktik wählte auch True Wealth, die eine Kooperation mir der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB) eingegangen ist. Diese hat, was viele Fintech-Firmen verzweifelt suchen: Kunden in Hülle und Fülle. Viele Fintech-Anbieter, die direkt den Endkunden im Visier haben, müssen einsehen, wie schwer de facto der Quantensprung ohne Anlehnung an einen etablierten Player ist. «Wenn man den Massenmarkt ansprechen will, macht eine Zusammenarbeit viel Sinn», sagt denn auch True-Wealth-Co-Gründer Felix Niederer. Für ihn ist die Zusammenarbeit zwischen Banken und Fintech-Start-ups gar der Trend der Stunde: «Fintech hat die Innovationskraft, die Banken den Kundenstamm», so Niederer.
UBS macht beides
Auch bei den Banken findet das Konzept der Kooperation zunehmend Rückhalt. Die UBS pflegt einen pragmatischen Umgang mit der Herausforderung durch die Fintech-Szene und macht beides: Sie kooperiert mit Fintech-Anbietern, baut aber auch selber immer mehr auf digitale Lösungen für den Kunden. So kooperiert sie etwa mit IDnow, einem deutschen Start-up, das sich auf Online- und Video-Onboarding spezialisiert hat, also auf die Eröffnung eines Kontos ohne persönliche Präsenz. Man habe sich an der Firma nicht beteiligt, aber einen Softwarevertrag mit ihr abgeschlossen, sagt Andreas Kubli, als Head Multichannel Management & Digitization Dreh- und Angelpunkt der UBS in Sachen Fintech.
Eine ähnliche Lösung besteht mit dem Schweizer Start-up Bexio, das eine Art digitalen Hub für KMUs bietet, und dem Berliner Start-up SumUp, mit dem ein mobiles Terminal für Kartenzahlungen entwickelt wurde. «Es macht keinen Sinn, dass die UBS als Bank auch noch zum Gerätehersteller wird», sagt Kubli.
Daneben agiert die UBS aber auch selber als riesiges Fintech-Unternehmen: Sie hat einen Accelerator, wo unter anderem ein Trüppchen Technikbegeisterter an digitalen Ideen tüfteln darf. Die Bank gilt als einer der Vorreiter beim Thema Digitalisierung und hat mit ihrem Anlagetool UBS Advice schon heute umfassende digitale Angebote für ihre Kunden. Auch die Credit Suisse pusht ihre Online-Strategie und unterhält ebenfalls ein Innovationslabor.
Es liegt im Interesse der Banken selber, den Anschluss nicht zu verlieren. Rudolf Bohli, der die Credit Suisse derzeit mit Aufsplitterungsplänen attackiert, beanstandete die angeblich veraltete IT-Infrastruktur der CS und riet zur Modernisierung, bevor Fintech-Unternehmen den Banksektor auf den Kopf stellten.
Doch auch bei den Fintech-Buden ist der Druck gross, kommen jene Anbieter, die auf den Endkunden setzen, alleine eben nur schwer auf einen grünen Zweig. Grund ist die Grösse des Landes, welche die Skalierbarkeit des Geschäfts – bei digitalen Angeboten generell der wichtigste Erfolgstreiber – begrenzt.
Fehlendes Vertrauen
Dass die Fintech-Firmen nicht selber schneller Kunden und Assets akquirieren können, liegt an dem oftmals fehlenden Vertrauen in die Anbieter. Vor allem die Robo-Advisor haben damit zu kämpfen. «Der Schweizer vertraut sein ganzes Geld nicht gerne einer Maschine an», sagt Adriano Lucatelli, Gründer des Robo-Advisors Descartes. Er hat daher von Anfang an die Kooperation mit etablierten Asset Managern in sein Geschäftsmodell eingebaut. Doch um jeden einzelnen Kunden muss gerungen werden, während die Banken, deren Wurzeln tief in die Vergangenheit reichen, über lange Zeit Vertrauen aufbauen konnten. «Wir dürfen jedes Jahr zwischen 100'000 und 200'000 Neukunden begrüssen – als Fintech-Anbieter braucht es einen enormen Effort, um solche Zahlen zu erreichen», so UBS-Mann Kubli.
Bei Anlageprodukten ist die Ausgangslage generell schwierig. Andere Konzepte haben strukturell bessere Erfolgschancen, weil sie nicht Gelder wollen, sondern diese vermitteln – etwa in Form von Krediten. Ein Beispiel dafür ist Loanboox, eine Onlineplattform, die Kredite für öffentlichrechtliche Körperschaften wie Kantone oder Gemeinden via Internet vermittelt. Laut Angaben von Loanboox-Gründer Stefan Mühlemann konnten bereits Finanzierungsanfragen in Höhe von über vier Milliarden Franken verarbeitet werden, bei den Gemeinden betrage die Marktabdeckung gemessen an der Einwohnerzahl fast 50 Prozent. Auch Loanboox setzt auf Kooperation mit den Banken – 30 bis 40 der insgesamt 160 Kapitalgeber für die vermittelten Kredite seien Banken.
«Schaufelverkäufer»
Gut mit Geldinstituten kooperieren auch jene Firmen, die im Grunde IT-Dienstleister sind, wie etwa die Zürcher Firma Additiv. «Wir sind, was in der Goldgräberzeit der Schaufelverkäufer war», sagt Descartes-Gründer Lucatelli, der zusätzlich als Verwaltungsratspräsident von Additiv fungiert. Das Unternehmen hat jüngst von einer von BZ-Banker Martin Ebner angeführten Investorengruppe eine Finanzspritze von 21,3 Millionen Franken bekommen. 120 Mitarbeiter beschäftigt Additiv mittlerweile – nun will man das Geld der Investoren für einen weiteren Wachstumsschub nutzen.
Am meisten Investorengelder konnte nach eigenen Angaben die Firma Centralway Numbrs einsammeln – nach einer Geldspritze der Investment Corporation of Dubai wurde das Investitionskapital auf 125 Millionen Dollar erhöht. Die Firma bietet eine Banking-App und eine Art Vertriebsplattform für Bankprodukte, vor allem im Retailbereich. Doch Geld wird noch nicht verdient – die Softwarespezialisten in den eigenen Reihen verursachen hohe Kosten, die Erträge wiederum sind bescheiden. Einst hoffnungsvoll als erstes Schweizer Unicorn gehandelt – so nennt man eine Firma mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar –, machte das Start-up diesen Frühling negative Schlagzeilen: Rund ein Drittel der 150 Angestellten wurde entlassen.
Experten sind sich einig, dass die erwartete Ausfallrate in der Schweizer Fintech-Szene in den kommenden Jahren je nach Tätigkeitsgebiet recht unterschiedlich sein dürfte. Heute ist die Branche sehr zersplittert, unzählige Player sind unterwegs, in Bereichen von einfachen Zahlungslösungen über Asset Management bis hin zum Datenmanagement. Nebst dem Bereich Lending geben Experten auch den Firmen, die sich mit Kryptowährungen befassen, recht gute Chancen, weil hier die Schweiz mit dem auf Zug konzentrierten Cluster früh eine vergleichsweise starke Stellung aufgebaut hat. Eher schlecht stehen die Chancen für den Bereich Crowdlending – «hier tummeln sich schlicht zu viele Anbieter mit sehr ähnlichen Angeboten auf dem Markt», sagt Fintech-Experte Höhener, «die Konsolidierung wird daher besonders einschneidend sein.»
Alarmsignale
Doch der Sektor, in dem man tätig ist, bildet nur ein Element für die Überlebenschance. Die wichtigste Rolle spielt die individuelle Stärke des Businessmodells. Die Swisscom pickt jeweils besonders vielversprechende Start-ups nach Kriterien wie einem «nachvollziehbaren Kundenbedürfnis» oder «professionellen Partnern» heraus. Generell ein gutes Zeichen sei stets, «wenn es tatsächlich schon etwas Einkommen gibt – selbst wenn es nur wenig ist», so Höhener.
Auch Alarmsignale gibt es. Etwa wenn eine Firma ihren Verwaltungs- oder Beirat gezielt mit klingenden Namen bestückt, die im eigentlichen Business wenig Erfahrung haben: «Das riecht schnell nach Marketing», sagt Christian König, Fintech-Berater und Betreiber des Fachportals Fintechnews.ch. Oft fehle in den Trüppchen begeisterter Techies auch ganz einfach das Bankfachwissen: «Viele Start-ups haben zwar viel Tech, aber leider wenig Fin», so Berater König. Das führt dann auch mal dazu, dass Lösungen angeboten werden, die weder der Kunde noch der Markt versteht. «Wenn man seinen Case nicht in drei Sätzen erklären kann, ist das meist keine gute Ausgangslage», meint Experte Höhener.
So besteht der wohl wichtigste Grund, dass viele Start-up-Träume in den nächsten Jahren platzen dürften, ganz einfach darin, dass die dahinterstehenden Ideen so toll auch wieder nicht sind. «Vieles ist hübsch und macht das Banking etwas effizienter», sagt Puschmann von der Uni Zürich, «aber um ehrlich zu sein: Die wirklich disruptiven Modelle habe ich in der Schweiz bisher noch nicht gesehen.»