BILANZ: Jacob Wallenberg, die Geschichte Ihrer Familiendynastie ist
eng verbunden mit der Geschichte der industriellen Revolution. Wie bereiten sich die Wallenbergs darauf vor, dass das industrielle Zeitalter zumindest in Europa seinem Ende entgegengeht?
Jacob Wallenberg: Die Unternehmen in Schweden, die wir begleiten, sind häufig über 100 Jahre alt. Die meisten von ihnen – und das erklärt ihren Erfolg – waren von Anfang an sehr international ausgerichtet. Der schwedische Markt war einfach zu klein. Wir mussten wo auch immer in der Welt investieren. Jetzt, da die Industrie in Europa an Bedeutung verliert, investieren und produzieren wir vermehrt in Asien, egal, ob das nun ABB, Ericsson oder Electrolux betrifft. Dafür brauchen wir kein neues Mindset. Für uns ist das Business as usual.
Moment, die momentanen Veränderungen in der Weltwirtschaft, die Globalisierung, den Aufstieg Asiens, die Verlagerung ganzer Industrien um die halbe Welt mit den entsprechenden sozialen und politischen Konsequenzen bezeichnen Sie als Business as usual?
Das Prinzip ist nicht neu. Wirtschaftsprofessoren haben vor 100 Jahren schon darüber geschrieben. Nur das Ausmass ist neu. EU, WTO und Nafta haben eine Menge Handelsbarrieren aufgehoben. Wir sehen Wettbewerb in bisher nicht gekanntem Ausmass. Alles wird grösser, die Geschwindigkeit, die Anforderungen an das Management, die Risiken. Das akzeptiere ich. Aber in aller Fairness: Schwedische, holländische und auch viele Unternehmen aus der Schweiz haben sich damit schon immer befassen müssen. Von daher ist es kein dramatischer Wandel. Trotzdem muss man diese Fragen natürlich ständig im Griff haben.
85 Prozent Ihrer Beteiligungen stecken in der so genannten Old Economy.
Das stimmt. Vor sieben Jahren haben wir beschlossen, den Rest in Venture-Capital und Private Equity in so genannte Zukunftsbranchen zu stecken, hauptsächlich in Biotech beziehungsweise Medizinaltechnik und Telekom beziehungsweise Informationstechnologie. Unser Portfolio im Bereich von Venture-Capital deckt ungefähr 100 Unternehmen ab.
Und diese 15 Prozent sollen reichen, damit Ihre Hodinggesellschaft Investor auch langfristig die gleiche Rolle spielt wie in der Vergangenheit?
Ich will mich nicht auf eine Prozentzahl festlegen, darum geht es nicht. Es geht darum, die richtigen Objekte zu finden. Unsere wichtigste Aufgabe bleibt es allerdings, unsere elf Hauptbeteiligungen aktiv zu managen.
Sehen Sie sich eher als Investor oder als Industrieller?
Gute Frage. Als Industrieller, unser Businessmodell beweist dies. Wenn wir Geld in eine Firma investieren, wollen wir normalerweise zwei von acht Verwaltungsratsmitgliedern stellen. Wir glauben, dass wir dem Unternehmen etwas bringen, wenn wir professionelle und gut vorbereitete Verwaltungsratsarbeit leisten. Und dann wird sich das Unternehmen mit der Zeit hoffentlich gut entwickeln. Das war immer unsere Politik.
Die Investment-Gesellschaften geraten momentan in Europa stark in die Kritik, besonders – Stichwort «Wanderheuschrecken» – in Deutschland. Können Sie dies nachvollziehen?
Nein, eine Investment-Gesellschaft steigt in ein Unternehmen ein, räumt dort auf – ich meine professionell – und verkauft das Ganze nach fünf bis acht Jahren. Das ist hervorragend und wichtig für die Marktwirtschaft. Ich habe am Wochenende mit Henry Kravis (Gründer der grossen amerikanischen Investment-Gesellschaft KKR, Red.) darüber diskutiert. Er erzählte, wie es war, als es der amerikanischen Industrie in den achtziger Jahren nicht sehr gut ging. Sie brauchte einen Kick. Damals begann die Bewegung der Investment-Gesellschaften in den Vereinigten Staaten. Und viele Unternehmen haben viele Kicks bekommen. Das war äusserst wichtig für die Entwicklung der US-Industrie und ihrer Konkurrenzkraft.
Dort gab es keinen Aufschrei wie in Europa.
Weil wir ein anderes Gesellschaftssystem haben. Unsere Politiker benutzen das Thema, um Wählerstimmen zu fangen. So kommt es mir zumindest vor. Ich hoffe, es ist nur ein vorübergehendes Phänomen.
Was muss Europa tun, um mit den Realitäten der Globalisierung zurechtzukommen?
Ich glaube, die Agenda von Lissabon ist sehr wichtig. Ihr Ziel, dass Europa die kompetitivste und am stärksten wissensbasierte Wirtschaftszone der Welt werden soll, ist ein gutes Ziel. Nur so kann man mit Asien und den USA mithalten. Das ist eine Tatsache. Die Frage ist nur: Schaffen wir es auch? Bislang haben wir gezeigt, dass wir nicht sehr gut sind, wenn es um Anpassungen geht.
Inwiefern?
Weil wir uns nicht so entwickeln, wie wir es uns erhofft haben. In den USA ist der Lebensstandard höher, weil die Wirtschaft schneller wächst. Das ist eine gewaltige Herausforderung. Denn am Schluss ist der Lebensstandard von 350 Millionen Europäern niedriger, als wenn wir einen guten Job machen würden.
Konkret: Was müssen wir tun?
Ich bin kein Politiker. Aber ich denke, wir müssen mehr in Forschung und Entwicklung investieren, wir müssen Investitionen aus der ganzen Welt anlocken, die Universitäten müssen besser werden usw. Die Politiker dürfen die Firmen nicht vor ausländischer Konkurrenz schützen, nur damit sie an der Wahlurne einen kurzfristigen Vorteil bekommen. Es gibt eine ganze Menge zu tun.
Also haben wir die falschen Politiker?
Nein, nein, das würde ich nie behaupten! Die Agenda von Lissabon ist die perfekte Roadmap, auf die wir uns alle konzentrieren sollten. Das Problem ist: Wir tun es nicht. Es ist nicht hilfreich, wenn die Politiker das System ständig aus den Schienen springen lassen. Ein grosses Land darf die Regeln brechen – warum also sollte sich ein kleines Land an diese Regeln halten? Das ist ein grosses moralisches Dilemma.
Welche Zukunft hat die Europäische Union, nachdem die EU-Verfassung von Frankreich und den Niederlanden abgelehnt und damit zu Fall gebracht worden ist?
Wenn die EU starke Unterstützung von Politikern und Wählern bekäme, so wie dies vor 20 Jahren der Fall war, dann könnten wir mit den wahren Problemen fertig werden. Aber heute schalten wir alle in den nationalistischen Modus und sorgen uns primär darum, im eigenen Land wieder gewählt zu werden.
Herr Wallenberg, Investor ist die mächtigste europäische Beteiligungsgesellschaft und eine der wichtigsten der Welt. Ihr Clan besitzt bloss ungefähr 21 Prozent an Investor, beherrscht das Unternehmen allerdings über Stimmrechtsaktien. In vielen Ländern, auch hierzulande, sind Stimmrechtsaktien zunehmend verpönt. Halten Sie Ihr Modell für zukunftstauglich?
Das tue ich. Die Leute, die das kritisieren, sind nur eine Minderheit. Sie machen allerdings mehr Lärm als jene, die es unterstützen. Vergessen Sie nicht, dass die New Yorker Börse vor 15 Jahren Stimmrechtsaktien wieder zugelassen hat. Und heute haben dort mehr als 400 Unternehmen dieses System, inklusive Schwergewichten wie Coca-Cola, GM, Ford oder Disney.
Stimmrechtsaktien widersprechen der Idee «One share, one vote».
Ach, diese Aktionärsdemokratie! Können Sie mir erklären, was Aktionärsdemokratie sein soll? Soviel ich weiss, gibt es keine Demokratie auf den Kapitalmärkten. Es ist ganz einfach: Der Stärkere gewinnt. Das ist Kapitalismus, und das ist die Basis unseres Gesellschaftssystems. Plötzlich jedoch sollen wir davon abkommen, wenn es um Aktien und Stimmrechte geht – das scheint mir sehr seltsam. Jedes Unternehmen soll solche Aktien ausgeben können, solange dies die Aktionäre akzeptieren. Das ist Vertragsfreiheit.
Auf Deutsch: Wer Aktien mit geringerem Stimmrecht kauft, ist selber schuld.
Absolut! Alle tun es mit offenen Augen. Jeden Tag werden Millionen Investor-Aktien gehandelt, und die Leute wissen es. Wenn man Aktien mit geringerem Stimmrecht kauft, dann tut man es, weil man an den Erfolg des Unternehmens glaubt und daran teilhaben möchte. Man ist mehr am Gewinn als an der Kontrolle interessiert. Im Übrigen: Wenn das System so schlecht ist, soll der Markt darüber entscheiden.
Sie haben in Brüssel stark dagegen lobbyiert, dass Stimmrechtsaktien EU-weit verboten werden.
Das ist korrekt, und da habe ich auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ich habe EU-Kommissar Frits Bolkestein und andere Politiker getroffen und meine Sicht dargelegt. Ob es etwas genützt hat, weiss ich nicht. Aber am Ende wurde unsere Position übernommen.
Finden Sie es richtig, dass Topmanager ihre Gehälter offen legen müssen?
Ja, ich glaube an Transparenz. Wir selber legen es auch offen. Das ist in unserem Land üblich und auch Teil unserer eigenen Best Practice. Denn Transparenz ist Teil der Beziehung zwischen Aktionären und der Gesellschaft. Der CEO sollte sein Gehalt offen legen. Für die anderen Mitglieder der Konzernleitung reicht die Gesamtsumme.
Also doch nur halbherzige Transparenz.
Nein, der Grund ist ein anderer: In dem Moment, in dem man diese Gehälter einzeln ausweist, steigen sie um 50 Prozent, weil jeder mehr verdienen möchte als der andere. Das ist ein gewaltiges Problem. Es ändert aber nichts daran, dass wir kompetitive Löhne zahlen können müssen. Wenn es soundso viele Millionen Franken kostet, die richtige Person für den richtigen Job zu finden, dann sollten wir das tun können. Ich habe kein Problem mit sehr hohen Gehältern, wenn diese Person ihr Geld auch wert ist.
Und wie messen Sie, ob eine Person ihr Geld wert ist?
Gute Frage. Ich mag die verschiedenen Formen des Benchmarking nicht, sie führen lediglich dazu, die Gehälter aufzublasen. Es gibt allerdings Angebot und Nachfrage. Das sehen wir zumindest in den Vereinigten Staaten, wo der Markt für CEO liquider ist. Und einige CEO erfreuen sich durchaus einer grossen Nachfrage. Sie können hohe Gehälter aushandeln, weil viele Unternehmen sie anstellen wollen. Das respektiere ich.
Aber wie kommuniziert man Gehälter wie etwa jenes von Daniel Vasella, der 20 Millionen verdient?
Das ist sehr schwierig. Man kann es nur mit einer aussergewöhnlichen Leistung erklären, von der die Aktionäre stark profitieren. Was mir aber in dieser ganzen Debatte fehlt, ist die Frage: Wer setzt die Gehälter fest? Am Ende ist es der gesamte Verwaltungsrat, der entscheidet. Dann muss der Verwaltungsratspräsident sich vor Aktionären und Medien hinstellen und das gut begründen können.
Reicht dies?
Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht an der diesjährigen Generalversammlung der Bank SEB, die ich die vergangenen acht Jahre präsidiert habe. Dort stand ein älterer Herr auf und stellte genau diese Frage: Warum verdient der CEO so viel, wie rechtfertigt man das? Ich habe ihm aus dem Stegreif fünf Minuten lang erklärt, was wir uns als Verwaltungsrat dabei gedacht haben und was ich selber als Chairman denke. Ich habe das Gehalt des CEO mit dem eines Spitzensportlers verglichen. Und so weiter. Danach stand der Herr wieder auf und sagte: Jetzt verstehe ich. Und, puff, die Frage ist damit in sich zusammengefallen. Es ist unglaublich wichtig, die Argumente einfach und einleuchtend zu kommunizieren.
Dennoch gibt es Zahlen, die einfach nicht kommunizierbar sind. Etwa die 148 Millionen Franken Pensionskassenzuschuss, die Percy Barnevik kassieren wollte. War ABB damals gut beraten, mit diesen Zahlen an die Öffentlichkeit zu gelangen?
(Langes Schweigen.) Das liegt hinter uns.
Es war Ihr Vater Peter Wallenberg, der 1992 den berühmten Vertrag unterschrieben hatte, der Percy Barnevik diese Summen ermöglicht hat …
… das ist korrekt. Der Vertrag wurde von den beiden damaligen Co-Präsidenten unterschrieben. Mein Vater hat später in einem Artikel in der grössten schwedischen Tageszeitung dafür auch die volle Verantwortung übernommen. Er hat nichts beschönigt.
War Ihrem Vater damals bewusst, was er da unterschrieb?
Mein Vater war sich des Vertragsinhaltes völlig bewusst. Aber der Vertrag basierte auf einer in die Zukunft gerichteten Formel – da kennt niemand das spätere Ergebnis. Er hat natürlich nicht ahnen können, in welche Höhen sich die Pensionsansprüche von Herrn Barnevik eines Tages schrauben würden.
Sie sitzen seit 1999 im Verwaltungsrat der ABB. Schmerzt es Sie zu sehen, wie das Unternehmen seither geschrumpft ist?
Was mich und jeden anderen in diesem Unternehmen am meisten schmerzt, ist, wie stark diese stolze Firma beschädigt wurde. 100 Jahre technisches Know-how, Kundenbeziehungen, Geschäftserfahrung, 200 000 Angestellte: Das verschwindet nicht einfach über Nacht, nur weil man ein Problem hat mit seinem Aktienkapital, weil der Chairman ein Problem hat mit seinen Pensionsbezügen und weil man den CEO ein paar Mal zu häufig austauscht. Die fundamentale Stärke dieser Organisation bleibt. Und dieser Stolz hat, dank der Hilfe von Jürgen Dormann, das Unternehmen auch wieder in ein normales Dasein zurückgeführt.
Wobei die Krise ja grösstenteils selbst verschuldet war.
Nun, der ganze Asbestfall hat viel Geld aus dem Unternehmen gezogen, das war nicht vorhersehbar. Aber Sie haben Recht: Wir haben im dümmsten Moment Aktien zurückgekauft und damit unsere Eigenkapitalbasis fast komplett ausgehöhlt. Wir hatten eine schreckliche Margenentwicklung und einen negativen Cashflow. Wir mussten unsere CEO in kurzer Zeit mehrmals auswechseln. Und wir haben das Organisationsmodell umgebaut von der Matrix- zu einer Spartenorganisation. Das ist eine gewaltige Umstellung, die den ganzen Fokus von den Kunden weggenommen hat auf die interne Organisation. Das haben wir komplett unterschätzt.
Bedauern Sie im Nachhinein, dreimal hintereinander einen schwedischen Landsmann auf den Chefsessel gehievt zu haben?
Ich weiss nicht, was das mit der Nationalität zu tun haben soll. Natürlich ist es mentalitätsmässig ein Unterschied, woher man kommt. Aber entscheidend ist, ob derjenige einen guten Job machen kann. Und bei ABB hatten einige Chefs offensichtlich ein Performanceproblem.
Für deren Auswahl tragen Sie als Mitglied des Verwaltungsrates eine Mitverantwortung, ebenso wie für die zitierten Fehlleistungen.
Es waren Entscheidungen des gesamten Verwaltungsrates. Aber selbstverständlich übernehme ich dafür die volle Verantwortung. Manchmal trifft man im Business die falschen Entscheidungen. Ich habe kein Problem, Ihnen in die Augen zu schauen, wenn ich das sage. Entscheidend ist, was man tut, wenn man erkannt hat, dass eine Entscheidung falsch war: Man korrigiert sie! Und wir haben unsere Entscheidungen korrigiert. Nur das zählt. Und Investor hat bei der letzten Kapitalerhöhung Ende 2003 den Anteil an der ABB beinahe verdoppelt. Somit haben wir die Langfristigkeit unseres Engagements bewiesen.
Noch immer hängen die Asbestklagen wie ein Damoklesschwert über ABB. Wann rechnen Sie mit einer Lösung?
Als Verwaltungsratsmitglied darf ich mich dazu nicht äussern.
Würden Sie sagen, ABB ist ein Opfer des amerikanischen Justizsystems?
Ich würde sagen, die Amerikaner hätten allen Grund, über ihr Justizsystem nachzudenken. Nicht wegen ABB. Aber die internationalen Konzerne sind sich dieses Risikos bewusst, wenn es um Investitionsentscheidungen geht.
Dieses Rechtssystem breitet sich immer weiter um den Globus aus. Auch nicht amerikanische Konzerne wie ABB müssen sich daran halten. Kann diese Expansion gestoppt werden?
Das Problem sind die Sammelklagen und diese absurden Strafzahlungen, die in die Milliarden gehen können. Dieses System breitet sich allerdings nicht aus. Andere Teile des Rechtssystems funktionieren ja sehr gut.
ABB ist seit 2001 an der New Yorker Börse gelistet. Würden Sie das heute wieder tun?
O je, ich glaube, ich brauche noch ein Sandwich (lacht). Im Ernst: Wir hatten ABB an der New Yorker Börse gelistet, bevor der Sarbanes-Oxley Act geschaffen wurde. Und der ist eine gewaltige Herausforderung. Wenn man nicht einen wirklich guten Grund hat, in den Vereinigten Staaten nach Kapital zu suchen, dann sollte man sich eine Kotierung dort zweimal überlegen. Das ist ganz klar.
Wegen Sarbanes-Oxley?
Meiner Meinung nach übersimplifiziert Sarbanes-Oxley das Leben. Das Leben besteht nicht nur einfach darin, Listen abzuhaken. Es besteht zu einem grossen Teil aus gesundem Menschenverstand. Dieser wird allerdings reduziert zu Gunsten des simplen Abhakens. Ich hoffe, es gibt mit der Zeit Anpassungen. Man kann nicht alles kontrollieren. Und nebenbei ist die Implementierung von Sarbanes-Oxley sehr teuer.
Wie viel im Fall von ABB?
Die Zahl ist bekannt: 50 Millionen Dollar. Mit dem Geld hätte ich gerne was anderes gemacht!