Am Brexit verzweifeln im Moment alle. Auch nach der Abstimmung im Unterhaus an diesem Dienstagabend bleibt das Ende offen. Wird es ein Abkommen, kein Abkommen, ganz neue Verhandlungen mit der EU oder gar keinen Brexit geben? «Niemand weiss mit Sicherheit, wann es zum Brexit kommt und wie er dann letztlich aussehen wird», sagt Paul Casson, Fondsmanager beim britischen Anbieter Artemis, am Rande einer Presseveranstaltung in London. Eine deutliche Meinung zum Thema zu bekommen, ist dieser Tage schwierig. Bei Gesprächen auf der Strasse, mit Taxifahrern, Hotelangestellten oder den Verkäufern im Souvenir-Shop des Buckingham Palace ist die Ratlosigkeit gross.
«Stop the Brexit mess»
Die Briten sind in einer Schockstarre. Sie können nur abwarten oder sich unter die wenigen Demonstranten zwischen Westminster Abbey und Parlament in der St Margaret Street mischen, die dort jeden Tag ihre Runden drehen. «Stop the Brexit mess» ist auf den Plakaten zu lesen und «The best deal is with EU». Dazwischen huschen wenige Befürworter über die Gehsteige. Sie halten Schilder mit «Leave means leave» in den Regen. Auf Gespräche oder Fotos haben Vertreter beider Seiten keine Lust. Im Moment ist einfach allen alles ein bisschen zu viel.
Sogar die Queen mahnt
Auch unter Investoren ist mit Blick auf Grossbritannien viel Pessimismus zu spüren. Seit das Parlament das Austrittsabkommen von Theresa May mit 432 zu 202 Stimmen abgelehnt hat, haben die Sorgen noch einmal zugenommen. Selbst der schlimmste Fall, nämlich ein Brexit ohne Abkommen, vor dem sogar die Bank of England in einem Szenario deutlich warnt, scheint möglich. Denn die EU hat am Dienstag sofort klargemacht: Nachverhandlungen wird es nicht geben. In der Woche zuvor hatte sich sogar die zur politischen Neutralität verpflichtete Queen zu Wort gemeldet und zu gegenseitigem Respekt gemahnt. Ein Zeichen dafür, dass die politische Unruhe in eine Verfassungskrise kippen könnte, wie die britische Zeitung «The Guardian» kommentierte.
Kein Wunder, werden britische Aktien und das Pfund unter allen Assetklassen im Moment am meisten gemieden, wie eine aktuelle Fondsmanager-Befragung von Bank of America Merrill Lynch gerade gezeigt hat. Ein einseitiges Urteil, denn das Aktienuniversum auf der Insel bietet viele Alternativen. Interessant für Anleger sind im Moment vor allem solide Dividendenperlen, die dem kommenden Brexit-Sturm wohl standhalten dürften. Möglicherweise kann sogar das ein oder andere Schnäppchen gemacht werden, wenn der Termin für den Brexit näher rückt und die Nerven blank liegen.
Finanztitel, Öl- und Gesundheits-Unternehmen
Zu den Dividendenzahlern gehören vor allem Finanztitel, Energie- und Öl-Unternehmen sowie Gesellschaften aus dem Gesundheitsbereich. Dem britischen Versicherungskonzern Aviva beispielsweise trauen Bankanalysten eine Dividendenrendite von 8,14 Prozent für 2019 zu. Im zurückliegenden Geschäftsjahr sollten gemäss Bloomberg-Schätzungen immerhin 6,9 Prozent möglich sein. Aviva zählt mit 33 Millionen Kunden zu den grössten Versicherungsgesellschaften weltweit. Das Unternehmen ist in mehr als 16 Ländern aktiv. In Grossbritannien ist Aviva im Bereich Schadenversicherungen sowie Lebens- und Rentenversicherungen aktiv. Der Konzern hat eine grössere Restrukturierungsrunde hinter sich und sich den neuen regulatorischen Bedingungen in Grossbritannien angepasst. Die Integration der übernommenen Friends Life Group scheint abgeschlossen. Die Aktienexperten von UBS Wealth Management sehen das Unternehmen als gut kapitalisiert für künftige Ausschüttungen und sind zuversichtlich, was das Gewinnwachstum betrifft.
Immerhin 18 von Bloomberg befragte Analysten empfehlen die mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis 7 für die nächsten zwölf Monate günstig bewerteten Titel zum Kauf. Nur fünf raten zum Halten. Zum Jahreswechsel kamen die Titel stark unter Druck und konnten die Verluste erst zum Teil wiedergutmachen.
Öl-Aktien günstig bewertet
Ein weiterer Finanztitel, der Anleger mit seiner Dividende lockt, allerdings etwas risikoreicher wird, je näher das Brexit-Datum rückt, ist HSBC. Grösste Märkte sind Grossbritannien und Hongkong, wo das Retailbanking des Bankhauses sehr stark ist. HSBC hat ebenfalls Restrukturierungen hinter sich und hat die Bilanz aufgeräumt. Möglicherweise steht ein Aktienrückkaufprogramm an, wie in der Finanzcommunity spekuliert wird. Die Dividendenrendite ist mit geschätzten 5,9 Prozent überdurchschnittlich.
Die beiden Energie- und Ölriesen BP und Royal Dutch Shell geizen ebenfalls nicht mit Auszahlungen an die Aktionäre. Gerade in schweren Zeiten, nach der Öl-Katastrophe im Golf von Mexiko und nach dem Aufkommen alternativer Fördertechniken waren die Dividendenrenditen die wirksamsten Lockmittel, um die Aktionäre bei der Stange zu halten. Mittlerweile haben sich beide Unternehmen repositioniert und sind effizienter geworden. Die enormen Kosteneinsparungen führten in den letzten beiden Jahren zu einem soliden Gewinn- und Barmittelwachstum. Der wieder tiefe Ölpreis könnte den Lauf jedoch in den nächsten Quartalen ausbremsen. Mit Blick auf das KGV von 12 (BP) und 11 (Shell) sind die Titel günstig bewertet. Die geschätzten Dividendenrenditen liegen bei attraktiven 6,4 Prozent (BP) und 6,2 Prozent (Shell).
Erfolge in der Krebsforschung
Im Gesundheitsbereich ragt Astra-Zeneca heraus. Das Unternehmen hat den Verlust wichtiger Patentrechte von Blockbustern wie Crestor und Symbicort kompensiert und investiert nun stark in die Forschung und Entwicklung von Krebsmedikamenten. Gerade erst wurden mit Imfinzi und Tagrisso zwei wichtige Präparate gegen Lungenkrebs sowie Lynparza gegen Eierstockkrebs lanciert. Auf der Medikamentenpipeline liegen insgesamt grosse Hoffnungen. Auch soll der ungewöhnlich hohe Marktanteil in China ausgebaut werden. Das Management will trotz den hohen Investitionen an den Dividendenausschüttungen festhalten (Rendite 3,8 Prozent). Die Titel sind mit einem KGV von 19 allerdings hoch bewertet.