Bei der Zuteilung der kantonalen Grundeigenschaften hat der Zürcher das Grossmaul abbekommen, weshalb seine Darstellung mit Löwenkopf an sich auf der Hand liegt. Der Löwe ist ja anerkanntermassen reichlich stimmgewaltig, und er repräsentiert zugleich das Sternzeichen, dessen Vertreter dadurch charakterisiert sind, dass ihre Auftritte Manifestationen eines überbetonten Selbstbewusstseins darstellen. Astrologischer Widerspruch vorbehalten.
Demgegenüber besteht natürlich die intellektuelle Pflicht, den Grossmaul-Zürcher als billiges Klischee zurückzuweisen. Es geschähe dies am besten mit der psychologisierenden List, seine Grossmäuligkeit lediglich als verzweifelte Tarnung seines Minderwertigkeitskomplexes zu entlarven. Tatsächlich hatte er, ungeliebt, wie er sich im Lande fühlt, durchaus Anlass, sich einen ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex zuzulegen. Dieser ist aber offiziell im Besitz des Aargauers und durch dessen Geschichte als langjähriger Untertanenkanton zweifelsfrei legitimiert. Indem sich der Zürcher mit dem Grossmaul eben abfindet, leistet er zumindest einen Beitrag an die Aufrechterhaltung der eidgenössischen Binnenfeindordnung und kann ja vielleicht später einmal mit dem Aargauer tauschen.
Radikaler wäre, das Vorhandensein des Zürchers an sich zu verneinen. Da er sich jedoch einmal pro Jahr im Biedermeierkostüm an die Öffentlichkeit wagt, muss er zumindest als teilexistent akzeptiert werden. In der von ihm selbst vorgelegten Form definiert er sich als Rechtsanwalt, Arzt oder Bauunternehmer, der jedoch gesellschaftlich als Bäcker, Schneider oder bescheidener Quartierbewohner hervortritt. Es ist damit in den Kreisen, in denen man sich zum Zürchertum noch ausdrücklich bekennt, das Löwensymbol ein eher abwegiges. Hier trägt man, wie die Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius, den Kopf lieber diskret unter dem Arm.
Wir müssen also den Zürcher, den die Eidgenossenschaft als grobschlächtigen Dampfplauderer wahrnimmt, unter den Späteingesessenen suchen, den vom Sog der Metropole zwangszürcherisierten Zuwanderern. In seiner extremsten Form ist er der Anhänger des Zürcher Schlittschuh-Clubs mit dem blauweissen Foulard, der im Hallenstadion tatsächlich so lange so ohrenbetäubend zu vernehmen war, dass der Verein sich gezwungen sah, fortan Lions zu heissen. Über ein, zwei Generationen hinweg sind ihm die Idiome seiner Herkunft abgeschliffen worden. Nimmt man dem Schweizerdeutschen alle regionalen Charakteristika weg, kommt dann dieser ungemilderte Zürcher Dialekt heraus, der eigens für den Lautsprecher
erfunden zu sein scheint sowie als von melodischer Zutat gereinigte Verständigungsbasis auf der Langstrasse. Soweit diese noch nicht sowieso bereits in fremdkontinentalem Besitz.
Grundsätzlich ist der Zürcher als Löwe nicht ganz falsch getroffen. Schliesslich steht er wirtschaftlich im Lande zuoberst auf der Nahrungskette. Und er braucht keine natürlichen Feinde wirklich zu fürchten ausser sich selbst.
Jürg Ramspeck, profunder Kenner des Zürcher Wesens, ist «Blick»-Kolumnist und Gastmitglied 2003 des Art Directors Club Schweiz.