Seit dem 21. August haben wir die Gewissheit: Der amerikanische Aktienmarkt befindet sich in einem neuen Bullenmarkt. Der S&P 500 hat nur fünf Monate nach dem Tief des Corona-Bärenmarktes ein neues Allzeithoch erklommen – die schnellste Erholung aller Zeiten.
Für Anleger stellt sich zusehends die Frage, wie es sein kann, dass die Aktienmärkte trotz Pandemie und Rezession so rasant steigen. Sind die amerikanischen Aktien aktuell mit dem knapp 23-fachen des erwarteten Gewinns bewertet und damit auf dem höchsten Niveau seit der TMT-Blase im Jahre 2000.
Doch es gilt zu bedenken, dass Indexwerte nur einen Durchschnittswert repräsentieren und es deshalb sinnvoll ist, für ein abschliessendes Urteil einen Blick in die Marktsegmente zu werfen. Auf dem US-Aktienmarkt hing in den letzten 6 Monaten der relative Investmenterfolg sehr stark von der Stabilität der Gewinne ab.
Die globalen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie führten zu erheblichen Veränderungen im Arbeits- und Konsumverhalten – viele Aktivitäten erfolgen verstärkt von Zuhause aus.
Tilmann Galler ist globaler Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt.
Erhebliche Bewertungsdivergenzen
Online-Einzelhändler, Technologieunternehmen oder Pharmaunternehmen profitieren von dieser Entwicklung, während andere Branchen wie Restaurants, Hotels & Freizeit, Öl & Gas oder Luftfahrt durch die Lockdown-Massnahmen erhebliche Ertragseinbussen erleiden.
Die starke Differenzierung der Märkte zwischen Gewinnern und Verlierern der Corona-Krise hat zu erheblichen Bewertungsdivergenzen, insbesondere zwischen Wachstumsaktien (Growth) und Substanzwerten (Value), geführt. Auf dem US-Aktienmarkt ist der Bewertungsaufschlag von Wachstumsaktien, bei Betrachtung des Kurs-Buchwert-Verhältnisses, inzwischen höher als in der Hochphase der TMT-Blase.
Einen zusätzlichen Schub bekommen Wachstumsaktien noch von den Zentralbanken, die durch Zinssenkungen und Kaufprogramme die langfristigen Anleihenrenditen kräftig gesenkt haben, wodurch der Abzinsungsfaktor für die zukünftigen Gewinne fällt und der Unternehmenwert entsprechend steigt.
Ungewisse Zukunft
Für eine nachhaltige Trendwende – weg von den teuren Wachstumsaktien hin zu Substanzwerten – müsste mindestens eines der zwei folgenden Szenarien eintreten: Erstens müssen nachhaltige Erfolge in der Pandemiebekämpfung erzielt werden, die für die besonders betroffenen Branchen wieder ein normales Geschäfstumfeld schaffen.
Doch ob in der medizinischen Forschung in der nächsten Zeit ein Durchbruch erzielt werden wird, ist ungewiss. Zweitens muss sich das Wachstum der Wirtschaft so kräftig erholen, dass die Zentralbanken ihre Anleihenkäufe reduzieren und die Renditen der Staatsanleihen wieder ansteigen.
Die aktuellen geldpolitischen Leitlinien der grossen Notenbanken geben keinerlei Anhaltspunkte, dass dies in den nächsten Monaten eintreten könnte. In dieser Phase erhöhter Unsicherheit, sind bis auf Weiteres weder teure Wachstumsaktien noch angeschlagene Value-Aktien besonders attraktiv.
Gescheites Investieren
Es ist für uns naheliegender, in Unternehmen zu investieren, die über eine robuste Bilanz verfügen und auch in diesen Zeiten rentabel wirtschaften können – also Qualitätsaktien. Im Gegensatz dazu versuchen wir, Investitionen in Unternehmen mit hoher Verschuldung und hohem operativen Risiko zu vermeiden.
Hinsichtlich der allgemeinen Bewertung ist das ungewohnt hohe Bewertungsniveau des Aktienmarktes gerechtfertigt, solange aufgrund expansiver Zentralbanken die Realzinsen tief negativ sind und gleichzeitig die Staaten kräftig Konjunkturpakete schnüren.
In einer Vollkaskowirtschaft lohnt sich Risikonahme. Eine ausgewogene und diversifizierte Allokation zwischen Aktienrisiken und sicheren Anlagen bleibt für uns auch im noch jungen Bullenmarkt das Gebot der Stunde.