Je sicherer sich jemand fühlt, desto mehr Risiken geht er ein. Wer ums Überleben kämpft, käme nie auf die Idee, sich aus Spass mit einem Fallschirm von einem Felsen zu stürzen. Schon gar nicht in Lauterbrunnen, wo weltweit am meisten Basejumper sterben. So etwas kommt nur jemandem in den Sinn, der in Wohlstand und relativer Sicherheit lebt.
Risikokompensation wird das in der Wissenschaft genannt oder auch Risikohomöostase. Dabei wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch ein bestimmtes Risikoniveau in seinem Leben sucht, einen Gleichgewichtszustand. Wenn also das Risiko in einem Bereich sinkt, werden Risiken in anderen Bereichen erhöht. Der Effekt wird auch ABS-Effekt genannt, weil er einst bei der Einführung des Antiblockiersystems (ABS) in Autos gemessen wurde. Je mehr Sicherheitssysteme in Autos eingebaut werden, desto «waghalsiger» fahren deren Lenker. Die in die Autos eingebauten Sicherheitsvorrichtungen (ABS, Sicherheitsgurte und so weiter) führten zwar zu einer geringeren Todesund Verletztenquote bei Fahrzeuginsassen, aber gleichzeitig zu höheren Verletzungsgefahren für Fussgänger.
Aus Letzterem lässt sich wiederum moralisches Fehlverhalten ableiten. In der Fachsprache wird das Moral Hazard genannt und ist auch in der Wirtschaft in vielen Bereichen zu beobachten. So können sich Unternehmen aufgrund ökonomischer Fehlanreize verantwortungslos oder leichtsinnig verhalten. Das trifft etwa auf jene zu, die sich aufgrund ihrer Systemrelevanz recht sicher sein können, dass sie in einer Krisensituation vom Staat gerettet würden. Das moralische Fehlverhalten liegt darin, dass diese Unternehmen ihre Gewinne zwar immer für sich behalten, dass aber ihre Verluste von der Allgemeinheit getragen werden.
Keine Rettung aus der Schweiz
In der Finanzkrise 2008 hat man das vor allem bei den Grossbanken weltweit gesehen. Jetzt, in der Corona-Krise, haben unter anderem die Fluggesellschaften schon sehr laut nach staatlicher Rettung gerufen. Die Airline-Industrie ist auch tatsächlich hart davon getroffen, dass die Leute nicht mehr reisen wollen und viele Länder die Grenzen inzwischen sowieso geschlossen haben. Damit sind die Erträge massiv eingebrochen.
So berechtigt die Hilferufe der Fluggesellschaften sind: Es sollte doch die Analyse erlaubt sein, wie gut sie auf mögliche Krisen vorbereitet waren. Dazu nutzen wir eine Kennzahl, die Edward Altman, ein Finanzprofessor, im Jahr 1968 erfunden hat, den Altman’schen Z-Faktor. Er prognostiziert, wie niedrig oder hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein bestimmtes Unternehmen pleitegeht. Wichtig dabei: Auch ein schlechter Faktor heisst noch lange nicht, dass eine Firma tatsächlich insolvent wird.
In die Berechnung des Z-Faktors nach Altmans Modell fliessen das Eigenkapital, die Bilanzsumme, die Verbindlichkeiten, der Gewinn und einige weitere Unternehmenszahlen ein.
Angewendet auf die Airline-Industrie zeigt sich, dass die privaten Billigflieger vor der Corona-Krise eine eher geringe Konkurswahrscheinlichkeit hatten. Sie können auch weniger damit rechnen, im Krisenfall vom Staat gerettet zu werden. Dazu gehören etwa die Billigflieger Southwest Airlines (USA), Spring Airlines (China), Wizz Air (Ungarn) und auch Easyjet und Ryanair (siehe Tabelle rechts). Gemäss Altman’schem Z-Faktor haben sie noch die besten Chancen, ohne staatliche Hilfe durch die Krise zu kommen.
Dagegen war bei anderen Airlines das Konkursrisiko gemessen am Altman’schen Z-Faktor schon vor der Corona-Krise relativ hoch. Darunter sind viele chinesische Fluggesellschaften wie auch Air France-KLM, American Airlines und Lufthansa.
Der Befund des Altman’schen Z-Faktors wird auch durch Aussagen der Fluggesellschaften erhärtet: Während etwa Air France-KLM und Lufthansa bereits nach staatlicher Hilfe rufen, zeigt sich Ryanair-Chef Michael O’Leary deutlich optimistischer. Er sagte öffentlich, dass die Erträge seiner Gesellschaft jetzt zwar einbrechen würden, aber auch, dass er davon ausgehe, dass das Geschäft im Mai oder Juni wieder anzieht, weil die Leute dann viel von der vom Coronavirus verhinderten Reisetätigkeit nachholen würden.
Bereits ganz laut ruft die Lufthansa nach Hilfe. Zum Konzern gehört seit dem Jahr 2005 auch die Swiss. Der Swiss-Chef hat kürzlich sogar die Frage in den Raum gestellt, ob der Schweizer Staat die Swiss stützen sollte.
Anhand der Swiss lässt sich Moral Hazard veranschaulichen, also die private Vereinnahmung von Gewinnen und die Vergemeinschaftung von Verlusten: Die Schweiz hat die Swiss mit rund 2,6 Milliarden Franken saniert, bevor sie zum Preis von 336 Millionen Franken an die Lufthansa verkauft wurde. In den Jahren darauf hat die Swiss fette Gewinne für die Lufthansa eingeflogen. Allein in den vergangenen vier Jahren kamen Gewinne in der Höhe von 2,2 Milliarden Franken aus der Swiss.
Kein Wunder also findet eine Rettungshilfe für die Swiss in der Schweizer Bevölkerung wenig Akzeptanz. In einer Abstimmung auf der Website handelszeitung.ch kann die Mehrheit der Teilnehmenden einer Rettung der Swiss nur etwas abgewinnen, wenn die Airline anschliessend auch wieder der Schweiz gehören würde.
Kommt hinzu, dass man durchaus geteilter Meinung über die Systemrelevanz einer Fluggesellschaft sein kann. Während ein gut ausgebauter Flughafen sicher systemrelevant ist, stimmt das für eine Fluggesellschaft nicht unbedingt. Solange es der Schweiz wirtschaftlich gut geht, es viele Geschäft gibt und viele Reisefreudige – so lange ist es für viele Fluggesellschaften attraktiv, die Schweiz mit ihren Leistungen zu bedienen, nicht nur für die Swiss oder die Lufthansa.
Aktienkurspflege trotz hohen Schulden
Aber die Corona-Krise ist so fatal für die Luftfahrtindustrie, dass möglicherweise weltweit alle Fluggesellschaften in Konkurs gehen könnten. Die Chefs der grössten börsenkotierten amerikanischen Luftfahrtgesellschaften haben den US-Kongress um Kredite im Umfang von 29 Milliarden Dollar gebeten. Darunter auch die relativ gut kapitalisierte Southwest Airlines. Im Brief an den Kongress versprechen die Chefs gar, dass sie ihre Löhne limitieren würden. Zudem würden sie – bis die Kredite zurückbezahlt wären – auf Aktienrückkäufe und Dividenden verzichten.
Letzteres ist schon erstaunlich: Viele Fluggesellschaften, die schon vor Corona in finanzieller Schräglage geflogen sind, haben damals noch Aktien zurückgekauft und Dividenden ausgeschüttet. Auch die Lufthansa hat im Jahr 2018 noch rund 370 Millionen Euro Dividenden an Aktionäre ausbezahlt. Dabei bestand die Bilanz damals schon zu drei Vierteln aus Schulden. Noch im Juni 2019 kündigte die Lufthansa gar an, künftig einen noch grösseren Anteil des Gewinnes an Aktionäre auszuschütten.
Dividendenerhöhungen und Aktienrückkäufe werden vollzogen, damit die Aktienkurse steigen. An den Aktienkursverläufen wiederum bemisst sich oft die Entlöhnung der Chefetage. Ein Schelm, wer dabei vermutet, dass die an sich selber denken könnten.
Natürlich geht es bei den Konkursen von Fluggesellschaften um viele Arbeitsplätze. Aber wieso soll man die Fluggesellschaft retten und nicht den Arbeitnehmenden das Geld direkt geben?