Was glitzert und leuchtet da des Nachts in bläulichem Licht im tiefen Flussbett der Mur? Wie ein Ufo, das lange Fangarme auf beide Seiten zu den Ufern streckt, wirkt das Ding bei einem ersten nächtlichen Spaziergang durch Graz. Mag sein, dass die vorzüglichen südsteirischen Weine, die vorher das Mahl begleiteten, die Science-fiction-Vision beflügeln.

Am andern Morgen ist Graz jedenfalls ganz bodenständig. «Gemüse – Blumen – Sauerkraut» preist ein Schild am Bauernmarkt auf dem Franz Josef Platz an. Die Stände, an denen auch Speck und Schinken, Käse und Kürbiskernöl und was die Bauern aus der Umgebung sonst noch produzieren angeboten werden, lassen dem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammenlaufen. An Imbissständen, die teils zu veritablen kleinen Lokalen ausgebaut sind, kann man sich gleich vor Ort verpflegen, zum Beispiel bei «Sissy’s Bratfett u. Prosecco».

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Und bei Tageslicht entpuppt sich das nächtliche Ufo als futuristische Stahlkonstruktion, die als «Insel in der Mur» vom New Yorker Künstler Vito Acconci entworfen wurde. Zum Jahr als Kulturhautpstadt Europas wurde das Gebilde erstellt, das zwei offene Muschelschalen symbolisiert. Darauf können Veranstaltungen durchgeführt werden, und es gibt ein Café. «Symbol für die kulturelle und vitale Vielfalt von Graz», so die Promotoren, soll das Muschel-Ufo sein. Führt die Mur wenig Wasser, liegt die «Insel» im Flussbett, bei hohem Wasserstand soll sie schwimmen. Die «Fangarme» sind Fussgängerbrücken, die den modernen Kunstbau mit der Altstadt verbinden. Einer Altstadt, die von der Unesco in den Stand eines Weltkulturerbes erhoben wurde.

«Friendly Alien» am Südtiroler Platz
Graz sei «in fast allem eine Stadt der Gegensätze», schrieb die bekannte österreichische Journalistin und Buchautorin Eva Menasse kürzlich. «Graz hat auf eine besonders intensive Weise zwei Seiten, eine strahlende und eine abgründige.» Dies auszuloten ist bei einem Kurzbesuch in der etwa in der Mitte zwischen Wien und Zagreb liegenden Stadt kaum möglich. Augenfällig ist indes der Gegensatz der weit gehend denkmalgeschützten Altstadtbauten aus verschiedenen Epochen und der modernen Bauten mittendrin oder drumherum. Wobei in der Gegensätzlichkeit durchaus auch Harmonie liegt. In Fachkreisen werde Graz «nicht selten Österreichs geheime Hauptstadt der Architektur genannt», schreibt der Herausgeber eines Bandes zur Architektur der Stadt. Anderswo steht, Graz sei die heimliche Literaturhauptstadt. Aber da Österreich mit Wien wohl eine einzige Hauptstadt für fast alles hat, ist Graz als zweitgrösste Stadt des Landes natürlich dazu prädestiniert, für fast alles die «geheime» Metropole zu sein.

Zum Beispiel für Bauwerke, die wie aus einer anderen Welt aussehen. Denn nur wenige Schritte vom Ufo in der Mur stösst der Flaneur schon wieder auf ein seltsames Gebilde. Zwar ist ein Teil noch eingerüstet, eine Baustelle, doch die Konturen sind zu sehen. Aus einer zeppelinartigen Riesengurke ragen Rohre he-raus, die wie gekappte Gefässe eines inneren Organs aussehen, einer Lunge oder eines Herzens. In luftiger Höhe führt ein gläserner Steg bis zu einem Altbau, der am Südtiroler Platz steht.

Als «Friendly Alien» wird der Bau bezeichnet, der ab Oktober dieses Jahres das Kunsthaus Graz beherbergen wird. Der Altbau auf der einen Seite ist das denkmalgeschützte «Eiserne Haus», eine Gusseisenkonstruktion mit markanten Säulen. Von dort wird man das Kunsthaus betreten, ein Laufband wird den Besucher hinauf in die grosse Blase bringen, die teilweise transparent ist. Geschaffen wurde dieser Aufsehen erregende Bau durch das Londoner Büro Spacelab der Architekten Peter Cook und Colin Fournier. Auch wenn sie Briten sind: auch hier spielt die für Graz irgendwie typische Verbindung von Altem mit Neuen. Und ein gewisser Hang zu architektonischer Extravaganz.

Ein Schloss mit 365 Fenstern
Aussergewöhnliche Bauten entstanden in dieser Stadt auch in früheren Epochen. So zum Beispiel Schloss Eggenberg in einem riesigen Park etwas ausserhalb des Stadtzentrums: Der Palast aus dem 17. Jahrhundert verfügt über vier Türme, welche die Jahreszeiten symbolisieren, über zwölf Tore für die Monate – und 365 Fenster für die Tage. Oder der mehrstöckige Arkadenhof des Landhauses mitten in der Altstadt: Das Kunstwerk des Festungsbauers Domenico dell’ Allio aus dem 16. Jahrhundert gilt als der bedeutendste Bau der italienischen Renaissance im deutschsprachigen Raum.

In der Altstadt, von der Unesco 1999 in die World Heritage List aufgenommen, gibt es zwischen hevorragend erhaltenen Bauensembles aus praktisch allen Epochen der letzten tausend Jahre, etwa Gotik, Renaissance und Barock, immer wieder moderne Akzente. Es gibt zahlreiche cool gestylte Szenelokale und stilvoll-moderne Restaurants in altem Gemäuer. Doch im Haus nebenan bietet nicht etwa ein «Hair Stylist» seine Dienste an, sondern ein «Frisiersalon».

Von Sacher-Masoch bis Autodesign
Ausserhalb der ebenso schmucken wie gepflegten Altstadt, die von einem grossen Stadtpark eingerahmt und vom Schlossberg überragt wird, bröckelt indes öfter der Putz von den Fassaden unansehnlicher Überbauungen, die Strassen sind staubig und die Gegend enspricht ein bisschen dem, wie wir uns Osteuropa vorstellen. Dazu mögen auch für uns exotisch-antiquiert wirkende Hausanschriften wie Fleischhauerei oder Rauchfangkehrmeister beitragen. Und das kühle, graue Wetter zur Zeit des Besuchs – bei warmem Sonnenschein sieht alles schöner aus.

Auf jeden Fall hat Graz Charme. Und die Stadt weiss sich zu verkaufen. Zum Beispiel jetzt unter dem Logo «Graz03» als Kulturhauptstadt Europas. «Die mulitkulturelle Tradition, die den Charakter der Stadt seit Jahrhunderten prägt, wird in Graz heute als Fundament seiner kulturellen und politischen Identität verstanden», hiess es in der Kulturhauptstadt-Bewerbung
vor sieben Jahren. Das multikulturelle «Graz03»-Programm ist ein 500-Seiten-Wälzer. Vom Sacher-Masoch-Festival – der Schriftsteller und Ahnherr des Begriffs Masochismus war ein Grazer – bis zur Auto-Design-Schau – Graz hat eine bedeutende Autoindustrie; hier werden Mercedes, Chrylers und Jeeps gebaut – gibt es kleine und grosse Veranstaltungen übers ganze Jahr verteilt. Über tausend sollen es ingesamt sein. Das ganze Jahr über bestehen bleiben ein paar künstlerische Interventionen, die sich, wiederum typisch für Graz, mit neuen Installationen auf Altes beziehen. So hat der Künstler Markus Wilfing dem Uhrturm einen «Schatten» in Form eines schwarzen Doppelgängers beigesellt. Die ironische Inszenierung führt zu einem neuen Blick auf das Grazer Wahrzeichen am Schlossberg und zeigt auf stupende Weise, wie Bewegung und Umgebung die Wahrnehmung beeinflussen. Eine neue Perspektive bietet der «Marienlift» des Künstlers Richard Kriesche seinen Benutzern: Der gläserne Liftturm steht neben einer Säule, auf der eine Marienfigur thront, und nun kann das gemeine Volk zur heiligen Maria hinauffahren und ihren Blick auf die Stadt nachvollziehen.

Das Ufo hebt nicht mehr ab
Das Unternehmen Kulturhauptstadt bringt der Stadt nicht nur temporäre Veränderungen, es hat auch einer Reihe «nachhaltiger» Projekte Schub verliehen. So wurde zur «Graz03»-Eröffnung die Helmut-List-Halle mit einer Musiktheaterinszenierung eröffnet, ein Literaturhaus entsteht, ein Kindermuseum soll folgen. Das Kunsthaus wird endlich gebaut, nachdem ein Vierteljahrhundert lang Pläne und Projekte gewälzt wurden. Und das Ufo wird nach diesem Jahr nicht zu einer Reise in eine andere Welt abheben, sondern fest in der Mur verankert bleiben und zusammen mit dem neuen Kunsthaus zu den ersten Wahrzeichen des Graz des neuen Jahrtausends werden.

Graz-Infos
Graz Tourismus, Herrengasse 16, A-8010 Graz
Tel. 0043 316 80 750, info@graztourismus.at, www.graztourismus.at

Kulturhauptstadt Graz03, Mariahilfplatz 2, A-8020 Graz
Tel. 0043 316 2003, info@graz03.at, www.graz03.at