Noch erstrecken sich Wiesen und Äcker im Oberhauserriet, das unmittelbar jenseits der Stadtgrenze von Zürich zu Opfikon gehört. Erst im Zweiten Weltkrieg hat man das einstige Sumpfland für die Anbauschlacht trockengelegt. Heute liegt das Gebiet nur noch wegen der politischen Grenzen am Stadtrand. Tatsächlich befindet es sich im Herzen der so genannten Glatttalstadt zwischen Flughafen, Dübendorf und Oerlikon, die im letzten Jahrzehnt unter den Zürcher Regionen die höchste Wachstumsrate aufgewiesen hat. Auf dem Areal sind Erschliessungsarbeiten in Gang. Auf einer Fläche von über sechzig Hektaren entsteht hier der Glattpark, eine neue Stadt für rund 7000 Bewohner mit ungefähr gleich vielen Arbeitsplätzen.
Hier zeigen sich in verdichteter Form Chancen und Risiken im Raum Zürich. Das Areal zeichnet sich durch eine hoch attraktive Lage aus: Die Verkehrswege sind kurz und dicht, die Steuerbelastung ist tief. Im Boom der Achtzigerjahre war hier – als eine Art neue Anbauschlacht – eine Bürowüste mit rund 20000 Arbeitsplätzen geplant, was dem Oberhauserriet den zweifelhaften Ruf der «teuersten Wiese Europas» eintrug. Der Widerstand gegen das gigantische Vorhaben öffnete den Weg in eine zukunftsweisende Nutzung, die den Bedürfnissen von Wohnen, Arbeiten und Freizeit einigermassen gerecht wird. Im östlichen Teil zur Glatt hin wird in den nächsten Jahren auf einer Fläche von zwölf Hektaren die grösste Parkanlage der Schweiz samt künstlichem See gebaut. Ein weiteres Qualitätsmerkmal ist der Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Ab 2007 schliesst die erste Etappe der neuen Glatttalbahn das Areal ans Zürcher Tramnetz an, was dem Glattpark einen urbanen Charakter verleihen wird.
Die Kehrseite der Medaille: Das Oberhauserriet liegt in einem enorm belasteten Gebiet. Zwei der meistbefahrenen Autobahnabschnitte der Schweiz führen daran vorbei. Der Lärm der startenden Jets vom nahen Flughafen wird in absehbarer Zeit mit grosser Wahrscheinlichkeit verstärkt durch die umstrittenen Südanflüge. Vor allem in den sensiblen Randstunden werden die Maschinen unmittelbar entlang des Areals aus einer Höhe von 150 bis 100 Metern zur Landung ansetzen. Gleichzeitig haben sich für die Gemeinde Opfikon-Glattbrugg, die wie kaum eine andere vom Flughafen profitiert hat, die wirtschaftlichen Aussichten verdüstert und damit die Rahmenbedingungen, unter denen der Glattpark geplant wurde.
Erreichbarkeit ist ein zentraler Standortvorteil. Die Perspektiven der drei Verkehrsträger stellen sich im Grossraum Zürich höchst unterschiedlich dar. Der Flughafen ist mit dem Aus der Swissair abrupt ins Trudeln geraten. Sicher ist im Frühsommer 2003, wenn zum Auftakt der Reisezeit als Folge der Anflugbeschränkungen, die Deutschland auferlegt, gar die stundenweise Schliessung von Zürich Kloten für Landungen droht, eigentlich nur die Ungewissheit. Der Flughafen dürfte in Zukunft nicht mehr die herausragende Rolle spielen, auf die man während Jahrzehnten vertraute.
Im Vergleich dazu schreibt die Zürcher S-Bahn seit 1990 eine nachhaltige Erfolgsgeschichte. Sofern noch ein Beweis notwendig war, hat ihn die jüngst veröffentlichte Pendlerstatistik auf der Basis der Volkszählung 2000 erbracht: Dass die Bahn landesweit trotz starker Zunahme der Autopendler dennoch Marktanteile hinzugewann, ist fast ausschliesslich auf den Anstieg im Grossraum Zürich zurückzuführen. Während im vergleichsweise kleinen Stadtkanton Genf weniger als 3 Prozent der Pendler die Eisenbahn benützen, hat sich ihr Anteil in Zürich, nach wie vor ein grosser Landkanton, von 15 auf fast 20 Prozent erhöht. Eine Überraschung ist das Ergebnis nicht: Laut jüngsten Zählungen hat sich die Passagierfrequenz an der Stadtgrenze von Zürich seit Eröffnung der S-Bahn um 82 Prozent annähernd verdoppelt.
Bei der Strasse, auch im Raum Zürich der wichtigste Verkehrsträger, besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen Planung und Finanzierung. Gesichert ist von den Grossprojekten derzeit die Fertigstellung der Westumfahrung Zürich samt Üetlibergtunnnel und der Bau der A4 durch das Knonauer Amt, die Verbindung in die Zentralschweiz. Ende 2002 schickte die Zürcher Baudirektorin Dorothée Fierz einen Wunschkatalog mit Hochleistungsstrassen für sieben Milliarden Franken nach Bern. Dazu kommt
die Oberlandautobahn für eine weitere Milliarde, eine «Lücke», die der Bund erst noch als solche anerkennen muss. Die Autobahnverbindung zwischen der A1 im Norden von Zürich und der A3 bei Reichenburg vor dem Walensee hat nicht der Bund geplant; Zürich und St. Gallen haben sie auf eigene Faust erstellt. Der Bau des fehlenden Stücks zwischen Hinwil und Uster übersteigt die finanziellen Möglichkeiten des Kantons, weshalb er in Bern anklopfen muss. Gute Chancen, das Gerangel um Bundesgelder zu überstehen, hat der Ausbau der Nordumfahrung von Zürich. Mit der Eröffnung der dritten Röhre am Bareggtunnel dürfte sich der tägliche Stau im Aargau zwangsläufig zum Gubrist verschieben. Der umstrittene Stadttunnel als Nord-Süd-Unterquerung von Zürich oder die Südostumfahrung von Winterthur sind um eine Generation hinausgeschoben.
Anders bei der Schiene: Trotz widriger Finanzlage sagte das Volk im Februar Ja zur Glatttalbahn, die ab 2010 als schnelles Tram die Flughafenregion verbindet. In erster Linie ermöglicht jedoch der neue unterirdische Durchgangsbahnhof samt Tunnel nach Oerlikon 2012 einen zweiten Quantensprung beim Ausbau der Bahn. Nie ging hier zu Lande der Entscheid für ein Milliardenprojekt rascher über die Bühne: Im Herbst 1998 wurde die Idee mit einer Volksinitiative lanciert. Die Regierung, ungewöhnlich genug, nahm sie nicht nur auf, sondern erweiterte sie. Drei Jahre später stimmten mehr als achtzig Prozent der Stimmberechtigten dem Vorhaben zu.
Die Eile war weitsichtig, obwohl der Baubeginn erst in drei Jahren erfolgt: Heute drohen S-Bahn-Wünsche in Genf, Basel, Bern und in der Zentralschweiz dem Rotstift des Bundes zum Opfer zu fallen. Obwohl die SBB sechzig Prozent der Kosten von 1,5 Milliarden Franken tragen, herrscht in Zürich Zuversicht: «Der Durchgangsbahnhof ist das Herzstück für die Bundesbahnen. Er bringt eine enorme Kapazitätserhöhung im Hauptbahnhof, die nicht nur der Zürcher S-Bahn, sondern ebenso dem nationalen und internationalen Bahnverkehr dient», sagt Franz Kagerbauer, Direktor des federführenden Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV). Deshalb stehe das Bauwerk weit oben auf der SBB-Prioritätenliste.
Bereits zuvor wird das Angebot der S-Bahn weiter ausgebaut, auch in die Nachbarkantone, die ungeduldig auf neue Linien oder den Halbstundentakt warten. Der Kanton Zürich bestimmt massgeblich die Entwicklung des Regionalverkehrs seiner Nachbarn. Ab 2005 soll laut dem ZVV-Direktor der heute auf Zürcher Gebiet begrenzte Tarifverbund auf das ganze Einzugsgebiet der S-Bahn ausgedehnt werden. «Vor zehn Jahren wäre man mit diesem Vorschlag wohl noch auf Ablehnung gestossen. Seither stieg der Druck der Wirtschaft und aus der Bevölkerung, das kundenfreundliche Angebot auch in den übrigen Kantonen einzuführen», erklärt Franz Kagerbauer.
Der Ausbau der S-Bahn ist ein Hinweis auf die Ausdehnung des Grossraums Zürich. Die Volkszählung 2000 liefert Fakten. Erstmals bildeten die Statistiker Metropolitanregionen, durch Pendlerströme miteinander verflochtene Agglomerationen. Um Zürich gruppieren sich demnach elf weitere Agglomerationen, von Zug bis nach Schaffhausen, von Frauenfeld bis Lenzburg, mit insgesamt 221 Gemeinden und knapp 1,7 Millionen Einwohnern. Nicht zufällig entspricht dies ziemlich genau dem Einzugsgebiet der Zürcher S-Bahn. Es entwickelt sich ein Netzwerk von Städten, deren Regionen unterschiedliche Funktionen erfüllen. Vom Limmattal über Zürich, vom Glatttal bis nach Winterthur erstreckt sich der Gürtel mit den meisten Arbeitsplätzen. Gleichzeitig bilden sich neue, begehrte Wohnlagen heraus. Nicht von ungefähr wirbt der Thurgau explizit um Zuzüger aus dem Kanton Zürich. Dort weisen vor allem das Knonauer Amt und das Oberland einen starken Zustrom aus. Uster zum Beispiel hat innert weniger Jahre sein etwas schmuddeliges Image abgelegt und mutierte zur boomenden Wohnstadt. 1990 zählte es 25000 Einwohner, in diesem Jahr erreicht es 30000. Uster ist damit unter den zwanzig grössten Städten der Schweiz jene, die am schnellsten wächst.
Das Konstrukt Metropolitanregion erlaubt eine differenziertere Sicht, weg vom Klischee des Wasserkopfs oder Molochs Zürich, aber ebenso vom Bild des problembeladenen Zentrums, umgeben von einem «Speckgürtel» eigenbrötlerischer Gemeinden. Ohne spezifische Grossstadtprobleme zu verharmlosen, geht es der Stadt Zürich heute vergleichsweise gut. Sie erlebte nach der Rezession der Neunzigerjahre einen regelrechten Boom und konnte, auch dank einem fairen Lastenausgleich, ihren Schuldenberg abtragen. Der forcierte Wohnungsbau stoppte den Aderlass, durch den Zürich seit den Sechzigerjahren fast 90000 Einwohner verlor, so viele wie Winterthur heute zählt. Seit fünf Jahren verzeichnet die Stadt einen bescheidenen, aber stetigen Zuwachs.
Heute befindet sich der Kanton Zürich in einer ähnlichen Lage wie seine Hauptstadt vor zehn Jahren. Er unterhält eine ausgebaute Infrastruktur und erbringt Leistungen, an denen die Nachbarkantone teilhaben. Anschaulich zeigt das die eigenartige Form der Greater Zurich Area. Stellt man auf die Kantone ab, die sich am Standortmarketing beteiligen, weil sie sich einen Vorteil von Zürichs Ausstrahlung versprechen, reicht sie von Grenchen bis nach St. Moritz. Die vier wichtigsten Nachbarkantone – Aargau, Thurgau, St. Gallen und Zug – jedoch, die täglich von der Nähe zu Zürich profitieren, stehen abseits.
Volkswirtschaftsdirektor Ruedi Jeker würde sich wünschen, dass der Bund einen Ausgleich schafft, wie ihn der Kanton Zürich im Innern erreicht hat: «Wir übernehmen zunehmend Lasten für die umliegenden Kantone, laufen aber Gefahr, wegen der Abwanderung zahlungskräftiger Steuerzahler an Substanz zu verlieren. Der so genannte Neue Finanzausgleich des Bundes, der Zürich jährlich um weitere 300 Millionen Franken belastet, trägt der grössten Agglomeration der Schweiz nicht Rechnung.»
Die Situation der Nachbarn ist höchst unterschiedlich. Das zeigt sich an den beiden Kantonen, die heute integral zum Grossraum Zürich zu zählen sind. Zug wird bis in zehn Jahren, nach Eröffnung der A4 und dank schnelleren Zugverbindungen, zum Vorort von Zürich. Gleichzeitig hat es eminentes Interesse, seinen Status als Steueroase und eigenständigen Finanzplatz zu verteidigen. Anders Schaffhausen: Hier besteht ein umgekehrtes Steuergefälle, das jedoch durch die tieferen Bodenpreise und Mieten aufgehoben werde, wie Volkswirtschaftsdirektor Erhard Meister versichert. «Ein Problem bildet eher der Zürcher Finanzausgleich, der den Gemeinden im Zürcher Weinland erlaubt, eine Infrastruktur anzubieten, die Schaffhauser zur Abwanderung bewegen kann.» Meister war schon mit der Frage konfrontiert, ob es für Schaffhausen nicht vorteilhaft wäre, sich als 13. Bezirk dem Kanton Zürich anzugliedern. Rein finanzpolitisch und steuerlich betrachtet würde Schaffhausen profitieren, wie auch der Regierungsrat einräumt. Ob es insgesamt ein Vorteil wäre, sei allerdings keineswegs sicher, meint Meister. «Wir könnten keine eigenständige Wirtschafts- und Steuerpolitik mehr betreiben.»
Bemerkenswert, dass die Frage überhaupt gestellt wird. Irgendwann handelt es sich vielleicht um mehr als nur ein provokatives Gedankenspiel.
Stefan Hotz
Presseladen Zürich, arbeitet als Korrespondent für verschiedene Schweizer Tageszeitungen.
|
|