Langsam stellt sich die Frage, ob man die Rückschläge dieser Woche in eine grosse Tradition setzen kann – nämlich jene der legendären Börsencrashs. Wird man den Februar 2020 später einmal in eine Reihe stellen mit dem Oktober 1929 («Schwarzer Donnerstag»), dem Oktober 1987 («Schwarzer Montag»), März 2000 («Dotcom-Blase») oder dem Oktober 2008 (Lehman-Krach)?
Denn immerhin: Die Zahlen sind drastisch. In Punkten erlitt der Dow-Jones-Index am Donnerstag den grössten Rückschlag seiner Geschichte, und überhaupt war diese Woche die schlimmste seit der Finanzkrise von 2008. Der Schweizer SMI verlor von Montag bis Freitag über 11 Prozent seines Wertes.
Dies ähnelt tatsächlich dem, was man sich gemeinhin unter einem Börsenkrach vorstellt. «Investopedia», das Nachschlagewerk, bezeichnet als Crash einen «plötzlichen und signifikanten Rückgang» im Wert eines Marktes. «Zumeist steht er in Beziehung zu einem aufgeblasenen Aktienmarkt.» («A crash is most often associated with an inflated stock market.»)
Noch wird das C-Word vermieden
Auch dieser Punkt schiene halbwegs erfüllt. Als es am Montag losging, war der S&P-Index mit einer Price-Earnings-Ratio von 26 zweifellos teuer. Und das Technologie-Barometer Nasdaq war mit seiner P/E-Ratio von über 29 sogar noch höher bewertet.
Dennoch fällt auf, dass das Wort «Crash» immer noch sehr zurückhaltend eingesetzt wird. Analysten und Investmentstrategen, aber auch angelsächsische Leitmedien wie «Wall Street Journal» und «Financial Times» vermeiden das C-Wort noch. Man spricht lieber von «sell-off» oder einem «market storm».
Denn zum einen sind die Tagesverluste immer noch in einem engeren Bereich. Die übelsten Tage an den Hauptbörsen endeten in Verlustbereichen von 4 bis 5 Prozent. Von den Rückschlägen des «Black Thursday» 1929 (minus 15 Prozent beim Dow Jones), «Black Monday» 1987 (minus 20 Prozent) oder des Nikkei-Crash 2007 (minus 11 Prozent) sind wir also noch ein ganzes Stück entfernt.
Die schnellste Korrektur aller Zeiten
Zudem beendete die Coronavirus-Furcht eine sehr lange Aufstiegsphase: Das rückt die Ereignisse in ein milderes Licht. Beispiel SMI: Der Schweizer Index legte in den letzten fünf Jahren – seit Anfang März 2015 – von 7'770 auf 11'000 Punkte zu. Da ist das 11prozentige Minus dieser Tage eine erträglichere Sache.
Man könnte es aber auch umgekehrt sehen: Noch nie korrigierte der Markt von einem Höhepunkt dermassen scharf wie jetzt.
«Die Korrektur, die wir in den letzten sechs Handelssitzungen am Aktienmarkt gesehen haben, ist die schnellste Korrektur des S&P500 von einem Rekordhoch»: So formulierte es Torsten Slok, Chefökonom Amerika bei der Deutschen Bank, in «Die Welt». Die Geschwindigkeit des Rückgangs übertreffe sogar die Episode des Schwarzen Montags im Oktober 1987, wo der Höchststand im August 1987 erreicht worden war.
Das heisst: Der Umschwung war diesmal brutal plötzlich – und sehr überraschend: Man hatte das Coronavirus einfach unterschätzt. Dies könnte das Gefühl nähren, dass wir es jetzt wirklich mit einem historischen Börsencrash zu tun haben. Denn die Definition eines Crashs besagt eben auch, dass er zugleich ein psychologisches Phänomen ist.
Dieses psychologische Phänomen wiederum führt oft in eine Negativspirale: Man verkauft, weil alle verkaufen. Man verliert das Vertrauen. Bad feelings. Damit wird der Abstieg zum Teufelskreis.
Vom Crash zum Bärenmarkt
Entscheidend wird also eine weitere Frage: Wie lange hält die Tendenz dieser Woche an? Wachsen sich die Ereignisse in einen Bärenmarkt aus? Was das bedeutet, ist dann schon klarer definiert: Es wäre Abstieg der Börsenwerte um mindestens 20 Prozent über eine längere Zeit.
Je mehr dies eintritt, je mehr es zur Baisse ausartet, je schlechter sich die Aktienmärkte in den nächsten Wochen entwickeln – desto eher werden die Ereignisse der Woche 9 des Jahres 2020 als Crash in Erinnerung bleiben.
Sollten sich andererseits die Kurse rasch erholen, so wird sich bald kein Mensch mehr erinnern, wie sehr damals Crash-Sorgen die Anleger plagten.
Dass der 24. Oktober 1929 dermassen schwarz in Erinnerung geblieben ist – bis in unsere Zeit –, dies lag nämlich auch am Nachspiel: Die Kurse fielen danach noch drei Wochen lang. Dann hielten sie sich kurz – und sackten weiter ab. Es dauerte fast ein Jahr, bis endgültig der Boden erreicht war. Am Ende hatte der Dow-Jones-Index 87 Prozent seines Wertes verloren.
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(rap)