Franz Schoiber, Vorstandsmitglied des neuen deutschen Reiseriesen C&N, strotzte vor Zuversicht: Im Jahr 2010, erklärte er im vergangenen November, wolle der Konzern Marktführer in Europa sein. Schoiber hatte die Hektik, von der die Wachstumsbranche Tourismus erfasst worden ist, gehörig unterschätzt; wenige Wochen später war er mit C&N, dem Joint Venture zwischen der Lufthansa- und der Karstadt-Tochter Condor und Neckermann, weiter denn je vom Ziel entfernt. Denn in Hannover hatte der ehemalige Stahlproduzent und heutige Dienstlei-Preussag (Umsatz rund 25 Milliarden Franken) in Rekordzeit einen Reiseriesen von neuer europäischer Dimension aus dem Boden gestampft. Das «rote Lager», so genannt wegen des in Broschüren und Katalogen bevorzugten leuchtenden Rots, ist seit Ende vergangenen Jahres doppelt so gross wie das «gelbe Lager» der Condor-Ferienflieger und Neckermänner von C&N.
Den Einstieg ins Tourismusgeschäft vollzog Preussag vor zwei Jahren mit dem Griff nach dem traditionsreichen Transport- und Reisekonzern Hapag-Lloyd, Deutschlands grösster Reederei. Gleichzeitig gelangte der Mischkonzern mit diesem Deal in den Besitz einer Mehrheit an Europas grösstem Reiseveranstalter, der Touristik Union International (TUI). Die beiden weiterhin unter eigenem Namen operierenden Konzerne wurden in die neue Preussag-Subholding Hapag-Touristik-Union (HTU) integriert, und in den letzten Tagen des vergangenen Jahres schlugen die Hannoveraner erneut im grossen Stil zu: Mit der Expansion nach Grossbritannien, dem Einstieg beim Touristik- und Finanzdienstleister Thomas Cook, veränderten sie Europas Reisemarkt; schliesslich posteten sie, fast im selben Atemzug, im heimischen Revier noch die 560 Reisebüros der Düsseldorfer First-Gruppe.
In Düsseldorf sitzt auch Friedel Neuber, der Drahtzieher all dieser Deals. Der Vorstandsvorsitzende der Westdeutschen Landesbank (WestLB) ist auch Vorsitzender des Preussag-Aufsichtsrates und kontrolliert mit einer 30-Prozent-Beteiligung der WestLB das Unternehmen. Jetzt, gegen Ende seiner Amtszeit, steht der 63jährige Banker vor der Vollendung seiner grossen Vision: einen Tourismusriesen zu zimmern, der als Veranstalter auf allen Ebenen agiert und verdient - mit Reisebüros, Hotels und Fluggesellschaften. Neuber hatte die Boombranche Tourismus schon lange als strategisches Ak- tionsfeld ausgemacht. Schliesslich ist der Handel mit Ferienhungrigen zum grössten legalen Geschäft der Welt geworden. Seit 1960 wächst der Tourismus doppelt so schnell wie die Volkswirtschaft in den Industrienationen, erwirtschaftet zehn Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts und setzt jährlich gegen fünf Billionen Franken um. Bereits heute hängt jeder neunte Arbeitsplatz zwischen Nord- und Südpol vom Tourismus ab, und die als nahezu krisensicher geltende Branche wird auch über die Jahrtausendwende hinaus von starkem Wachstum geprägt sein. Die World Tourism Organization schätzt, dass die Zahl der Arbeitsplätze von heute 220 Millionen auf 350 Millionen im Jahr 2010 steigen wird - was bedeutet, dass bis dahin alle drei Sekunden ein neuer Job geschaffen wird.
Big is beautiful», heisst denn auch die Branchendevise, was unter den Ferienanbietern zu einem beispiellosen Verdrängungskampf geführt hat. Denn Grösse bedeutet, wie anderswo auch, Marktmacht, Synergieeffekte und letztlich höhere Gewinnmargen. Diese sind in der Branche traditionell unter Druck, seit das Reisen so billig geworden ist wie nie zuvor. Die Angaben für den deutschen Markt besagen, dass von 100 Mark Umsatz nur gerade 6 bis 8 Mark beim Veranstalter verbleiben. Den Löwenanteil von 43 Mark streicht der Hotelier ein, 35 Mark gehen an den Flugveranstalter, weitere 12 Mark erhält das Reisebüro für die Vermittlung und 2 Mark fallen für die Agentur ab, die den Gast im Zielgebiet betreut. In der Schweiz ist die Wertschöpfung nur geringfügig höher. Um auf ihre Kosten zu kommen, ersinnen die Reisemanager deshalb alle erdenklichen Sparkonzepte und Rationalisierungsprogramme. Der auch in der Schweiz tätige Münchner Pauschalreisenveranstalter Frosch Touristik etwa pfercht 327 Passagiere - rund 50 mehr als die meisten Konkurrenten - in die Langstreckenjets der britischen Chartergesellschaft Britannia. Einsparung pro Fluggast: 230 Mark.
Den grössten Einspareffekt erhoffen sich die Controller in den Konzernetagen indes durch das, was die Experten «vertikale Integration» und die Ökonomen «economies of scale», Macht durch Masse, nennen: die Vereinigung von Veranstalter, Reisebüro, Carrier und Hotelkette unter einem Dach, was eine Rationalisierung des gesamten Produktionsprozesses ermöglicht.
Bereits abgeschlossen ist dieser Prozess bei TUI. Europas Nummer eins nennt rund 2000 Reisebüros ihr eigen, besitzt 28 Flugzeuge sowie fünf Kreuzfahrtschiffe und ist an sechs Hotelketten mit 160 Häusern und 80 000 Betten zu 50 oder mehr Prozent beteiligt. Zu den Ferienhotelketten von Riu, Iberotel (wird im April in Riu integriert), Grecotel, Dorfhotel und Robinson Club kam im vergangenen Sommer eine 50-Prozent-Beteiligung an der Grupotel, die auf den boomenden Balearen-Inseln 29 Häuser betreibt.
Der knallharte Kampf um Grösse und Marktanteile machte die Branche indes auch erfinderisch. Die Plattformstrategie von Volkswagenchef Ferdinand Piëch - das identische Chassis wird mit zahlreichen Einheiten so kombiniert, dass ein VW, Audi oder Seat entsteht - wird in den Ferienfabriken nämlich schon seit einiger Zeit verfolgt.
Das Produktionsprinzip erscheint einfach: Ein Pauschalreisen-Grundmodell wird durch in Serie herstellbare Zusatzteile erweitert. Letztlich wohnt der Gast in ein und derselben Destination im Massenquartier, Appartement, Fünfsternepalast oder in einer Villa. Die Möglichkeiten des Veranstalters, Billigferien bei geringen Selbstkosten zum Luxustrip mit allen erdenklichen Sonderwünschen zu veredeln, sind schier grenzenlos. Das Bausteinprogramm mit individueller Einzelanfertigung auf der Basis eines industriell gefertigten, einheitlichen Grundmodells ist die grösste Innovationsleistung der Branche, seit der Deutsche Josef Neckermann Ende 1962 die ersten Reiseprospekte auf die Stubentische flattern liess und 15 Tage Mallorca in «sauberen Pensionen» für 338 Mark anbot.
Die technischen Voraussetzungen für diese Form elektronisch gebuchter Mass-konfektion wurden in den letzten Jahren geschaffen. Und das Internet-Zeitalter wird den Reisemarkt weiter verändern. Unter Druck geraten vor allem die unabhängigen Reisebüros, denen Veranstalter und Airlines auf ihrer Suche nach weiteren Einsparmöglichkeiten derzeit heftig an der Provisionsschraube drehen.
Von der Strukturbereinigung, die den Retailern bevorsteht, sind die Veranstalter freilich längst erfasst worden. Branchenbeobachter rechnen damit, dass der europäische Ferienmarkt schon in wenigen Jahren von nur noch einem halben Dutzend Kolossen beherrscht wird, darunter der Gigant TUI/Hapag-Lloyd, Condor/Neckermann sowie die beiden britischen Grössen Airtours und Thomson. Gute Chancen werden auch Kuoni und Hotelplan eingeräumt.
Die Schweizer pokern denn auch wacker mit. Seit Riccardo Gullotti vor vier Jahren die Konzernführung von Kuoni übernahm, verdoppelte sich der Umsatz auf voraussichtlich 5,2 Milliarden Franken für 1998. Die Gewinnkurve ist wohl etwas abgeflacht, mit über 100 Millionen Franken wird indes erneut ein Rekordwert erreicht. Gullotti verfolgt eine Politik der kleinen, wohlüberlegten Schritte. Allein im vergangenen Jahr tätigte er fünf interessante Akquisitionen, festigte damit die traditionell starke Stellung in England, fasste Fuss im skandinavischen Wachstumsmarkt und wurde dank der Übernahme von Manta Reisen zum weltweit führenden Malediven-Anbieter. Auch der Einstieg in den deutschen Boommarkt ist für Kuoni immer ein Thema, doch muss dieser auf vernünftige Weise erfolgen können und attraktiv sein.
«Schliesslich», so Gullotti, «gibt es auch noch andere interessante Märkte, Frankreich beispielsweise, aber auch Italien oder Osteuropa.» Das deutsche LTU-Dossier etwa soll Gullotti ebenso rasch dankend zurück- gereicht haben wie Hotelplan-Chef Claus M. Niederer.
Mit Edelweiss Air besitzt Kuoni zwar eine eigene Fluglinie, aber nur zwei eigene Hotels in der Karibik. Im Fehlen von Beteiligungen an Hotelketten orten Experten denn auch den einzigen Kuoni-Schwachpunkt. Und das Problem könnte sich akzentuieren: Noch laufende Verträge zwischen den 160 Ferienhotels der TUI und konzernfremden Veranstaltern werden nicht erneuert. Die auch bei Schweizern beliebten Riu-Hotels, Grecotels oder der Robinson Club werden dann exklusiv von Imholz, TUI Suisse und Vögele angeboten. Gullotti sieht denn auch Handlungsbedarf: «Auf den Balearen und den Kanarischen Inseln werden wir uns umschauen müssen.» Mit fünf eigenen Ferienanlagen steht Hotelplan nur unwesentlich besser da als Kuoni. Konzernchef Niederer gibt sich freilich gelassen. Wenn er hört, dass Hotelplan irgendwo hinausgestuhlt werden soll, fliegt er höchstpersönlich hin und regelt die Sache mit dem Hotelier. «So schnell wird nicht geschossen», hat er festgestellt. Um so schneller hat der Turnaround-Manager die Migros-Tochter wieder auf Erfolgskurs gebracht. Die knapp 30 Millionen Franken Gewinn für 1998, die er demnächst ausweisen wird, bedeuten den Rekord in der Firmengeschichte - und Hotelplan hat auf dem europäischen Markt mächtig an Ansehen gewonnen. «Ich bin nicht da, um zu verwalten, sondern um zu expandieren», hält Niederer denn auch fest. Und er verrät immerhin soviel: «Wir werden interessante Lösungen finden, auch was Deutschland betrifft.» Wenn nicht alles täuscht, spielt Neo-Golfer Niederer bald eine ganz grosse Runde.
Offen bleibt, welche Rolle ITV, das Gebilde Imholz, TUI Suisse und Vögele, spielen wird (siehe Kasten). Manches wäre wohl anders gelaufen, wenn die Integrationsfigur Bruno Tanner, Baumeister der ITV und Schweizer Branchenstar der neunziger Jahre, nicht schon längere Zeit mit schweren gesundheitlichen Problemen kämpfen würde. Obwohl der Mann, der es vom Schalterbeamten zum höchsten Schweizer Touristiker gebracht hat, seine Aufgabe im fünfköpfigen TUI-Vorstand in Hannover kaum noch wahrnehmen kann, ist er weiterhin dessen Mitglied. «Ob und wann er allenfalls zurücktreten möchte, entscheidet Bruno Tanner ganz allein», sagt der Vorsitzende Ralf Corsten. Topmanager wie er sollen bisweilen gerade deshalb so erfolgreich sein, weil sie Mernschen geblieben sind.