Frankie Smith krächzt viel zu laut aus den Boxen. Der DJ wippt zum Song «Double Dutch Bus» aus dem Jahr 1981 und dreht die Musik noch etwas lauter. Im fast leeren Pub tanzen sechs Frauen und Männer eine bescheidene Choreografie dazu. Es ist Freitagabend in Malvern, einem kleinen Kaff mit 3000 Einwohnern im US-Bundesstaat Pennsylvania, fast eine Stunde Autofahrt von Philadelphia entfernt. Hier würde man sie wahrlich nicht vermuten, die zweitgrösste Vermögensverwaltungsfirma der Welt.
Wie der DJ sind auch die Tänzer im frühen Pensionsalter. Wahrscheinlich haben sie auf ihre Pension mit Fonds des ortsansässigen Finanzriesen gespart, vielleicht sogar dort gearbeitet. Rund 14'000 Mitarbeiter beschäftigt Vanguard weltweit, die meisten davon in Malvern.
Prinzip der tiefen Kosten
Im Unterschied zu BlackRock, dem grössten Vermögensverwalter der Welt, und vielen anderen grossen Finanzinstituten ist der Hauptsitz von Vanguard eben nicht in Manhattan, nahe der Wall Street, in einem imposanten Hochhaus zu finden.
Das unprätentiöse Hauptquartier ist Absicht und passt zu Vanguard, deren Gedankengut bei grossen Teilen der traditionellen Finanzindustrie auf Ablehnung stösst. Die Firma hat sich dem Prinzip der tiefen Kosten verschrieben und einem genossenschaftlichen Gedanken: Anleger, die Fonds von Vanguard kaufen, werden nicht nur Kunden, sondern Mitbesitzer der Firma.
Die Fonds der Genossen gehören zu den günstigsten. Einen Exchange Traded Fund (ETF) auf den amerikanischen Aktienindex S&P 500 gibt es in Europa schon für 0,07 Gebührenprozente. Gemäss einer Umfrage von Derivative Partners bei Schweizer Anlegern ist Vanguard aber nicht nur bei den Kosten führend, sondern auch bei der Qualität.
Grossspurige Namen
Trotz des hervorragenden Leistungsausweises scheinen bei Vanguard nur die Namen der Gebäude am Hauptsitz grossspurig: «Goliath», «Majestic» und «Victory» heissen diese etwa. Die Namen nehmen Bezug auf Schlachtschiffe des britischen Admirals Lord Nelson.
Sogar der Firmenname Vanguard, was auf Deutsch als Vorhut übersetzt werden kann, geht zurück auf ein Schiff von Nelson, genauer das Flaggschiff bei der Schlacht am Nil. Dabei besiegte eine britische Kriegsflotte unter dem Kommando Admiral Nelsons im Jahr 1798 die französische Mittelmeerflotte. Mit dabei waren auch die «Majestic» und die «Goliath». Bei der Schlacht von Trafalgar im Jahr 1805 hiess das Flaggschiff dann «Victory».
Aus der Not geboren
Im gleichnamigen Gebäude ist nicht nur die Geschäftsleitung der Firma untergebracht, sondern auch John Bogle, der Gründer und Namensgeber von Vanguard. Er hat zwar keine Funktion mehr im Unternehmen, aber immer noch ein Büro. Seine Faszination für die Schiffe von Nelson stammt aus der Zeit, als er noch für die Vermögensverwaltungsfirma Wellington Management arbeitete. Wellington war gleichzeitig als britischer Feldmarschall zu Land gegen die Franzosen unterwegs, während Nelson zu Wasser siegte. Im «Victory»-Gebäude von Vanguard hängt ein Bild, welches das einzige Aufeinandertreffen der beiden zeigt.
Eigentlich hat Bogle das Finanzinstitut Vanguard aus der Not geboren. Er war Ende der sechziger Jahre schon zum Verwaltungsratspräsidenten des Vermögensverwalters Wellington Management aufgestiegen. Als solcher segnete der junge Bogle einen Zusammenschluss mit einer anderen Firma ab, was sich als extrem schlechter Entscheid herausstellte.
Bogle, damals erst 38 Jahre alt, wurde entlassen, konnte sich aber noch einen Job als Leiter einer Serviceeinheit für die Fondsmanager desselben Unternehmens sichern – Käufe und Verkäufe von Wertpapieren ausführen und verbuchen etc. Die Tätigkeit war extrem unsexy. Vor allem im Vergleich zum eigentlichen Fondsmanagement, das darüber entscheidet, welche Aktien gekauft und verkauft werden.
Bogle wollte zwar auch wieder ins Fondsgeschäft, aber es war ihm vertraglich von Wellington Management verboten. Da kam ihm die Idee mit den Indexfonds, die in der Wissenschaft bereits verbreitet war. Dabei würde kein Fondsmanager aktiv die Anlageentscheidungen treffen, sondern ein solcher Fonds würde sich passiv an einem Index orientieren (wie etwa dem Schweizer Aktienindex SMI). Für den Fonds würden einfach die gleichen Wertpapiere in derselben Zusammensetzung wie im Index gekauft.
Erhörte Gebete
Im Jahr 1973 hatte sich Burton Malkiel in seinem Buch «A Random Walk Down Wall Street» für die Entwicklung eines solchen passiven Fonds ausgesprochen. Der Nobelpreisträger Paul Samuelson schrieb im Jahr 1974 im renommierten «Journal of Portfolio Management», dass passive Fonds nicht nur günstiger seien als aktive, sondern ausserdem auch noch höhere Gewinne brächten.
Bogle konnte die Geschäftsleitung von Wellington Management überzeugen, dass er mit einem Indexfonds nicht wirklich Investmententscheidungen treffen würde, sondern eben nur passiv einen Index kopieren. Anstatt eines Fondsmanagers würde nun einfach ein Index die Käufe und Verkäufe der Wertpapiere vorgeben. Er würde also mit seiner kleinen Organisationseinheit weiter nichts anderes machen als bisher: Administration.
Das Management akzeptierte, und im Jahr 1976 hatte Bogle bereits seinen ersten Indexfonds lanciert. Als der Nobelpreisträger Samuelson vom Fonds hörte, schrieb er in seiner Kolumne in der «Newsweek», dass seine Gebete früher erhört worden seien, als er zu hoffen gewagt habe.
Vehementer Widerstand
Die Finanzindustrie bekämpfte die Idee des Indexfonds damals vehement. An ihren aktiven Fonds verdiente sie gut und hatte kein Interesse an einer günstigen Konkurrenz durch passive Fonds. Diese wurden als unamerikanisch gebrandmarkt, weil mit dem Konzept nur durchschnittliche Ergebnisse angestrebt würden.
Dennoch floss dem Fonds von Bogle bis Ende des Jahres 1976 ein Kapital von 14 Millionen Dollar zu. Heute sind es rund 300 Milliarden Dollar, die im Vanguard 500 Index Fund investiert sind, der den Aktienindex S&P 500 abbildet, den Index der 500 grössten US-Unternehmen.
«800-Milliarden-Mann»
Im «Victory»-Gebäude von Vanguard in Malvern ist auch das Fondsmanagement untergebracht. Dort sitzt etwa Gerry O’Reilly, der den grössten Indexfonds, den Vanguard Total Stock Market Index Fund, mit rund 450 Milliarden Dollar verwaltet.
Er investiert kapitalgewichtet in alle börsenkotierten US-Aktien. O’Reilly verwaltet noch weitere Fonds, insgesamt überwacht er 800 Milliarden Dollar. Wenn Besucher durch den Handelsraum geführt werden, wird immer auf ihn als «800-Milliarden-Mann» hingewiesen. Die anderen im Grossraumbüro sind es gewohnt und lachen darüber.
Achtung, Wegelagerer
Reine Administration ist die Verwaltung eines Indexfonds schon lange nicht mehr. O’Reilly muss sich heute vor Wegelagerern schützen. Da er einem Index folgt, wissen andere Anleger, was er kaufen und was verkaufen muss. Sogenannte Hochfrequenzhändler versuchen dann, kurz vor ihm zu kaufen und ihm die Wertpapiere gleich danach etwas teurer zu verkaufen. Durch geschicktes Handeln kann O’Reilly diese Wegelagerer in die Irre führen.
Zudem können Manager von passiven Fonds heute mit Zusatzgeschäften ihre Gewinne so stark aufbessern, dass es sogar möglich wird, dass sie ihren Vergleichsindex schlagen. Dazu leihen sie die Wertpapiere in ihrem Fonds gegen Zinsen anderen Investoren aus, die auf fallende Preise spekulieren wollen.
Die Zusatzgeschäfte gelingen O’Reilly gut, weshalb sein Vanguard Total Market Fund im Schnitt nur 0,01 Prozentpunkte hinter seinem Vergleichsindex zurückliegt.
Ausserordentlich ruhig
Trotz Wegelagerern und Zusatzgeschäften ist es im Handelsraum von Vanguard ausserordentlich ruhig. So gar nicht, wie man sich einen Handelsraum vorstellt. Genauso ruhig geht es auch in der Chefetage von Vanguard zu, zumindest wenn man den obersten Chefsessel betrachtet. Dort sassen bisher nämlich nur drei verschiedene Personen. Bei der Gründung im Jahr 1975 war Bogle Chef, und William McNabb III ist der dritte. Seit dem Jahr 2008 ist er an der Spitze der Firma.
Verwaltet 3,9 Billionen Dollar
Beim Antritt von McNabb verwaltete Vanguard 1,4 Billionen, inzwischen sind es 3,9 Billionen Dollar. Das sind rund viermal so viel, wie im gesamten Pensionskassensystem der Schweiz lagern oder etwas mehr als das Bruttoinlandprodukt von Deutschland.
McNabb steht jeden Morgen um fünf Uhr früh auf. Kein Wunder, mag er starken Kaffee. Normalerweise gehe er schon zwischen neun und zehn Uhr abends ins Bett, denn er brauche seinen Schlaf. Das hat auch damit zu tun, dass er einem strengen Fitnessregime folgt. Er betreibt Ausdauersportarten: Rudern und Fahrradfahren, aber auch Joggen und Schwimmen.
Dieses Jahr feiert er einen runden Geburtstag: 60 Jahre. McNabb hat drei Grosskinder, alles Buben, dreieinhalb, zweieinhalb Jahre und wenige Monate alt.
Wie die grössten Staatsfonds der Welt investieren, sehen Sie in der Bildergalerie: