BILANZ: Werner G. Seifert, als Chef der Deutschen Börse versuchten Sie jahrelang, die Londoner Börse zu übernehmen – und scheiterten. Jetzt beteiligte sich die New Yorker Nasdaq in London. Ein Grund für Wehmut?

Werner G. Seifert: Nein, ich betrachte die Vorgänge in der Börsenwelt nach meinem Rücktritt mit Gelassenheit und kann mir ein Schmunzeln nur schwer verkneifen.

Weshalb?

Es gibt zu viele Börsen auf dieser Welt, das ist klar. Nun ist die Konsolidierung im Gang. Der Schritt der Amerikaner zeigt, dass sich das Spiel um London dreht – wie wir voraussagten. Deshalb planten wir ja die Übernahme.

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Weshalb gerade London?

London ist für die Finanzwelt, was der Petersdom für die Katholiken ist. Im Aktienhandel hält London einen Marktanteil von 38 bis 40 Prozent, Frankfurt 13 Prozent, die Euronext 14 Prozent. Das heisst, weder Zürich, Mailand, Paris noch Frankfurt können London das Wasser reichen. Nur wer mit London zusammenspannt, schafft einen Marktanteil von über 50 Prozent. Und wer das hinkriegt, entfaltet eine Sogwirkung, die weiteres Geschäft erst anzieht.

Jetzt haben die Amerikaner zugepackt. Was bleibt den Europäern?

Ich möchte die 15 Prozent, welche die Nasdaq an der London Stock Exchange gekauft hat, nicht überbewerten, aber diese Allianz spaltet den europäischen Aktienmarkt, und sie erschwert die Schaffung eines einheitlichen europäischen Marktes. Letztlich könnte dies die unzureichende Effizienz des europäischen Kapitalmarktes zementieren.

Inwiefern?

Grosse deutsche oder schweizerische Unternehmen könnten nach London abwandern – weil dort Liquidität und Kapital verfügbar sind und weil man gleichzeitig

einen Fuss im US-Kapitalmarkt hat. Wenn dies geschieht, dann werden auch die Regeln für die Kapitalmärkte von aussen, von London und New York, bestimmt. Es geht also für die Kontinentaleuropäer um viel.

Sie sind ein Verfechter europäischer Fusionen im Börsengeschäft.

Richtig. Eine Börse ist eine Hightechmaschine, die Transaktionen verarbeitet. Bis die Maschine einmal steht und läuft, fallen zwar hohe Fixkosten an, diese verdünnen sich aber, wenn man möglichst viele Aktien, Fonds und Rentenpapiere handelt. Schiere Grösse also ist entscheidend. Letztlich profitiert davon auch der Anleger, indem bei einem Aktienhandel seine Transaktionskosten sinken. Allein durch die Vereinheitlichung der kapitalmarktrelevanten Systeme in Europa liessen sich grob vier Milliarden Euro sparen. Diese Summe legen heute letztlich die Anleger drauf.

Auch auf die Schweizer Börse warfen Sie 2004 ein Auge – und blitzten ab.

Als ich noch Chef der Deutschen Börse war, habe ich den Verantwortlichen der Schweizer Börse SWX gesagt, was ich für richtig halte.

Sie schlugen eine Fusion vor. Die Schweizer haben sich geziert.

Die Schweizer Börse SWX entschied sich damals leider anders. Ihre Unabhängigkeit war ihr am Ende heilig. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Immerhin taten Sie sich 1998 mit der SWX zusammen und bauten die Eurex, eine gemeinsame Derivatbörse, auf.

Die Eurex ist nicht nur die Nummer eins im globalen Handel mit Derivaten, sie ist auch hochrentabel. Jörg Fischer, der langjährige SWX-Präsident, und ich trafen uns damals in einem Restaurant in Aegeri ZG und entwarfen auf einer Serviette das Konzept dieser neuen Börse.

Nun hat die Schweizer Börse einen neuen Präsidenten: Peter Gomez. Eine taugliche Wahl?

Peter Gomez ist ein sehr reputabler Mann.

Er ist Professor an der Hochschule St. Gallen, hat kaum Kenntnisse der Börsenbranche – ein gewichtiger Nachteil.

Überhaupt nicht. Peter Gomez wird Präsident und nicht operativer Chef der Börse. Ich war CEO der Deutschen Börse und auch kein Spezialist, als ich ins Amt berufen wurde.

Unerfahrenheit als Vorteil?

Man hat dafür vielleicht die Augen offen für grössere Trends. Zudem: Der Betrieb einer Börse ist eigentlich ein simples Geschäft. Das Schwierige sind die Beherrschung der Technologie und das Entwerfen und Umsetzen einer Strategie. Man braucht also nicht im Detail zu wissen, wie eine Aktie gehandelt und verrechnet wird.

Sie verliessen die Deutsche Börse vor einem Jahr. Was tun Sie jetzt?

Seit einem halben Jahr wohne ich an der Atlantikküste bei Cork in Südirland. Nun leiste ich mir den Luxus, segeln zu gehen, wenn der Wind stimmt, oder auf meiner Orgel zu üben.

Mit 57 Jahren in Frührente?

Ich bin nicht unterbeschäftigt. Ich berate ein paar Organisationen. Hinzu kommt meine Passion für die Musik. Vor zwei Jahren riefen ein deutscher Industrieller und ich die Jazzformation Jazz X-Change ins Leben, nahmen drei Profimusiker auf die Payroll und treten seither gemeinsam auf. Die Investition lohnte sich, die drei Burschen brachten uns viel bei. Letzten August spielten wir unser Erstlingswerk ein.

Wie läufts?

Wir sind völlig überrascht. Wir erleben einen Boom. Unsere Tournee wird länger und länger: Für dieses Jahr haben wir 50 Gigs gebucht. 20 haben wir absolviert.

Jazz – das neue Profitcenter des Werner G. Seifert?

Nein, nein. Wir scherzen oft: Jazz muss man sich leisten können. Wir wollen mit unserer Formation nicht primär Geld verdienen, aber wir möchten eines Tages auch keines mehr reinstecken. Nur: Der Spass steht im Vordergrund. Ich spiele auf einer Hammond-Orgel aus dem Jahr 1959, ein Wunderwerk aus massivem Holz und mit viel Mechanik. Das Ding wiegt alleine 400 Kilo. Mittlerweile brauchen wir einen Transporter mit Personal, damit wir unsere Gerätschaft zu den Konzerten transportieren und aufstellen können. Wir treten in Clubs, in Unternehmen oder bei Managementtagungen auf. Für Letztgenannte haben wir das Programm «Jazz und Management» entwickelt. Wir ziehen Analogien zwischen Management und Jazz. Da gibt es viele Parallelen.

Als Börsenchef führten Sie ein Unternehmen mit rund 3300 Mitarbeitern, jetzt spielen Sie in einer Combo mit fünf Leuten. Wo bitte sind die Parallelen?

Die meisten Firmen funktionieren heute wie Symphonieorchester, alle hören auf den Dirigenten, jedes Instrument sitzt vor dicken Partituren. Dann geht es los. Das Ergebnis ist eine hochkomplexe Symphonie mit ziemlich vorhersehbarem Ergebnis – eine eher statische Angelegenheit also. Eine moderne Unternehmung, die sich schnell verändern will oder muss und die keine Zeit mehr hat, immer neue Partituren zu schreiben, ähnelt eher einer Ansammlung von Jazzbands. Ein Bandleader umreisst ein Thema, die Musiker improvisieren in diesem Rahmen.

Jazz als antiautoritäre Veranstaltung?

Eben nicht. Ziel ist es, die Regeln der Harmonie einzuhalten und trotzdem frei zu spielen. Es gibt also ein Minimum von Strukturen, darum herum muss man improvisieren. Duke Ellington, Charlie Parker oder Miles Davis haben das vorgemacht. Diese Bipolarität des Jazz gilt auch für Unternehmen in dynamischen Märkten. Und: Beim Jazz kriegt man nach einem Solo sofort ein Feedback des Publikums – der Markt reagiert also in Real Time. Bei einem Symphonieorchester hingegen kriegt das gesamte Ensemble am Schluss Applaus.

Sie haben stets Musik gemacht und Bands produziert. War das Führen eines börsenkotierten Konzerns kein Full-Time-Job mit 16-Stunden-Tagen?

Klar war es intensiv, aber alles ist eine Frage der Prioritäten. Ich spiele nicht Golf, sammle keine Briefmarken, habe nie das Gesellschaftsleben gepflegt. Meine Freizeit widme ich der Musik. Es ist ohnehin meist übertrieben, wenn einer behauptet, er arbeite 16 Stunden am Tag. Bei einem meiner früheren Arbeitgeber, McKinsey, hat es geheissen: «One-winged birds can’t fly.» Selbst im Übernahmekampf um die Londoner Börse, als es besonders hektisch war, ging ich jeden Sonntag zur Probe oder zum Konzert. Das habe ich eisern durchgehalten.

Sie beschreiben den Übernahmekampf im Buch «Invasion der Heuschrecken». Eine Abrechnung mit dem internationalen Grosskapital?

Überhaupt nicht. Ich zeige nur, wohin ungehemmter Kapitalismus führt. Und dass wir im Kapitalmarkt dringend neue, verbindliche Regeln brauchen.

Renditeorientierte Fondsmanager erscheinen als das Übel dieser Welt.

Falsch.

Sie attackieren Hedge Funds und behaupten, diese umtriebigen Aktionäre würden Firmen und ganze Märkte bedrohen. Das ist völlig überzeichnet.

Halt, ich habe nichts gegen Hedge Funds oder gegen andere institutionelle Aktionäre, die sich an die Spielregeln halten, im Gegenteil. Ich attackiere aktivistische Minderheitsaktionäre, die ein Unternehmen plündern und auf diese Weise dem Unternehmen ein Stück Zukunfts-fähigkeit wegnehmen wollen – und sich dabei aufführen wie Mehrheitsaktionäre.

Das Problem ist doch, dass viele Aktionäre zufrieden schweigen, solange die Rendite stimmt.

Das wiederum birgt die Gefahr, dass eine lautstarke Minderheit in einer schwach besuchten Generalversammlung den Ton angeben kann. Das macht es für eine kleine, aggressive Investorengruppe einfacher, massiven Einfluss auf die Strategie eines Unternehmens auszuüben. Nehmen Sie den Fall General Motors: Die Aktienrückkaufprogramme kosteten den Konzern Milliarden. Das Geld ging an die Aktionäre, doch später fehlte es, um Innovationen voranzutreiben. Heute geht es GM, wie man lesen kann, nicht ganz so rosig.

Dann postulieren Sie also eine Aufteilung der Aktionäre – hier die guten, dort die schlechten. Die guten sind der Meinung des Managements, die schlechten machen Zoff und haben es auf kurzfristigen Profit abgesehen?

Diese Interpretation lasse ich nicht gelten. Ein Manager darf nie den Anlagehorizont eines Aktionärs kritisieren. Es gibt Anleger, die haben langfristige Ziele, andere kurzfristige. Daran ist nichts schlecht.

Befürchten Sie nicht, dass Sie nun von links usurpiert werden und als Kronzeuge gegen das vaterlandslose Kapital herhalten müssen?

Vaterlandsloses Kapital? Das ist nicht mein Vokabular. Das Gegenteil ist wahr: Kapital soll global einsetzbar sein, denn das Vermögen einer Person oder Institution sollte nicht nur in einem einzigen Land investiert werden, sondern aus Diversifikationsgründen in verschiedenen Ländern. Ihre Bezeichnung wäre also eine Verunglimpfung dieser Anlagestrategie.

Vizekanzler Franz Müntefering hat im deutschen Wahlkampf die Heuschrecken-Debatte lanciert und scharf gegen internationale Investoren geschossen. Gefällt Ihnen dieses politische Umfeld?

Ich machte nie auf Klassenkampf, im Gegenteil. Ich habe mich immer für freie Märkte und Deregulierung eingesetzt. Ich will, dass unser aller Freiheit erhalten bleibt. Kapitalismus generiert Gewinner und Verlierer. Es geht darum, ob wir freie Kapitalmärkte in Gefahr bringen durch Verlierer, die sich mit Politikern zusammentun, um freie Märkte auszuhebeln.

Der Übernahmekampf rund um die Londoner Börse war geprägt von einer schrillen Medienkampagne. Sie wurden als «Napoleon vom Main» bezeichnet, als Super-Ego. Hat Sie das getroffen?

Mein Aufsichtsratsvorsitzender, Rolf Breuer, stand und steht viel stärker im Rampenlicht als ich. Er hat mir einmal geraten, Kritik, die auf die Person zielt, abtropfen zu lassen. Wer das Verunglimpfende zu ernst nimmt, der wird nie mehr glücklich werden. Diesem Grundsatz hab ich nachzuleben versucht.

Mit Erfolg?

In den letzten Jahren ja. Für einen Manager sind Aktionäre, Mitarbeiter und der Verwaltungsrat entscheidend. Das Einzige, was mich in jüngster Zeit persönlich traf, war die einzige kritische Berichterstattung zu unserer neuen CD im Fachmagazin «Jazz Podium». Beschwichtigt hat mich hingegen, dass es die CD in den deutschen Jazzcharts auf Platz 19 schaffte.

Sie kritisieren die schamlose Abzockermentalität aggressiver Investoren. Als Chef der Deutschen Börse verdienten Sie 2,6 Millionen Euro im Jahr. Ein gerechter Lohn?

Ich war gut bezahlt, kein Zweifel, doch letztlich kann kein Manager von sich behaupten, er sei eine oder 15 Millionen wert. Meine Lohnsumme war eine Frage von Angebot und Nachfrage und von Verhandlungsgeschick. Ich hätte es wohl auch für weniger Geld gemacht, weil mir der Job gefiel, und vielleicht hätte ich besser verhandeln können – und hätte noch mehr verdient.

Aber vergessen Sie nicht: Als ich den Posten als Börsenchef übernahm, war das ein verschlafenes Unternehmen mit 100 Mitarbeitern, heute hat die Deutsche Börse 3300 hoch qualifizierte Mitarbeiter und einen Börsenwert von über 10 Milliarden Euro.

Da halten Sie auch Ihre Abfindungssumme von fast zehn Millionen Euro für angemessen?

Mein Aufsichtsrat und ich schlossen Verträge ab, die das Management mutig machen sollten, damit es nicht einfach nur die Eigenposition verteidigt und sich am Sessel festhält. Heute gehört die Deutsche Börse zu den respektabelsten Unternehmen Deutschlands.

Sie meinen, eine Abfindung muss möglichst hoch sein, damit der CEO mit Gelassenheit seine Strategie durchziehen kann, weil er bei einem allfälligen Scheitern weich fällt?

Hoch ist ein relativer Begriff. Es wäre traurig, wenn ich die Abfindung gebraucht hätte, um finanziell unabhängig zu sein. Nein, Vorstandsverträge haben eine mittelfristige Laufzeit und enthalten Kompensationsmechanismen, wenn sie vorzeitig beendet werden. Damit gibt das Unternehmen einem Manager das Gefühl, langfristig arbeiten zu können.

Wie hat der ehemalige Börsenchef sein Geld angelegt? Kann man etwas lernen?

Nein.

Aktien?

Ich habe mein Leben lang nie Aktien besessen. Die Aktie weiss schliesslich nicht, dass ich sie halte. Ich hatte und habe keine Lust, mich allzu intensiv mit meinen Kapitalanlagen zu beschäftigen oder regelmässig mit einem Broker zu telefonieren. Vermutlich habe ich mit meinem Verzicht auf Aktien freiwillig auf eine möglichst hohe Rendite verzichtet. Es gibt wichtigere Dinge im Leben, als Geld zu zählen.

Wer zählt für Sie?
Ich habe zwei Vermögensverwalter. Im Übrigen pflegte ich nie einen überschwänglichen Lebensstil. Status hat mir nie etwas gesagt. Ich hatte als CEO der Deutschen Börse keinen Chauffeur, kein separates Chefbüro. Und auch die Krawatte habe ich irgendwann abgelegt. Weil keine Korrelation zwischen Krawatte und Produktivität existiert.

Werner G. Seifert

Er stammt aus der Industriestadt Winterthur, doch Karriere hat der heute 57-Jährige in den USA, Japan und Deutschland gemacht. Seifert arbeitete nach der Dissertation für McKinsey, Schweizer Rück und die Börse in Frankfurt. Als Chef der Deutschen Börse formte er aus einem verstaubten Betrieb einen hochrentablen Konzern mit 3300 Mitarbeitern. 2005 trat der Schweizer nach schrillem Übernahmekampf um die Londoner Börse zurück. Im Buch «Invasion der Heuschrecken» (Econ Verlag, 2006) schildert er die Vorgänge um den gescheiterten Takeover.