BILANZ: Herr Professor Shiller, erlauben Sie zu Anfang eine etwas indiskrete Frage: Wo in Ihrem Büro haben Sie den Börsenticker versteckt?

Robert J. Shiller (lacht): Nun, bei der Vorbereitung meiner Vorlesungen hier an der Yale University komme ich ganz gut ohne die tagesaktuellen Kurse aus.

Dabei dachten wir, als legendärer Market-Timer müssten Sie ununterbrochen auf das Laufband starren, um im Bild zu bleiben.

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Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich interessiere mich sehr für die Ups und Downs der Märkte und Indizes, auch die täglichen. Aber meine Aussagen über bestimmte Trendlinien an den Börsen fussen dann doch eher auf einer historisch-wissenschaftlichen Sichtweise.

Seit Ihrem Buch «Irrational Exuberance» von 1999, in dem Sie das Ende der Spekulationsblase vorwegnahmen, eilt Ihnen gleichwohl der Ruf eines Gurus voraus. Eine schwierige Rolle für einen Akademiker?

Nein, wir forschen hier ja nicht im Elfenbeinturm. Mein Freund Professor Jeremy Siegel hatte damals im Übrigen gerade «Stocks for the Long Run» verfasst. Darin propagiert er die langfristige Überlegenheit der Aktien. Ich erzählte ihm von meinen gegenteiligen Einschätzungen – er ermunterte mich, sie ebenfalls in einem Buch zusammenzufassen.

War das Schreiben ein Rennen gegen die Zeit?

O ja! Ich musste ja immer befürchten, dass die Börse noch vor dem Erscheinen meines Buches einbrechen würde. Also habe ich praktisch Tag und Nacht geschrieben – an Schlaf war kaum zu denken. Insgesamt habe ich das Manuskript in nur neun Monaten fertig
gestellt.

Für Pessimisten wie Sie muss das letzte halbe Jahr wieder nervenaufreibend gewesen sein. Die Börsen kletterten munter – niemand wusste so recht, warum eigentlich.

Meine Aufregung hält sich in Grenzen. Für mich sind die Märkte noch immer – oder besser: schon wieder – überbewertet.

Der amerikanische S&P 500 Index hat sich seit seinem Tiefstand von 768 Punkten tatsächlich mächtig aufgeplustert.

Genau das ist das Problem. Wir haben im S&P 500 jetzt schon wieder ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von über 30, nachdem es zwischenzeitlich auf 22 gefallen ist. Historisch betrachtet aber sind Raten von 12 bis 15 normal. Und noch in den Achtzigerjahren war ein KGV unter zehn der Durchschnitt.

Hände weg von Aktien also?

Wertpapiere mit ordentlichen Dividendenausschüttungen waren in den letzten hundert Jahren eine gute Anlage. Aber einfach zu behaupten, Aktien seien die beste Investitionsform, ist Unsinn. Es hängt davon ab, was die Firma macht, in die man investiert, und wer dahinter steht. Im Vergleich zu Obligationen und Immobilien scheinen mir Aktien derzeit besonders schwankungsanfällig zu sein.

Im Dezember 1996 hat Notenbank-Chef Alan Greenspan erstmals vom «irrationalen Überschwang» gesprochen, nachdem er mit Ihnen zusammen zu Mittag essen war. Müssen Sie jetzt wieder mit ihm lunchen?

Tatsächlich rochen manche Kurssprünge an der Nasdaq schon wieder verdächtig nach irrationaler Übertreibung. Die Märkte wollten nur das Positive hören. Alles Psychologie: Wenn die Märkte steigen wollen, dann kann sie zunächst keiner aufhalten.

Zur Person
Robert J. Shiller


Der an der amerikanischen Yale University lehrende Ökonom gilt als führender Vertreter der Behavioral Finance, einer revolutionären Strömung in der Finanzmarktforschung. Diese greift – im Gegensatz zu den traditionellen Wirtschaftswissenschaften – auf Erkenntnisse aus Psychologie und Soziologie zurück.


Einem breiteren Publikum wurde Shiller (57) durch den Bestseller «Irrational Exuberance» («Irrationaler Überschwang») bekannt. Darin analysiert er die strukturellen und psychologischen Faktoren, die zwischen 1994 und 1999 zu einer Verdreifachung der Aktienkurse an der Wall Street und zur Spekulationsblase führten. Robert Shiller sah das Ende der Hausse und eine lange Baisse voraus.


In seinem neuesten Buch, «Die neue Finanzordnung» (Campus Verlag, Frankfurt / New York, 2003, Fr. 57.70), liefert Shiller ein Plädoyer für eine stärkere Nutzung von Derivaten beim öffentlichen, unternehmerischen und individuellen Risikomanagement. In der 1991 von ihm mitbegründeten Firma Case Shiller Weiss Inc. vermarktet der Akademiker seit Jahren Indizes für Immobilienpreise.

Gleichwohl könnte der Dow Jones auch in zwanzig Jahren noch auf einem Niveau zwischen 10 000 und 11 000 Punkten stehen, wie Sie behaupten?

Durchaus möglich. Und wissen Sie, was das Erstaunlichste daran ist: Es bedarf in diesem Szenario nicht einmal tiefer Rezessionen. Es reicht schon, wenn die Gewinne der Unternehmen nicht mehr wie bisher wachsen. Es gab mehrere Phasen in der Geschichte, in der es so war. Damals war auch am Aktienmarkt nichts zu verdienen. Inflationsbereinigt erreichten etwa die Kurse erst 1992 wieder den Stand von 1966. Auch zwischen 1901 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs war an der Börse nichts zu holen.

Die Welt hat sich geändert: Die Inflation ist viel niedriger als früher, die Notenbanken haben dazugelernt, und das Interesse an Aktien nimmt immer weiter zu. Sind vor diesem Hintergrund nicht deutlich höhere Bewertungen gerechtfertigt? Der legendäre Investor Sir John Templeton prophezeit, der Dow liege am Ende dieses Jahrhunderts bei einer Million Punkten.

(Lacht) Das war ja wohl eher scherzhaft gemeint! Es würde mich nämlich sehr wundern, sollte es den Dow Jones als Index dann überhaupt noch geben – der ist letztlich ein willkürliches Konstrukt, zusammengestellt von einem New-Yorker Verlagshaus.

In Ihrem neuen Buch, «The New Financial Order», geht es Ihnen nicht um eine Diagnose von Kapitalmarktrisiken …

… die für den Vermögensspiegel der meisten Bürger ohnehin nur eine untergeordnete Bedeutung haben …

… denen jedoch trotzdem unglaublich viel Mühe in puncto Absicherung geschenkt wird.

Ja, und andere Risiken, die für den Wohlstand der meisten Menschen eigentlich viel wichtiger sind, bleiben ausser Betracht. Dabei kann man Börsenverluste zur Not noch wegstecken – aber was tun, wenn beispielsweise das eigene Haus von Jahr zu Jahr an Wert verliert? Oder einen die Arbeitslosigkeit trifft? Oder ein Rentenkrach droht?

Um Probleme dieser Grössenordnung kümmern sich gewöhnlich Sozialpolitiker.

Schon richtig, aber in ihrer Substanz sind das alles finanzielle Risiken, gegen die man sich mit entsprechenden Finanzinstrumenten absichern könnte.

Sie wollen das Risiko abschaffen? Das klingt sehr unamerikanisch!

Keineswegs. Risiko ist der Motor für wirtschaftlichen Fortschritt. Die Finanzmärkte sind sehr gut darin, Risiken zu kanalisieren. Moderne derivative Finanzinstrumente zum Beispiel könnten sich nicht nur für Hedge-Fonds-Manager bei der Sicherung von Aktiendepots bewähren, sie taugen auch zur Abfederung sozialer Notfälle.

Geht es ein wenig konkreter?

Schauen Sie sich etwa die Immobilienpreise an, wo ja derzeit viel über eine mögliche neue «bubble» spekuliert wird: Bei uns in den Vereinigten Staaten existieren bereits Instrumente zur Sicherung des Verkehrswerts von Eigenheimen. Der nationale Index für Immobilienpreise lässt sich in Teilindizes für Städte und Bezirke disaggregieren, und auf den prognostizierten Indexverlauf in der Zukunft werden dann Terminkontrakte konstruiert. Wer sich um den Wertverfall einer Immobilie in einer bestimmten Gegend sorgt, sichert sich durch eine entsprechende Gegenposition ab. Amerikanische Hypothekenbanker machen von dieser Möglichkeit regen Gebrauch.

Solche Terminkontrakte sind für andere Risikofelder denkbar?

Warum nicht? Die Fortschritte in der Datenverarbeitung ermöglichen längst neue Anwendungen. Nehmen Sie nur die Entwicklung des Bruttosozialprodukts. Auf den Wohlstand des einzelnen Bürgers hat keine Variable der wirtschaftlichen Entwicklung so starke Auswirkungen wie das Wachstum der Volkswirtschaft, in der er arbeitet. Ich erinnere Sie daran, dass das argentinische Pro-Kopf-Einkommen 1965 fünfmal so hoch lag wie in Südkorea. 1990 dann tauschten diese Länder die Plätze. Man kann sich ausmalen, wie weit die Rentenansprüche in diesen beiden Ländern nunmehr auseinander klaffen. Hätte man aber 1965 Terminkontrakte auf den prognostizierten Verlauf der jeweiligen Volkswirtschaft angeboten, dann hätten sich die argentinischen Pensionskassen angemessen absichern können.

100 Put-Optionen auf Westeuropa, 200 Calls auf China – klingt gut. Es dürfte am Anfang allerdings schwierig sein, im Markt genügend Liquidität zwischen Käufern und Verkäufern zu schaffen.

Das würde sich im Laufe der Zeit von selber lösen.

Mit anderen Worten: Risikoinstrumente zur Absicherung der Lebenslagen von jedermann?

Ja, die Funktion eines Finanzmarkts besteht vor allem darin, unterschiedliche Risiken zu bewerten, zu verteilen und dadurch für jeden einzelnen Marktteilnehmer zu reduzieren. Im Allgemeinen sind Banken, Versicherungen und Finanzmärkte relativ erfolgreiche Risikomanager.

Dann hätten Sie in den vergangenen drei Jahren aber mal die Portfolios der europäischen Grossversicherer sehen sollen!

Ich sagte: im Allgemeinen! Was ich vorschlage ist, die Innovations- und Finanzkraft dieser Infrastruktur nun auch zur Abdeckung von langfristigen Wirtschaftsrisiken zu nutzen, die bisher von Individuen und ihren Familien getragen wurden. Zu diesen Unwägbarkeiten gehören Schwankungen im Volkseinkommen ganzer Länder, eine allzu ungleiche Wohlstands- und Einkommensverteilung oder langfristige Einkommensverluste etwa auf Grund einer ungünstigen Berufswahl.

In Ihrem Buch zitieren Sie das Beispiel einer jungen Frau, die sich überlegt, Violinistin zu werden, sich aber angesichts der unsicheren Berufsaussichten nicht traut.

Ja, solange sich eine umfassende statistische Datei entwickeln lässt, könnte auch ihr Risiko ohne Problem bewertet und damit versichert werden. Mein Modell hemmt nicht Risikobereitschaft, sondern fördert sie.

Klingt sehr nobel. Auf wenig positive Resonanz stiess zuletzt die geplante Errichtung einer Terrorismusbörse durch das US-Verteidigungsministerium. Dort sollten Futures gehandelt werden, die im Falle von Terrorakten mit Auszahlungen verbunden wären. Zynisch?

Im Gegenteil. Das Argument war ja, Terroranschläge durch die Verwendung von Future-Marktmechanismen vorherzusagen und so zu verhindern. Es hat sich ja gezeigt, dass solche Märkte sehr effizient und schnell sein können, verstreute und auch verborgene Informationen zu sammeln: Future-Märkte haben demonstriert, dass sie etwa bei Wahlvorhersagen meist besser sind als sämtliche Experten. Aber die Öffentlichkeit hat das Konzept, glaube ich, gar nicht richtig begriffen. Für die klang das nach Zockerbude auf Kosten unschuldiger Opfer.

Ein weiterer Vorschlag Ihres Buches ist es, die heutige Einkommensverteilung durch eine automatische Anpassung der individuellen Steuerbelastung festzufrieren, um die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiterwachsen zu lassen.

Wirtschaftlicher Erfolg hängt oft von Faktoren ab, auf die wir keinen Einfluss ausüben können. Wie kann ein Richard Grasso (Vorstandschef der New York Stock Exchange, Red.) 140 Millionen Dollar an aufgelaufenen Rentenansprüchen verdienen, zusätzlich zu seinem ohnehin üppigen Gehalt? Einkommensunterschiede sind zu einem wesentlichen Teil willkürlich.

Sind sie deshalb auch verwerflich?

Wir müssen extreme Ungleichheiten vermeiden, weil sie sozial destruktiv sind.

Würde die Willkür der unvorhersehbaren Zukunft nicht durch die Willkür des amerikanischen Kongresses ersetzt, der ja die «ideale» Einkommensverteilung festzusetzen hätte?

Sehen Sie, wir haben ja keine andere Wahl, wenn wir nicht riskieren wollen, dass das Gemeinwesen auseinander bricht.

Sie klingen jetzt wie der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck, als dessen grösste Leistung die Sozialgesetzgebung von 1881 gilt. Sind Sie ein heimlicher Sozialreformer?

In Amerika haben wir mit dem New Deal 1935 den letzten wirklich bedeutenden Schritt getan. Wir müssen diese Konzepte jetzt ins 21. Jahrhundert übersetzen – und die moderne Datenerfassung samt Computertechnik sowie die globalen Finanzmärkte können uns dabei helfen.

Otto von Bismarck – Franklin D. Roosevelt – Robert J. Shiller: eine beeindruckende Ahnenreihe!

(Lacht) Nun ja, mit diesem Dreiklang könnte ich sehr gut leben.