Europa spielt im US-Wahlkampf keine Rolle. Für die Beziehung Amerikas zu Europa aber wird die Entscheidung der Wähler im November enorme Bedeutung haben. Noch nie war ein US-Präsident in Europa so unbeliebt wie George W. Bush. Eine erneute Entscheidung der Amerikaner für diesen Präsidenten würde in allen europäischen Ländern das wachsende Lager derjenigen stärken, die in einer grösstmöglichen Autonomie von den USA die beste Antwort auf Europas Probleme sehen.
Die Ablehnung Bushs sitzt tief: Selbst Bürger, die das politische Geschehen nur beiläufig verfolgen, haben den Glaubwürdigkeitsverlust registriert, den sich Amerika durch die irreführende Begründung des Irak-Krieges und das miserable Management des Wiederaufbaus zugefügt hat. Auch wenn er knapp wäre – ein neuer Wahlsieg für Bush würde Europa in dem Gefühl bestätigen, dass auf Amerikas Wort und Amerikas Kompetenz kein Verlass mehr ist.
Umso begeisterter wäre die Aufnahme, die ein Präsident John F. Kerry in Europa fände. Die Erleichterung, mit dem mächtigsten Politiker der Welt wieder zu einer gemeinsamen Sprache finden zu können, wäre nicht nur in den Staatskanzleien riesengross. Die enorme Beliebtheit Bill Clintons hat gezeigt, wie dankbar Europäer auf einen US-Präsidenten reagieren, der ihre Kultur schätzt und dem europäischen Wertesystem mit Respekt begegnet.
Europäische Anleger hingegen sind mit einer paradoxen Situation konfrontiert: Je wahrscheinlicher die Abwahl des US-Präsidenten wird, desto eher drohen Verluste an den Aktienmärkten. Denn diese bevorzugen von jeher die Kandidaten der Republikaner und assoziieren zudem einen Machtwechsel mit politischer Unsicherheit. An der Wall Street gilt es dementsprechend als staatsmännisch und geschäftlich verantwortungsvoll, dem Amtsinhaber im Wahlkampf finanziell unter die Arme zu greifen. Simple Gleichung: In einem Jahr, in dem die Wiederwahl des Präsidenten ansteht, wird ein Wirtschaftsaufschwung nicht unterbrochen. Und: Der Aufschwung fällt umso stärker aus, je klarer der republikanische Kandidat führt.
Doch die altbewährten Formeln sind diesmal möglicherweise reine Makulatur. Selbst Alan Greenspan hält sie für suspekt. Vor dem Kongress sprach der Notenbankchef im Februar den denkwürdigen Satz: «Die Geschichte lehrt: Wenn die Zukunft überrascht, dann überrascht sie uns oft alle.» Und: «Wir sollten uns daran erinnern, dass alle Vorhersagen Projektionen in eine ungewisse Zukunft sind.» Die Mahnung war vor allem an die republikanische Seite im Haus und im Senat gerichtet, die vor lauter Begierde, ihren Präsidenten und ihren eigenen Sitz im November bestätigt zu bekommen, die durchaus imposanten Wachstumsraten der letzten Quartale in den USA munter auch für den Rest von 2004 extrapoliert.
Die Sorge erscheint berechtigt, dass der Boom in den USA, ausgelöst durch die drastisch hochgefahrene Staatsverschuldung und die rekordniedrigen Zinsen, eben doch nicht in einen selbsttragenden Aufschwung münden wird. Sollten die Investoren plötzlich Angstattacken kriegen, hat die Notenbank vom Zinsniveau von einem Prozent aus aber keine Möglichkeit mehr, wirkungsvoll zu intervenieren. Dann könnte schnell Ungemach von einer Grössenordnung drohen, angesichts deren es für europäische Börsianer egal ist, ob der Mann im Weissen Haus ab November George W. Bush oder John F. Kerry heisst.