Das Klischee lebt. «Wir zeigen unser Geld nicht», betont Ivan Pictet. «Diskretion ist für uns sehr wichtig.» Nach Zürich, in den Salon des Edelhotels Baur au Lac, ist der Mitinhaber des gediegensten Genfer Geldhauses gekommen, um die Bedingungen der Zusammenarbeit festzulegen: Keine Schätzung von Kapital oder Gewinn, keine Recherche über das Vermögen der acht Teilhaber, keine Nennung von Kundennamen. Nur dann ist die grösste Privatbank Europas bereit, zum ersten Mal einem Journalisten ihre Türen zu öffnen. Was bleibt diesem anderes übrig, als zu akzeptieren? Noch immer gibt sich der Privatbankier als scheues Wesen, das es am liebsten sähe, wenn seine Bank nicht einmal ein Namensschild hätte, und das seine Kundenliste eher hinunterschlucken würde, als sie in fremde Hände fallen zu lassen. Pictet & Cie: die grösste der 16 Schweizer Privatbanken, 110 Milliarden Franken Kundengelder, 1100 Mitarbeiter, Niederlassungen in London, Luxemburg, Singapur, Montreal, Rio und sieben weiteren Städten. Gegründet 1805 in Genf, Privatbankiers in sechster Generation, Vorbild der Schweizer Paradeindustrie. Und noch immer ein Mysterium.
Das siebenstöckige Hauptquartier an der Genfer Plaine de Plainpalais, dem weiträumigen Platz am Rande der Genfer Innenstadt, trägt zunächst wenig zur Klärung bei. Der klobige weisse Backsteinbau, bezogen 1975, strahlt wenig Gediegenheit aus. Natürlich ziert ein Portier in noblem Gewand die Rezeption in der Eingangshalle, doch den bieten andere Privatbanken auch. Ein Unterschied: der grosse Kassenraum mit Bankschalter. Was will die edelste Vermögensverwaltungsbank des Landes mit einem simplen Geldschalter? «Architektonische Fehlleistung» oder «Garage» urteilen selbst die eigenen Mitarbeiter. Denn wenn ihre Kunden Bargeld wollen, lassen sie es aus dem Kassenraum in ihr Büro kommen. Wer mehrere Millionen besitzt - Pictet akzeptiert Vermögen ab einer halben Million Franken, doch der Durchschnitt liegt deutlich höher -, soll nicht an einem profanen Schalter anstehen. Der wird somit vor allem von den Mitarbeitern genutzt. Doch er hat noch einen anderen Zweck. Vor ihm steht - wenn nicht gerade eine Oldtimer-Rallye stattfindet, wie bei unserem Fototermin - eine Attraktion: das Auto aus dem Jahre 1914, Pic-Pic genannt, Reminiszenz an den früheren Autobauer Piccard-Pictet.
Sonst ist es ein Bankgebäude wie viele andere auch. Nicht nur die Händler arbeiten in Grossraumbüros, sondern auch die Kundenberater, eine Umstellung für Neuankömmlinge von Grossbanken, von denen es nach der UBS-Fusion viele gibt. Fünf Etagen Tresorräume gehen in den Boden, im Erdgeschoss leistet sich Pictet noch eine eigene Druckerei. Durch die Verdreifachung der Mitarbeiterzahl in den letzten zehn Jahren weitete sich die Bank in die angrenzenden Häuser aus. Der Platzmangel führt zu einer Besonderheit: Weil das allmorgendliche Treffen der etwa 150 Führungskräfte immer mehr Raum beanspruchte, verleibte sich Pictet das angrenzende Theater der «Fondation des amis de l’instruction» ein. Seit kurzem präsentieren die Referenten ihre Charts auf einer Bühne (gegen den Fototermin dort sträubten sich die acht Associés zunächst - «wir sind doch keine Schauspieler»).
Dem Erfolgsgeheimnis näher kommt, wer im siebten Stock die Büros der Associés, der Eigentümer, aufsucht. Acht von ihnen zählt die Bank derzeit (siehe oben: «Mit unbeschränkter Haftung»): Als Seniorpartner und faktische Chefs die Cousins Ivan und Charles Pictet, beide HSG-Absolventen, der erste für die Aussenwirkung zuständig, der zweite für die internen Abläufe, dazu Claude Demole, auch er Vertreter einer alteingesessenen Genfer Bankierfamilie. Darunter die mittlere Generation mit Nicolas Pictet, einem entfernten Verwandten der Cousins, Jacques de Saussure, auch er Mitglied des Genfer Geldadels, und Philippe Bertherat, dem einzigen Associé einfacher Herkunft (allerdings begleitete er schon in jungen Jahren den begeisterten Segler Charles Pictet bei dessen Bootstouren) und bereits Chef der mit Abstand wichtigsten Sparte, dem Private Banking. Schliesslich gibt es noch zwei Nachwuchskräfte, seit April dabei: Jean-François Demole und Renaud de Planta, zuvor Nordasien-Chef der alten UBS.
Die engen Büros der Associés liegen direkt nebeneinander, am Ende des Ganges befindet sich ein Salon, in dem sie sich jeden Morgen eine halbe Stunde treffen - wobei allerdings kaum mehr als dreimal im Jahr alle acht in der Zentrale sind. Gemälde vom historischen Genf zieren die Wände. Die Tradition wird am stärksten spürbar im Büro von Ivan Pictet. Ein Buch über die Familie, für jeden zugänglich, ist direkt neben der Eingangstür zu finden. «Sustine et abstine», frei übersetzt «Ertrage und verzichte», lautet das puritanische Motto der Familie, festgeschrieben im Wappen. Über 19 Generationen reicht der Stammbaum der Pictet-Männer bis ins Jahr 1344 zurück (Frauen sind nicht erwähnt, und die Associés lassen keinen Zweifel daran, dass eine Frau in ihrem Kreis auch heute noch undenkbar ist). Vier Hauptstämme zählt die Familie heute, und das sichert das Überleben des Banknamens, denn der darf gesetzlich nur fortbestehen, solange mindestens ein Pictet Teilhaber ist.
Die Tradition lebt fort, wenn Mitarbeiter Ivan Pictet mit «Notre Sierr» anschreiben, eine altertümliche Referenzerweisung an die Eigentümer. Die Anrede Eure Exzellenz jedoch, laut Genfer Gerüchten bei Pictet noch üblich, ist nicht zu vernehmen. Ivan Pictet, der distinguiertere der beiden Cousins, ist der angelsächsischen Kultur nach Schuljahren in England zugetan und hat die dortige Direktheit im Umgang übernommen. Und Charles Pictet, Patriarch und Seele der Bank, ist für seine joviale Art bekannt. Angesichts der Verluste der Grossbanken etwa kann er eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen, doch bei den Kontrollproblemen zeigt er sich nachsichtig - wer könne schon wissen, was seine Frau gerade mache? Wie erklären die Pictets ihren Erfolg? «Wir haften unbeschränkt und sind deshalb automatisch risikoscheu», sagt Ivan Pictet. Und Cousin Charles fügt hinzu: «Es ist kein Gegensatz, eine sehr konservative Grundphilosophie zu haben und trotzdem in unseren Geschäften dynamisch zu sein.»
In der Tat: Nur wenigen Banken scheint es so gut wie Pictet zu gelingen, Tradition und Innovation zu verbinden. Noch immer lebt die Bank vor allem von ihrem klassischen Geschäft, der Betreuung der Reichen dieser Welt. Und das ist, trotz allen Umbruchs, noch immer ein konservatives, wenig spektakuläres Geschäft. Gewiss, immer neue Rivalen drängen in dieses weitgehend krisenresistente Gebiet, die Bedeutung des Bankgeheimnisses hat abgenommen, es gibt eine neue Generation, die nicht nur exzellente Betreuung, sondern auch Performance will. Doch all das hat für Pictet noch keine entscheidende Bedeutung. «75 Prozent unser Kunden sind über fünfzig Jahre alt», betont der Kundenberater Heinz Christen. «Die wollen, dass wir ihr Geld weiter vorsichtig anlegen.» Seit 28 Jahren betreibt er bei Pictet das Geschäft so, wie es die Grossbanken eben nicht können: Jedem seiner Millionärskunden gibt er das Gefühl, der einzige zu sein. Er besorgt schon mal Theaterkarten oder Flugtickets und kümmert sich um die Einschulung der Kinder. Dazu konserviert er das Vermögen, und das bringt die Kommissionen, die noch immer das Rückgrat der Bank bilden.
Von dieser Basis aus hat sich die Bank in vier wesensverwandte Geschäftsbereiche vorgewagt. Als erste Schweizer Privatbank begann sie vor dreissig Jahren das institutionelle Anlagegeschäft und ist dort heute mit verwalteten Vermögen von etwa 30 Milliarden Franken in der Schweiz die Nummer zwei (bis zur UBS-Fusion war sie sogar auf dem ersten Platz). Genauso zielstrebig wurde das Fondsgeschäft aufgebaut. Heute verwaltet die Bank neun Milliarden an Fondsgeldern, und auf bestimmten Gebieten wie etwa den Emerging Markets ist sie auch den Grossbanken deutlich voraus. Jüngst hat sie den sogenannten Pictet Fund Account lanciert, mit dem Kunden bereits ab 25 000 Franken bei Pictet einsteigen können - ein erstes Vortasten ins Kleinkundengeschäft. Dann gibt es noch die Bereiche Equity Sales (Aktienverkauf) und das Global-Custody-Geschäft, die Verwahrung von Kundengeldern ohne Beratung. In dem margenschwachen Geschäft, aus dem viele Banken in den letzten Jahren ausgestiegen sind, zählt Pictet mit etwa 30 Milliarden Kundengeldern weltweit zu den Topadressen und schafft es in Kundenumfragen regelmässig auf den ersten Platz.
Mit diesen neueren Geschäftsbereichen werden wohl kaum enorme Summen verdient, auch wenn sie nach offiziellen Angaben durchweg profitabel sind. Im institutionellen Geschäft etwa sind die Margen massiv unter Druck. Doch diese Aktivitäten zwingen die Bank, auf allen Gebieten der Vermögensverwaltung mitzuhalten, und das wiederum schafft zahlreiche Anregungen für das Kerngeschäft Private Banking. Eine klare Spartenrechnung zieht die Bank ohnehin nicht durch. Bezeichnend auch, was Pictet nicht macht - alles, was spektakulär und gefährlich ist: Eigenhandel, Derivategeschäfte, Börseneinführungen.
Die Gratwanderung zwischen Tradition und Erneuerung zeigt sich auch gegenüber der Öffentlichkeit. «Wenn schon Werbung, dann diskret» war jahrelang das Motto, von dem Ivan Pictet heute nichts mehr hören will. Denn wenn sich die Bank im internationalen Fondsgeschäft mit den Grossen messen will (Schroders, Templeton), lässt sich mit Diskretion weder Eindruck noch Profit machen. Auf Druck von Pictet haben die Genfer Privatbankiers im Sommer 1997 das Werbeverbot aufgehoben. Neben den gemeinsamen Anzeigen darf jetzt jeder auch Produktwerbung machen, was Pictet am meisten nutzt. Und auch das Abwerbeverbot gilt schon lange nicht mehr: Man fasse sich nicht mehr mit Samthandschuhen an, betont Ivan Pictet.
Sich wie die Zürcher Konkurrenten Bär und Vontobel als Aktiengesellschaft kotieren zu lassen, ginge allerdings zu weit. «Natürlich prüfen wir das, doch bisher reizt es uns nicht», sagt Ivan Pictet. Denn im Falle einer Börsenöffnung müssten sie Eigenkapital, Gewinn und Spartenzahlen publizieren, und das wäre doch zuviel der Öffnung. Wenn ein Kunde genauere Zahlen will, kann er sie bei der Rating-Agentur ICBA beziehen, vertraulich natürlich. So ist es für die Associés jedes Mal ein Freudentag, wenn sie die Geschäftsberichte von Bär und Vontobel mit ihren detaillierten Informationen erhalten; akribisch können sie ihre internen Zahlen vergleichen und müssen nichts preisgeben. Wenn Bär, bei fast identischen Kennzahlen 1997 mit einem Gewinn von 200 Millionen Franken, eine Konsolidierung auch in der Privatbankenszene vorhersagt, geben sich die Pictets gelassen. Sie wissen, dass ihre Kapitalstruktur für eine Fusion wenig geeignet wäre. Eine Akquisition wäre einfacher, und nachgedacht wird darüber schon.
So endet jeder Versuch einer Erklärung von Pictets Erfolg bei der besonderen Kultur. Sie unterscheidet die Bank nicht nur von den Grossbanken, sondern auch von anderen Vermögensverwaltungsbanken, die sich zwar Privatbanken nennen, aber die unbeschränkte Haftung aufgegeben haben. «Wir haben nur ein Ziel: Unsere Bank unseren Nachfahren besser zu übergeben, als wir sie erhalten haben», sagt Charles Pictet. Das ist seine Mission, und um sie zu erfüllen, muss er auf niemanden Rücksicht nehmen. Denn die Bank gehört nur den jeweiligen Teilhabern, und wenn diese sie verlassen, werden sie mit dem Buchwert ausbezahlt. Aktionäre, die auf höhere Rendite oder Verkauf drängen, gibt es nicht. Ein Börsengang, der genau solche Aktionäre schaffen würde, wäre für die Pictets deshalb ein Verrat am Familienethos. Den Bärs und Vontobels, räsonniert Charles Pictet, mag es in dieser Generation noch gelingen, den Geist der Familie zu bewahren. «Doch was ist in der nächsten Generation, wenn professionelle Manager das Sagen haben?» Der Geist des Dienens beherrscht die Bank von der Führungsetage aus. Noch immer ist es eine Sünde, das Eigenwohl über das Wohl der Bank zu stellen. Jeweils zwei Associés teilen sich eine Sekretärin. Bei Europaflügen sind sie in der Economy-Klasse anzutreffen. Und noch immer erzählen die Mitarbeiter gern vom langjährigen Associé Pierre Lardy, der mit dem Motorroller zur Arbeit kam. Das dient der Legendenbildung, auch wenn die Bankbesitzer im Privatleben kaum darben.
Vor allem zeigt sich diese Kultur jedoch in der Behandlung der Mitarbeiter. Jeder von ihnen hat vor seiner Anstellung mit mindestens einem Associé gesprochen. Einmal im Jahr lädt Charles Pictet alle neuen Mitarbeiter inklusive Ehepartner zu sich nach Hause ein. Und wenn er das Besondere seiner Bank erklären soll, holt er einen gelben Zettel hervor. «Relation avec les collaborateurs» lautet die Überschrift: «Wir haben unsere Angestellten immer als Mitarbeiter angesehen, die mit uns zusammen durch ihre Arbeit und ihren Eifer zum Wohlstand des Hauses beitragen, und wir haben immer darauf Wert gelegt, sie mittels der Verteilungen am Ende des Jahres … an den Ergebnissen teilhaben zu lassen.» Unterschrieben von Guillaume Pictet, dem Grossvater von Charles, im Dezember 1921. «Das haben wir damals gelebt, und das leben wir heute.» Und damit gehe die Bank auch ins nächste Jahrtausend - als bewusstes Gegenprogramm zur anonymen Aktiengesellschaft.
Die Mitarbeiter bestätigen das. Kaum ein Satz zieht sich so durch die Gespräche wie: «Wir werden gut bezahlt.» Nach konservativen Schätzungen liegen die Gehälter mindestens 20 Prozent über denen der Grossbanken. 60 Prozent der Mitarbeiter sind am Gewinn beteiligt. Wer etwa Nicolas Johnson, den Londoner Pictet-Chef, auf das Erfolgsrezept anspricht, bekommt als erstes die Antwort: «Wir werden alle am Gewinn beteiligt.» Die Londoner, wichtigster Auslandsstützpunkt, haben als einzige Niederlassung das Recht durchgesetzt, an ihren Erträgen direkt teilzuhaben. Die Folge dieser Salärpolitik: Die Fluktuation liegt im Bankkader bei einem Prozent, für die Gesamtheit bei vier Prozent, gegenüber klar über zehn Prozent bei den Grossbanken. Entlassungen gibt es praktisch nicht. Und wer Pictet-Mitarbeitern etwas Negatives über ihre Bank entlocken will, scheitert sogar zu fortgeschrittener Stunde fast immer - auch das ist in der Bankenszene ungewöhnlich.
Natürlich ist diese Kultur nicht jedermanns Sache. Wer lieber ein traditionelles Karriereumfeld mit ausgeprägter Risikokultur und starker Dynamik will, verlässt die Bank von sich aus. Prominentestes Beispiel ist Fabien Pictet, ein entfernter Cousin von Charles und Ivan. Nach mehreren Jahren bei Pictet in London wurde er im Alter von 38 Jahren Associé. Doch die Nähe des Londoner Finanzplatzes fehlte ihm, die administrativen Pflichten behagten ihm nicht, und mit Ideen für innovative Produkte war er in der Chefetage isoliert. «Kreativität und Profitdenken sind bei Pictet nicht ausgeprägt wie in der angelsächsischen Kultur», sagt er. Nach nur 14 Monaten gab er im September 1997 seine Teilhaberschaft zurück - ein mehr als ungewöhnlicher Vorgang. Er ging zurück nach London und machte sich dort selbständig, mit zwei hochrangigen Mitarbeitern von Pictet, was dort gar nicht goutiert wurde. Ende November lancierte er seinen ersten Emerging-Markets-Hedge-Fonds. Bei Pictet wäre ihm das für immer versagt geblieben. Für die Cousins Pictet und ihre Mitstreiter war der Abgang bedauerlich, doch nicht zu vermeiden. Die Bank will keine Hedge-Fonds, keine Derivate oder sonstigen Risikovehikel. Sie ist da, um zu bleiben. Nur das zählt.