BILANZ: Hans-Ulrich Märki, Sie sind dabei, einen neuen Rekord aufzustellen.
Hans-Ulrich Märki: Nanu, welchen?
Sie bauen in ganz Europa 10 000 Stellen ab. So viele Leute hat unseres Wissens noch nie ein Schweizer Manager auf einen Schlag entlassen müssen.
Es hat auch noch nie ein Schweizer Manager in fünf Jahren 40 000 Leute angestellt in Europa. Das hab ich zwischen 1996 und 2001 in der IBM gemacht, als ich das Servicegeschäft in Europa ausgebaut habe. Aber in der Tat, wir sind auf dem Weg, diese Stellen abzubauen. Es ist sicher nicht etwas, das man gerne macht, aber es ist etwas absolut Notwendiges. Wobei wir aber nur ganz wenige Entlassungen vornehmen. An einigen Orten mussten wir Lokalitäten schliessen – in Deutschland etwa und in Schweden. Dort waren Entlassungen unvermeidlich. Die meisten aber sind freiwillig gegangen mit sehr grosszügigen Entschädigungen. Wir haben weltweit 1,7 Milliarden Dollar aufgewendet für diese Restrukturierung.
Geht es IBM so schlecht, dass Sie derart dramatische Massnahmen treffen müssen?
Nein. Es ist immer relativ, ob es einer Firma gut oder schlecht geht. Es ging der IBM vor allem im ersten Quartal nicht gut. Das war bekannt. Die Reaktion der Aktionäre hat man auch gesehen. Darum musste man etwas machen. Doch war das nur der Auslöser. Was wir in Europa machen mussten, war von längerer Hand vorbereitet gewesen.
Sie lösen die Europazentrale in Paris, die Sie geleitet haben, komplett auf. Ist das das Eingeständnis, dass IBM zu zentralisiert war und dass die Ländergesellschaften zu wenig Handlungsspielraum hatten?
Ob es ein Eingeständnis oder eine Erkenntnis ist, sei dahingestellt. Ich war immer gegen die starke Zentralisierung, die wir 1992/93, als der damalige Konzernchef Lou Gerstner sein Amt antrat, vornehmen mussten. Ich war ja als Chef der IBM Schweiz einer der dezentralen Leute. Wir mussten das damals machen, um Kosten zu sparen. Mir hat es nicht gepasst, aber retrospektiv muss ich sagen, es war die einzige Möglichkeit, die Firma zu retten. Sie stand 1992 kurz vor dem Untergang, aber sie hat sich gewandelt. Sie ist das einzige Unternehmen in dieser Grössenordnung, das von einem Fastbankrott in die Position des Marktleaders zurückfand.
Es gab auch nie ein anderes Unternehmen in der Grössenordnung von 300 000 Mitarbeitern, das kurz vor dem Konkurs stand.
Ja gut, das stimmt.
Warum also der Umbau?
Heute wollen die Kunden nicht mehr einzelne Komponenten kaufen. Sie wollen End-to-End-Lösungen, also alles aus einer Hand. Sie wollen, dass man ein Problem erkennt, dass man dieses Problem löst und dafür Informationstechnologie verwendet. Und da tut sich die vertikale Struktur schwer. Sie hat die Kompetenzen nach oben gesogen in die Hauptquartiere. Und heute, das kann ein Eingeständnis oder eine Erkenntnis sein, haben wir entschieden: Wir müssen die Kompetenz, diese Talente, die wir alle in die Headquarters hineingezogen haben, wieder zu den Kunden bringen.
Sie haben zwei COO eingesetzt, welche die operative Verantwortung von IBM Europa unter sich aufteilen. Damit haben Sie sich selber überfüssig gemacht. Spielen Sie, Herr Märki, jetzt nur noch den Hausmeister, der im verwaisten Pariser Hauptquartier das Licht ausmacht?
Es stimmt, Colleen Arnold wird mit ihrem Team nach Zürich ziehen und Dominique Cerutti mit seinen Leuten nach Madrid, um die operative Verantwortung wahrzunehmen. Wir haben das Unternehmen ja schon seit sieben Monaten zusammen geführt. Seit 1. Juli ist das Geschäft komplett getrennt und wird in zwei Einheiten geführt werden. Es gibt die alte IBM Europe/Middle East/Africa nicht mehr. Deshalb braucht es auch keinen Chef mehr oberhalb dieser beiden. Sie können direkt nach Amerika rapportieren. Ich selber habe deshalb die Funktion des Chairman übernommen.
Wie wirkt sich dieser Abbau auf die Schweiz aus? Wie viele Arbeitsplätze werden hier wegfallen müssen?
Wir haben bis jetzt diese Zahlen nicht heruntergebrochen auf die einzelnen Länder. Wir haben die Stellen auch nicht länderweise abgebaut, sondern vom Business her. Denn die einzelnen Geschäftseinheiten – Services, Software etc. – werden ja an ihrer Produktivität gemessen, nicht die Landesorganisationen.
Schön. Wie wirkt sich das also aus auf die Geschäftseinheiten, die in der Schweiz vertreten sind?
Wir haben entschieden, dass wir diese Zahlen nicht bekannt geben. Es hat verschiedene Gründe. Einer der wichtigen ist, dass wir viele vertrauliche Abmachungen mit den Gewerkschaften getroffen haben. Gerade zum Beispiel in Frankreich ist das ein relativ komplexer Prozess.
Gerüchteweise war von 200 bis 300 Stellen zu hören.
Diese Zahl haben Sie jetzt in den Raum gestellt. Ich weiss die Zahl nicht mal genau, aber sie liegt wahrscheinlich eher bei 200 als bei 300.
Man hört auch, dass Mitarbeiter angehalten werden, nicht mehr mit dem Handy zu telefonieren. Reisen werden nur noch in Ausnahmefällen bewilligt und externe Weiterbildungen gar nicht mehr.
Wenn es einer Firma nicht gut geht, dann müssen Sie sparen. Und wo kann man am ehesten sparen? Dort, wo etwas variabel und nicht fix ist. Wir sind weltweit der grösste Kunde von Airlines. Wir sind auch ein grosser Kunde der Telekomgesellschaften, weil wir sehr stark kommunizieren und telefonieren. Dass man dann sagt, könnt ihr nicht Geld sparen, indem ihr euch etwas einschränkt, finde ich keine übertriebene Massnahme.
Man hört weiter, die statusbewussten französischen Manager seien gar nicht froh, dass sie aus ihren schicken Einzelbüros mit Blick auf ganz Paris nun in ein graues Zürcher Grossraumbüro zügeln müssen, wo sie nicht mal einen persönlichen Schreibtisch haben.
Davon habe ich nichts gehört. Ich weiss auch gar nicht, wer diese statusbewussten französischen Kollegen wären. Tatsache ist, dass wir ein multikulturelles Unternehmen sind. Ich habe bereits 1994 Grossraumbüros mit flexiblen Arbeitsplätzen eingeführt. Dass man einen mobilen Schrank nimmt und mit seinen Akten an einen Schreibtisch geht, brauchte damals auch Gewöhnung, von jedem. Wenn das nun ausgedehnt wird aufs obere Management, was ich korrekt finde, dann trifft das nicht nur auf die von Ihnen erwähnten Franzosen zu.
Sie haben die Vereinbarung mit den Gewerkschaften angesprochen. Diese haben in Deutschland und in Frankreich Ihren Abbauplänen massiv Widerstand entgegengesetzt. Glauben Sie, dass dieses Modell der starken Gewerkschaften Zukunft hat, auch im Kontext der Globalisierung?
Um es ganz klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen: Ich glaube nicht, dass es Zukunft hat. Wenn Sie jedes Mal, wenn Sie restrukturieren – und das müssen Sie ja, weil sich der Markt verändert –, grosse Schwierigkeiten haben, dann werden Unternehmen je länger, je weniger in diesen Ländern investieren. Sie können dem Aktionär nicht jedes Mal sagen: Wenn wir uns dem Markt anpassen wollen, dann müssen wir so und so viel Geld von dir in die Finger nehmen. Wenn Sie flexibel sein wollen als Unternehmen, dann ist das kein gutes Umfeld. Jetzt muss ich auf der andern Seite in aller Fairness sagen, alle Regierungen, inklusive der deutschen, haben Anstrengungen unternommen, um diese Flexibilisierung zumindest anzugehen. Auch die französische Regierung hat verschiedene Gesetzesänderungen gemacht in diese Richtung.
Reichen die bisher getroffenen Massnahmen?
Hoffentlich haben wir jetzt die Gelegenheit, einmal grundsätzlich über das europäische Modell zu diskutieren. Wie kann man in der Lissabon-Agenda sagen, wir wollen im Jahr 2010 der kompetitivste Wirtschaftsraum sein auf der Welt, wissensbasiert dazu, wenn man sich selbst dann im Weg steht mit solchen Gesetzgebungen? Irgendwann muss dieser Dialog kommen.
Herr Märki, IBM hat 1981 den PC erfunden. Jetzt haben Sie das PC-Geschäft verkauft an Lenovo, ein im Westen relativ unbekanntes chinesisches Unternehmen. Damit verlieren Sie Ihren wichtigsten Imageträger.
Wir haben mit Lenovo einen Partner gefunden, der sehr interessiert war, nicht nur die Marke Thinkpad (Notebook-Reihe von IBM, Red.) zu übernehmen, sondern auch das IBM-Logo. Der Vertrag sieht vor, dass Lenovo über die nächsten Jahre von diesem Brand Gebrauch machen kann. In diesem Sinne war Lenovo der beste Partner, den wir finden konnten, um die Marke zu erhalten. Aber wir haben Lenovo auch gewählt, um in den riesigen chinesischen Markt zu kommen. Ich kann mir keinen schlaueren Schachzug vorstellen, als wenn man auf gutem Fusse steht mit der chinesischen Regierung, die ja immer noch einen Grossteil der Lenovo-Aktien hat. Vor ein paar Wochen war der chinesische Ministerpräsident im Büro von Lenovo und hat den Lenovo-Mitarbeitern gesagt: You must not fail! Es ist denen ernst.
Wie verhindern Sie, dass Lenovo mit der Marke Schindluder betreibt, etwa durch minderwertige Produkte?
Lenovo wird heute von einem Ex-IBMer geführt, und sowohl in Europa als auch in Amerika besteht der Grossteil des Topmanagements aus unseren ehemaligen Mitarbeitern. Und ich weiss nicht, warum die sich von einem Tag auf den andern anders verhalten sollten. Die werden weiterhin die besten Produkte auf dem Markt machen. Im Übrigen macht Lenovo selbst auch sehr gute Produkte – sehr viel mehr Consumerprodukte als wir, Handys etwa und Kameras. Wir haben auch einen Partner gesucht, der unser PC-Geschäft besser in die Consumerrichtung bringen kann. IBM selber war nie erfolgreich mit Consumerprodukten. Und für den Businesskunden ändert sich praktisch nichts, ausser dass er am Schluss einen Vertrag unterschreibt, auf dem nicht mehr IBM steht, sondern Lenovo.
Die Kulturunterschiede zwischen Lenovo und IBM sind gewaltig. Wie soll diese Ehe jemals funktionieren? Selbst die Fusion von HP und Compaq ist an Kulturfragen gescheitert, und da kamen beide Unternehmen aus dem gleichen Land.
Das ist eine sehr berechtigte Frage. Dazu muss man aber wissen: Die meisten dieser chinesischen Topmanager haben in Harvard studiert. Es ist nicht so, dass die jetzt irgendwo hinter der Grossen Mauer hervorkommen und das erste Mal die Welt entdecken. Der Sitz von Lenovo liegt südlich von Armonk, dem IBM-Sitz. Die sind also nach Amerika gegangen. Aber wie für jedes global tätige Unternehmen ist es zweifellos eine gewisse Herausforderung, in dieser multikulturellen Umgebung zu arbeiten.
Ist der Lenovo-Deal das Eingeständnis, dass Sie im PC-Markt den Kampf verloren haben gegen Dell?
Der Unterschied zwischen Dell und IBM ist nicht eine Frage der Produkte. Verschiedene unserer Produkte sind sicher so gut, wenn nicht besser als die von Dell. Der Unterschied zwischen der IBM und Dell besteht im Distributionssystem. Dell hat den direkten Verkauf, ohne irgendwelche Kanäle. Das ist deren Vorteil. Sobald Sie Kanäle, Businesspartner, Verteilnetze brauchen, dann muss ein gewisser Teil der Marge auch dorthin fliessen. Dell-Computer sind nicht billiger, zum Teil benutzen sie die gleichen Komponenten. Und sehr viel IBM-Technologie ist auch in Computern von Dell.
Sie haben auch das Festplattengeschäft mit Hitachi zusammengelegt und in anderen Bereichen die Hardwareproduktion zu Sanmina und Solectron ausgelagert. Macht IBM in zehn Jahren überhaupt noch Computer oder -komponenten?
Es wäre falsch, wenn man aus dem Verkauf des PC-Geschäfts schliessen würde, dass IBM entschieden hat, aus dem Hardwaregeschäft auszusteigen. Wir haben zwar einmal gesagt, our business is services. Aber wenn Sie das Gesamtgeschäftsmodell anschauen, dann können Sie entweder ein fokussierter Player sein auf Software, und Sie machen nur Software, oder Sie können ein fokussierter Player sein auf Consulting, und Sie machen nur das. IBM hat entschieden, dass wir kein singulärer Player sein wollen. Wir sind das Unternehmen, das dem Kunden alles aus einer Hand anbietet. Lou Gerstner sagte einmal: At the heart, IBM is a technology company. Und das sind wir nach wie vor. Es gibt keinen anderen Hersteller auf der Welt, inklusive Microsoft, der dermassen viel für Forschung und Entwicklung tut. Wir geben beinahe 6 Milliarden Dollar dafür aus. Es gibt in der Informationstechnologie heute nichts – das klingt nun etwas arrogant –, aber es gibt fast nichts, das nicht in irgendeinem Forschungslabor der IBM erfunden wurde.
Das grosse Problem von IBM ist es doch, dass andere damit das grosse Geld gemacht haben – sei es mit dem PC, dem Laserdrucker, der Floppy oder der relationalen Datenbank.
In der Geschichte mögen Sie Recht haben. Wir haben verschiedentlich Sachen entwickelt und dann das Potenzial nicht auf dem Markt umgesetzt. Sie haben die Beispiele selber genannt. Heute ist das anders. Da sind wir im Technologietransfer führend.
Wie belegen Sie das?
Schauen Sie sich das High Power Computing, also die Supercomputer, an: Die wurden alle ursprünglich auch bei IBM entwickelt. Dann haben die Japaner plötzlich die Oberhand gewonnen. Heute ist IBM wieder absolut führend in diesem Bereich. Von daher gesehen würde ich meinen, wir haben etwas gelernt aus der Vergangenheit. Wir machen jedes Jahr einen so genannten Global Technology Outlook, wo wir die Entwicklungstendenzen der kommenden zehn Jahre vorherzusehen versuchen. Durch diese Massnahmen sollten solche Sachen nicht mehr verschlafen werden.
Trotzdem verdient IBM das grosse Geld ja längst nicht mehr mit Computern als solchen, sondern mit Dienstleistungen.
Das stimmt. 46 unser 96 Milliarden Dollar Umsatz erzielt unsere Sparte Global Services. Traditionell sind wir in zwei Bereichen: erstens Maintenance, also dem Kunden ununterbrochen laufende Hard- und Software zur Verfügung zu stellen – ein durchaus profitables Geschäft. Und zweitens haben wir das Beratungsgeschäft. Das haben wir 2003 durch den Kauf von PricewaterhouseCoopers Consulting verstärkt und wollen es auch weiter forcieren.
Indem Sie den Kunden unter anderem anbieten, ihre komplette Personalabteilung an IBM outzusourcen oder die gesamte Buchhaltung. Warum soll die branchenfremde IBM das besser können als die Unternehmen selber?
Wir haben auf der einen Seite die Consultants, die die Prozesse beim Kunden besser verstehen als dieser selbst. Und wir kennen die IT-Infrastruktur – zum Teil besitzen wir sie auch selbst und können Skaleneffekte realisieren. Deshalb sind wir prädestiniert, dieses so genannte Business Process Outsourcing anzubieten. Jeder andere, der beispielsweise nur in dem Bereich Personaldienstleistungen tätig ist, müsste irgendwie versuchen, die Personalabteilung IT-mässig abzubilden. Einer der nur in der IT ist und keine Ahnung hat von den Geschäftsprozessen des Kunden, ist auf Fachleute angewiesen, die ihm das erklären. IBM kann beides. Das ist die Idee des neuen Geschäftsmodells der IBM, des On-Demand-Business. Es ist nicht so, dass wir etwas machen, das nicht schon gemacht wird, wir machen es allerdings besser und effizienter, und wir bringen Innovation.
Im Rahmen dieses Business Process Outsourcing, wie Sie es nennen, entwickeln Sie elektronische Kriegsführung für Boeing, suchen zusammen mit der Mayo-Klinik nach Krebszellen, schmeissen die Personalabteilung für Procter & Gamble, machen Buchhaltung für BP und entwickeln Logistiksysteme für die amerikanische Post. Das ist doch eine völlige Defokussierung!
Wir machen nur solche Prozesse, wo die Technologie eine sehr grosse Rolle spielt und ein wichtiger Kostenfaktor ist. Wir machen keinen Prozess, der nichts mit Technologie oder mit Informatik zu tun hat. Von daher sehe ich keine Gefahr, dass wir uns verzetteln. Und wir vergrössern den Markt für uns. Der klassische IT-Markt beträgt 1,2 Billionen Dollar im Jahr. Wir schätzen den Teilbereich des Business Process Outsourcing, der für uns adressierbar ist, auf 500 Milliarden Dollar. In diesem Gebiet wollen wir Marktführer sein.
Noch mal zurück zu IBM und Lenovo. Diese Transaktion ist ja kein Einzelfall: Die chinesische TCL hat grosse Teile der französischen Hightechschmieden Thomson und Alcatel erworben, Siemens hat ihr Handygeschäft an den taiwanesischen Hersteller BenQ verkauft. Wo sehen Sie die Chinesen in zehn Jahren, und wo wird dann die europäische IT-Industrie stehen?
Man kann das immer dramatisch anschauen und sagen, die Chinesen kommen, und wir sind alle tot. Oder man kann das realistisch anschauen. Ich weiss nicht, ob Sie das Buch «The World Is Flat» von Thomas Friedman gelesen haben.
Nein.
Dann empfehle ich Ihnen das. Es war etwas vom Interessantesten, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Es zeigt, was Globalisierung wirklich ist. Es ist ein dickes Buch, aber es lohnt sich. The world is flat, meine Herren! Wir alle wissen, wir hätten die Wahl, wieder zurück in eine abgeschottete Welt zu gehen. Wir könnten die WTO abschaffen, wir können die Mauern wieder aufbauen und vielleicht wieder anfangen, uns gegenseitig zu bekriegen. Oder wir sagen, nein, wir wollen nach vorne gehen, wir machen die Grenzen auf, denn für die Menschheit als Ganzes ist es besser, wenn die Grenzen offen sind und wenn die Welt flach ist.
Dann ist die Globalisierung eine Konsequenz davon.
Genau. Und dann werden die Chinesen mit ihrer Macht von 1,2 Milliarden Leuten auf den Markt dringen. Und sie werden Produkte bringen, die qualitativ so gut sind wie unsere. Aber das ist ja nichts Neues. Als ich studierte, habe ich gelernt, dass gewisse Industrien sich verschieben, dass die Textilindustrie in St. Gallen eben ihre Jobs verliert. Es gibt jedoch heute immer noch weltführende Textilunternehmen mit Sitz in der Schweiz. Das ist völlig normal. Das werden Sie auch technologisch sehen. China wird eine Herausforderung. China produziert mehr Ingenieure pro Jahr als der Rest sämtlicher entwickelten Staaten zusammen. Damit müssen wir uns auseinander setzen, und damit müssen wir leben. Das ist auch eine Chance für Europa. Nur müssen wir dann auch das Richtige machen.
Und das wäre?
Wenn die Antwort so einfach wäre, dann wäre sie vermutlich schon gegeben worden. Wir Europäer müssen zuerst einmal verstehen, dass es Leute gibt, die an anderen Orten der Welt anfangen, mit uns zu konkurrenzieren in Bereichen, von denen wir bis jetzt den Eindruck hatten, wir seien unantastbar. Ich glaube, es gibt nur eines: Wir müssen das machen, was wir besser können als andere. Wir müssen uns auf unsere Stärken konzentrieren. Wir müssen dort investieren, wo wir unsere Stärken ausbauen können. Es ist aber leider eine Tatsache, dass wir in Bezug auf Investitionen in Research and Development in ganz Europa, gemessen am Bruttosozialprodukt, immer noch signifikant hinter den Amerikanern sind – obwohl wir das seit 20 Jahren zu ändern versuchen.
Auch die US-Industrie leidet unter den Verschiebungen in den Fernen Osten!
Es ist eben auch eine Tatsache, dass jetzt die Chinesen und die Inder auch im Softwarebereich immer mehr in Forschung und Entwicklung investieren. Und wir reagieren nicht! Wir sagen zwar, ja, wir haben ein Riesenproblem, und die anderen holen auf. Aber wir machen aktiv nichts dagegen. Das ist sträflich! Es gibt verschiedene Gründe, politische Konstellationen oder Mangel an politischem Willen, an politischer Führerschaft in Europa. Wenn Sie das Lissabonner Manifest lesen, das im Jahr 2000 in der Euphorie der Internetblase geschrieben wurde: Dort sind alle Erkenntnisse drin.
Dann ist die Umsetzung das Problem?
Genau. Wir wissen, wo das Problem ist, wir haben es erkannt, wir glauben sogar zu wissen, was wir tun müssten – sehr viel mehr in die Bildung investieren –, aber es passiert nichts. Und das ist meine grösste Sorge: die Execution-Fähigkeit, nicht die Analyse. Intellektuell sind wir zweifelsohne so gut wie andere. Wir haben wahnsinnig viele Talente in Europa. Die meisten Sachen, die die Welt weitergebracht haben, sind in Europa erfunden und entwickelt worden. Aber das nachherige Umsetzen ist eine Schwäche. Da braucht es einfach mehr Leadership in Europa.