Jahrelang gab es für die Anleger nur eine Aktienkategorie: die Bluechips. Doch heute machen die an den Wachstumsbörsen kotierten aufstrebenden Unternehmen die Musik. Während die Bluechips in den USA im laufenden Jahr im Durchschnitt um 10 Prozent getaucht sind, legten die an der US-Computerbörse Nasdaq kotierten Titel fast 20 Prozent zu. In der Schweiz liegen die grosskapitalisierten Werte mit 7 Prozent im Minus, während der eben erst geschaffene Index für die am SWX New Market gelisteten Unternehmen bereits um 140 Prozent angezogen hat. Ähnlich liest sich das Kurstableau auch in Deutschland. Die Anleger können von Glück reden, dass sich auch in Europa die Nasdaq-Idee sukzessive durchgesetzt hat.
Findige Jungunternehmer ihrerseits nutzen die ihnen gebotenen Möglichkeiten, um bereits kurz nach ihrer ersten Venture-Capital-Finanzierung über den Gang an die neuen Märkte – zumindest teilweise – Kasse zu machen. Aus Studenten in Jeans und Pullover, die in Geschäftsgesprächen lässig und unkonventiell auftreten, werden so in kurzer Zeit Multimillionäre. So mancher besorgte Beobachter stellt sich bei einer eingehenden Analyse der Situation allerdings die bange Frage, wann die «Lizenz zum Gelddrucken» verfällt.
Es sind vor allem drei Megatrends, die das heute in weiten Teilen von Gier und Raffsucht bestimmte neue Börsenzeitalter prägen:
Erstens erfassen Private und institutionelle Investoren zunehmend die Funktionsweise der Finanzmärkte, womit eine höhere Risikobereitschaft einhergeht. Diese neue Aktien- und Anlegerkultur ist etwa darin sichtbar, dass der Börsenbericht heute zum täglichen Routineprogramm der Medien gehört. Banker, Börsianer und Journalisten werden von ihrem Taxifahrer, vom Postboten und vom Bäcker nach Aktientipps gefragt.
Der zweite Megatrend, der die Anleger in einen wahren Geldrausch versetzt, ist die globale Revolution im Informations- und Kommunikationswesen. In einer Zeit, in der Satelliten Zeitzonen durchbrechen und der einstige Informationsvorsprung der institutionellen Anleger schrumpft, ist die Ware Information längst zu einem nach wie vor wertvollen, aber zunehmend allgemein verfügbaren Gut geworden. Das ideale Medium zur Verbreitung von Daten, Nachrichten, Informationen und Analysen ist das Internet. Daher kann nicht verwundern, dass vor allem die Aktien von Unternehmen der Wachstumsbereiche Internet und Multimedia die Herzen der Anleger im Sturm erobern.
Und zum Dritten ist es nicht zuletzt die durch die lang anhaltende Niedrigzinsperiode begünstigte Suche der Wirtschaft nach Eigenkapital, die das Thema Börsen und Aktien populär macht. So sind immer mehr private Anleger bereit, sich mit Risikokapital in börsenkotierten Gesellschaften und mit Wagniskapital in noch nicht an der Börse eingeführten Unternehmen das Wachstumspotenzial der Wirtschaft zu erschliessen. Dort, wo früher das Sparbuch und die Immobilie den Vermögensaufbau dominierten, bilden heute Aktien den Schwerpunkt selbst konservativer Depots.
Das Internet hat in der Wirtschaft nicht nur dynamische Wachstumskräfte freigesetzt, sondern bei den Kapitalanlegern an der Börse euphorische Hoffnungen auf das grosse finanzielle Glück genährt. Wie Raubtiere auf ihre Beute stürzen sich die Investoren auf Neuemissionen von Börsenkandidaten, die vor allem an den Wachstumsmärkten in Nordamerika (Nasdaq, Canadian Venture Exchange), Japan (Jasdaq und Mother), Europa (Neuer Markt oder Nouveau Marché sowie Easdaq) und der Schweiz (SWX New Market) eingeführt werden.
Die positiven Impulse der neuen ökonomischen, politischen und strukturellen Megatrends waren aber nur ein Auslöser für den Boom der New Markets. Positiv wirkte sich zusätzlich aus, dass den neuen Wachstumsmärkten sowohl bei den Banken als auch bei der Presse grosse – kritische Beobachter meinen, zu grosse – Aufmerksamkeit zuteil wurde. Nicht wenige Unternehmen verstanden es, die neu gebotenen Möglichkeiten moderner Kommunikatikon für den Transport ihrer Botschaft zu nutzen.
Vor allem eins muss jedoch nachdenklich stimmen: Dass sich zahlreiche Hochtechnologieaktien in den vergangenen Monaten mehr als verdoppelten, war nicht zuletzt dem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zuzuschreiben. So mancher erfolgreiche Jungunternehmer war – auch auf Anraten seines Emissionsberaters – nicht bereit, mehr als 25 oder 30 Prozent des Aktienkapitals der von ihm gegründeten Gesellschaft aus den Händen zu geben und über die Börse bei interessierten Aktionären zu platzieren. Wegen des knappen Angebots waren zahlreiche der in den USA und in Europa an die Märkte kommenden Neuemissionen mehr als hundertfach überzeichnet. Erstzeichnergewinne von 300 Prozent waren gerade bei Internet-IPO (Initial Public Offerings) keine Seltenheit.
Der Neue Markt – vor allem mit dem Ziel der Schaffung eines neuen Marketinginstruments von der Deutschen Börse ins Leben gerufen – hat sich in den vergangenen Monaten zu einer Spielwiese für Anleger, Banken und Jungunternehmen entwickelt. «Wenn die Idee keinen Anklang findet, machen wir den Laden einfach wieder dicht», hatte ein Sprecher der Deutschen Börse im März 1997 die Eröffnung des Neuen Marktes in Frankfurt kommentiert.
Dass dieses Segment, das jetzt seinen dritten Geburtstag feiert, einen so gigantischen Erfolg feiern würde, hat in der Finanzmetropole am Main niemand erwartet. Geschaffen wurde der Neue Markt in Frankfurt nach dem Vorbild der US-Technologiebörse Nasdaq. Damit hatten auch junge Unternehmen in Deutschland erstmals die Chance, ihr zukünftiges Wachstum, ihre Ideen, Visionen und ihre innovativen Produkte über die Börse zu finanzieren. Doch der Start des Neuen Marktes verlief zunächst verhalten, bis schliesslich eine neue Börsen- und Aktienkultur in Deutschland – als Folge des Börsengangs der Deutschen Telekom – für den grossen Durchbruch sorgte. Aus diesem ungeplanten und eher zufälligen Erfolg lässt sich vor allem eines kritisch ableiten: In Europas Finanz- und Börsenwesen wurde in den vergangenen Jahren zu vieles dem Zufall überlassen.
Kaum einer der Entscheidungsträger war in der Vergangenheit nämlich bereit gewesen, die USA als Messlatte für das eigene Handeln und für die eigene Initiative zu nehmen. Eine Einschränkung ist in diesem Zusammenhang allerdings anzubringen: Die Derivatemacher aus Frankfurt und Zürich – Jörg Franke und Otto Nägeli, die geistigen Väter der schweizerisch-deutschen Terminbörse Eurex – haben ihre Visionen nicht nur frühzeitig kundgetan, sondern auch mit Macht vorangetrieben. Der Erfolg: Heute ist die Eurex die grösste Derivatebörse der Welt.
Wenn vor allem der Neue Markt der Deutschen Börse sehr rasch alle von Börsen, Bankern, Unternehmen und Anlegern gesetzten Grenzen sprengte, so war dies vor allem das Resultat der Eigendynamik der Märkte. Fast jede Neuemission am Neuen Markt fand in der Öffentlichkeit sehr grosse Aufmerksamkeit. Mittlerweile werden rund 210 Aktien am Neuen Markt in Frankfurt gehandelt. Allein im vergangenen Jahr kamen 138 Titel neu in dieses boomende Marktsegment. Die Marktkapitalisierung hat sich um 167 Prozent auf rund 135 Milliarden Euro oder umgerechnet nahezu 220 Milliarden Franken erhöht. Ein Drittel dieser Kapitalisierung entfällt auf ausländische Unternehmen, welche die Attraktivität des Neuen Markts in Frankfurt für ein Listing nutzten. Die meisten der kotierten Unternehmen sind im IT-Service-Bereich tätig.
Nicht alle Emissionen brachten Gewinne. Im Jahr 1999 drohte die Stimmung an den New Markets in Europa mehrere Male überzuschäumen. Doch die Börse brachte auch einmal mehr ihre eigenen korrigierenden Kräfte ins Spiel. Als Regulativ erwiesen sich dabei nicht zuletzt die zahlreichen Neuemissionen. Anleger wurden durch die stark gestiegene Zahl von Börsenkandidaten immer wieder dazu veranlasst, Kursgewinne in ihren Favoriten zu realisieren, Liquidität aufzubauen, um so ihr Glück bei der Zeichnung von neu an die Börse kommenden Aktien zu versuchen. So kam es gerade im Herbst des vergangenen Jahres am Neuen Markt in Deutschland zu einer beinahe 20-prozentigen Kurskorrektur, die allerdings in der Folgezeit rasch wieder aufgeholt wurde. Dabei erwies sich nicht zuletzt die von Anlegern an der Nasdaq versprühte Champagnerlaune als Hausse-Element für die zahlreichen in der NM-Initiative zusammengeschlossenen Wachstumsbörsen in Europa. An den fünf Börsen des Euro-NM-Netzwerks in Frankfurt, Paris, Amsterdam, Brüssel und Mailand werden derzeit rund 350 Aktien gehandelt. Die Marktkapitalisierung des NM-Netzwerks in Europa erreicht eine Grösse von mehr als 160 Milliarden Euro oder an die 260 Milliarden Franken.
Die Mutter aller Hochtechnologiemärkte, die Nasdaq, befindet sich seit vielen Mona-ten in einem markanten Aufwärtstrend, der dem Nasdaq-Index allein im Jahr 1999 ein Plus von beinahe 80 Prozent beschert hat. Tendenz weiter steigend. Seit ihrer Gründung im Februar 1971 hat sich die Anzahl der an der Nasdaq gehandelten Werte fast verdoppelt. Zurzeit sind dort über 4800 Unternehmen gelistet. Im laufenden Jahr planen noch etwa 300 Unternehmen den Gang an diese Computerbörse. Die Börsenkapitalisierung der Nasdaq übersteigt jene der im Dow Jones Index vertretenen Bluechips schon heute um mehr als das Dreifache.
Doch wohin geht die Reise am Neuen Markt in Deutschland? «Die starke Volatilität dieses Segments erfordert mehr denn je eine genaue Auswahl der Aktien», rät die Deutsche Bank und empfiehlt den Anlegern ein stärkeres Qualitätsbewusstsein. Nicht mehr jede Neuemission verspreche automatisch Kursgewinne. «Nach starken Kurskorrekturen sind jetzt unter anderem die Titel Kinowelt, Intershop, Singulus, Qiagen und Aixtron besonders interessant», so die Analysten der grössten Bank der Welt (siehe auch Kasten «Enorme Eigendynamik» auf Seite 141).
«Wir rechnen auch im Jahr 2000 damit, dass die Attraktivität des Neuen Marktes für Emissionen hoch bleiben wird», erklärt Volker Borghoff von der DG Bank in Frankfurt. Das Institut geht davon aus, dass mindestens 150 Unternehmen ihre Kotierung am Neuen Markt in Frankfurt in Angriff nehmen werden. «Sollte sich das Börsenumfeld so positiv wie im Jahr 1999 darstellen, könnten sogar 200 Neuzugänge zu verzeichnen sein», so der optimistische Ausblick.
Da gibt man sich hier zu Lande bescheidener. Börsenchefin Antoinette Hunziker-Ebneter rechnet damit, dass bis Ende des Jahres 20 Titel am SWX New Market gelistet sind. Das sieht vergleichsweise mager aus. Allerdings trat das Zusatzreglement der Schweizer Börse SWX, das auch kleinen Wachstumsgesellschaften die Finanzierung über den Aktienmarkt ermöglicht, erst im Juni vergangenen Jahres in Kraft. Die sechs derzeit in diesem Marktsegment kotierten Unternehmen vereinigen eine Börsenkapitalisierung von rund 6,3 Milliarden Franken, was der Schweizer Börse zur Lancierung des SWX New Market Index (SNMI) genügte (siehe Kasten «Junger Spurter» auf Seite 138). Zum Vergleich: Die gesamte Börsenkapitalisierung des Schweizer Aktienmarktes liegt derzeit etwas über 1000 Milliarden Franken.
Deutlich hinter der fulminanten Entwicklung des Neuen Markts Frankfurt blieb bisher die paneuropäische Börse Easdaq in Brüssel zurück. Sie hat die hoch gesteckten Erwartungen ihrer Initiatoren hinsichtlich der neuen Listings – und damit auch der Umsätze – nicht erfüllt (siehe Kasten «Brüsseler Spitzen» auf Seite 142). Die Brüsseler Elektronikbörse, die sich in Zukunft starker Konkurrenz durch den Plan zur Gründung einer Nasdaq Europe ausgesetzt sehen dürfte, hat inzwischen Schritte eingeleitet, um auch Aktien von an anderen Börsen kotierten Gesellschaften handeln zu können. Damit geht der Easdaq das Flair der Wachstumsbörse zweifellos etwas verloren.
Favoriten der Anleger sind und bleiben diesseits und jenseits des Atlantiks Unternehmen aus den Bereichen Informationstechnologie, Software und Telekommunikation sowie Firmen, die mit überzeugenden Konzepten und Ideen aufwarten. Verlierer sind vor allem Unternehmen aus «alten Industrien» und Gesellschaften, die ihre Prognosen nicht erfüllen. Denn selbst bei den Unternehmen aus den zuvor genannten Zukunftsbranchen ist längst nicht alles Gold, was glänzt. Firmen, welche die kritischer werdenden Analysten nicht zu überzeugen wissen, werden einem gnadenlosen Ausleseprozess ausgesetzt.
Die allgemeine Euphorie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Unternehmen an den Wachstumsbörsen mit dem erhofften Wachstum des Jahres 2010 bewertet werden. Wenn die Börse bereit ist, für Aktien von Internetunternehmen den 500fachen Umsatz zu bezahlen (siehe «Neue Bewertungen» auf Seite 142), dann erscheint das vielen Beobachtern unrealistisch. So raten besonnene Banker so manchem derzeit in Champagnerlaune befindlichen Aktionär, die Party an den Wachstumsbörsen bereits fünf Minuten vor zwölf und damit vor dem Zünden des Feuerwerks zu verlassen. Bekanntlich wird es nach dem Abbrennen des Feuerglanzes oftmals zappenduster.