Herr Rifkin, wie sind Sie nach Zürich gereist?
Jeremy RifkinIm Flugzeug. Aber kommen Sie mir jetzt nicht so – bitte nicht!

Keine Sorge, wir moralisieren nicht. Aber Sie sagen, dass wir in einer Revolution stecken, wo Kommunikation, Transport und Energiegewinnung umgewälzt werden. Aber Sie werden noch in zehn Jahren mit einer CO2-Schleuder nach Zürich fliegen.
Nein, dann werde ich Video-Vorträge von zu Hause aus halten. Heute wünschen halt noch viele Leute, dass man vor Ort ist. Die nächste Generation wird sich schon stärker an virtuelle Kontakte gewöhnt haben.

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Wir werden also weniger reisen?
Absolut. Übrigens bringt der Klimawandel auch viel mehr Luftturbulenzen mit sich. Dass wir nahtlos über die Ozeane fliegen, wird bald keine Selbstverständlichkeit mehr sein.

Klar scheint bei allen Debatten, dass wir neue Energiequellen brauchen. Liegt hier die Hürde für die Revolution?
Nicht die neuen Energiequellen sind der Flaschenhals – das Problem sind die alten Energiequellen. Die Solar- und Windenergie wächst exponentiell und dies bedeutet umgekehrt, dass die Fixkosten hier zusammenbrechen. Eine Kilowattstunde Solarstrom kostet nur noch wenige Cents. Die alten Strom- oder Ölversorger kennen diese Kurven natürlich auch, darum herrscht dort die nackte Panik auf den Chefetagen.

Was raten Sie dann den Chefs?
Ihr Problem ist: Die Fossile-Brennstoff-Industrie sitzt auf Investitionen im Umfang von 100 Billionen Dollar. All das muss jetzt abgeschrieben werden: Patente, Pipelines, Bohrinseln, Förderrechte… Wir haben es mit der grössten Blase der Weltgeschichte zu tun: 100 Billionen Dollar. Die Zahl stammt nicht von mir, sie kommt von der Citibank.

Jeremy Rifkin

Jeremy Rifkin, geboren 1945 in Denver, gehört zu den bekanntesten Zukunftsforschern. Die Bücher des ausgebildeten Ökonomen wurden in zwanzig Sprachen übersetzt, viele davon wurden internationale Bestseller, etwa «Access» oder «Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft». Rifkin ist Gründer der Foundation on Economic Trends in Washington. Er lehrte an der Wharton Business School und beriet zahlreiche Regierungsstellen und Organisationen – etwa die EU oder in China – sowie Staatschefs, darunter Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. 

Das Interview fand im Rahmen der Konferenz «Eyes on 2019» von Invesco statt.

Aber Öl und Kohle erleben derzeit doch ein wunderbares Comeback, nicht nur dank Donald Trump.
Geschichte wird auch durch Zufälle bestimmt. Und jetzt haben wir in den USA halt einen Präsidenten, der uns in die 1950er oder 1960er Jahre zurückführen will. Die Fossilbranche versteht genau, worum es geht. Also baut sie jetzt Gas-Pipelines und behauptet, das sei sauberer. Das ist buchstäblich kriminell. Die treiben die Welt in eine Infrastruktur, die sich niemals amortisieren lässt. Sie wissen ganz genau, dass solche Anlagen wertlos sind, wenn der Solar- und Windstrom nur ein paar Cents kostet.

Das ist demokratisch vollauf legitimiert.
Ja, die Regierungen lieben die Petrobranche. Es ist frustrierend. Am Ende wird das Finanzsystem dafür büssen – die Banken, die Pensionskassen, die Fonds, der Staat. Aber es gibt auch verantwortungsvolle Player. Strom- und Versorgerfirmen lösen sich von der Öl- und Gasindustrie. Das Transportwesen wird ebenfalls entkoppelt; ein Land nach dem anderen drängt den Verbrennungsmotor zurück. Und drittens befreit sich die Immobilienwirtschaft von den fossilen Brennstoffen; sie setzt auf stromsparende und energieproduzierende Gebäude. Wenn man es gesamthaft betrachtet, fragt man sich schon, was die Regierungen sind: Sind sie idiotisch – oder sind sie Gefangene der alten Petrochemie?

Ihre Antwort? Selbst im deutschen Nordrhein-Westfalen mit einer rot-grünen Landesregierung holzt man Wälder ab, um weiter an die Braunkohle zu kommen.
Ich gebe Deutschland trotzdem gute Noten beim Versuch, den Wandel voranzubringen. Natürlich sollte alles schneller gehen, aber global gesehen ist Deutschland immer noch ein Leuchtturm.

«Die Fossile-Brennstoff-Industrie sitzt auf Investitionen im Umfang von 100 Billionen Dollar. All das muss jetzt abgeschrieben werden»

Jeremy Rifkin

In China wird der Energieumbau von oben dekretiert: Plötzlich sind nur noch Elektroroller erlaubt; dann dürfen nur noch Elektrotaxis fahren oder nur noch Parkhäuser mit Elektroladestationen 
gebaut werden …
… und der Staat projektiert im laufenden Fünfjahresplan, dass fünf Millionen Elektroautos hergestellt werden.

Glauben Sie an den autoritären Weg?
Meine Erfahrung mit China zeigt, dass es kein Monolith ist. Darum funktioniert auch dort nicht alles per Dekret. Es gibt Kräfte, die vorwärtspreschen, zum Beispiel die Städte: Sie stehen in einem unglaublichen Konkurrenzverhältnis zueinander. Andere Kräfte suchen eher Stabilität, zum Beispiel die Staatskonzerne.

Und darum investiert Peking trotz seiner Öko-Propaganda weiter in altmodische Kohlekraftwerke und Wohnsilos?
So ist es. Aber die Chinesen sind viel beweglicher als wir. Man muss immer bedenken, von welchem Punkt aus das Land gestartet ist. Ich glaube es der Staatsführung, dass sie China auf eine ökologische Zivilisation verpflichten will. Aber dort ist es wie in vielen Staaten: Sie haben massive Anlagen und vorgegebene Interessen. Schauen Sie sich Kanada oder Norwegen an: Die inszenieren sich als ökologische Trendsetter, aber exportieren ihr Öl in die ganze Welt. Wer am Öl hängt, zögert.

Es gibt eine Faustregel für den Umgang mit Zukunftsforschern: Frag nicht, was sie prognostizieren, sondern frag, wo sie ihr Geld hineinstecken.
Ich halte es auch so: Bevor ich mit einer Unternehmung zusammenarbeite, lese ich nie das Firmenleitbild. Ich schaue nach, wo sie investiert ist.

Also: Wo steckt Ihr eigenes Geld?
Nicht in Aktien.

Gar nichts?
Nichts. Noch nie gemacht in meinem Leben. Das erlaubt mir, der zu sein, der ich bin, und abends kann ich beruhigt 
zu Bett. Ich besitze nur amerikanische Staatsanleihen.

Und wo würden Sie heute Ihr Haus bauen?
Der neue Report des UN-Panel zum Klimawandel war wirklich erschütternd. Um die schlimmsten Auswirkungen zu vermeiden, müssten wir die gesamte Weltwirtschaft bis spätestens 2040 umbauen. Ich bin nicht naiv, aber möglich ist es. 
Man spürt jetzt die Alarmzeichen: Die Waldbrände. Die Trockenheit. Die Überschwemmungen. Die Hurrikans. Immerhin beginnen die Menschen, sich für ihre Kinder zu sorgen.

Wo würden Sie also Ihr Haus bauen?
Jetzt kann es einen überall treffen. Mit meiner Frau wohne ich in Washington, D.C. Dort hatten wir dieses Jahr acht Monate lang jeden Tag Regen. Plötzlich breitete sich überall im Haus Schimmel aus. In Europa hatten Sie dafür eine Trockenperiode.

Anders gefragt: Wo sind die unternehmerischen Chancen? Welche Produkte würden Sie nun auf den Markt bringen?
Der entscheidende Hebel liegt in der Finanzwelt. Dort muss man sich fragen: Warum sollten wir weiter Geld investieren in die Öl-Industrie und ihre Anhängsel, wenn wir die Investitionen niemals amortisieren können? Und dann müssen die Anleger auf der anderen Seite herausfinden, wie sie in die nächste industrielle Revolution investieren können. Wo hier die neuen Geschäftsfelder liegen.

Wo zum Beispiel?
Am meisten Chancen finden sich erstens in der Energiegewinnung. Zweitens in der IT-Industrie – hier geht es um die gesamte Technologie für das Internet der Dinge. Drittens: Beförderungsmittel. Viertens: die Baubranche. Sie wird intelligente Technologien für Gebäude entwickeln. Vieles bewegt sich bereits, aber das Pro-blem liegt aktuell in der Skalierung. Wir haben heute 9000 Städte mit schlauen Projekten, am Ende zeigen die Bürgermeister stolz ihre Elektrobusse, aber zusammen ergibt das noch keine Infrastruktur. Die Unternehmen müssen an Grösse gewinnen – und noch fehlt es an Kapital.

«Schauen Sie sich Kanada oder Norwegen an: Die inszenieren sich als ökologische Trendsetter, aber exportieren ihr Öl in die ganze Welt. Wer am Öl hängt, zögert.»

Jeremy Rifkin

Das heisst doch: Am Ende werden die gigantischen alten Konzerne wie Daimler die Industrierevolution stemmen müssen.
Sie arbeiten ja daran.

Und was ist mit Firmen wie Tesla? Sie sagen, die industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts drehe sich um neue Energie, andere Mobilität, neue Kommunikation …
… plus das Internet of Things als gemeinsame Plattform.

Elon Musk engagiert sich in all diesen Feldern. Orientieren Sie sich an ihm?
Ich habe ihn nie getroffen. Das Problem ist, dass er mit seinem Ansatz nicht genügend Grösse erreicht. Er hat es vor allem mit individuellen Kunden zu tun. Doch der Umbau einer Infrastruktur verlangt, dass die Regierungen mit dabei sind. Ich denke dabei vor allem an die Regionalregierungen. Nationalstaaten stellen den Rahmen zur Verfügung – Regulierung, -Gesetze, Standards –, aber wenn es um die Kommunikation und die Infrastruktur geht, werden die Regionen entscheidend. Als Google in Toronto ein Quartier zu einer Smart City umbauen wollte, reiste zwar Premierminister Justin Trudeau an. Aber jetzt scheitert das Ganze am Widerstand der Stadt. Keiner will seine Alltagsdaten voll einem Konzern anvertrauen.

Sie setzen auch grosse Hoffnung in die Shared Economy. Kann das je mehr sein als ein Nebenaspekt der Wirtschaft?
Die Genossenschaftsidee hat eine grosse Zukunft. Hier in den Alpen haben Sie ja seit tausend Jahren Erfolg damit. Und so entstehen heute in Dänemark ausgefeilte Elektrizitäts-Genossenschaften, wo die Bauern, die Haushalte, die kleinen Geschäfte in einer Region 96 Prozent ihrer Elektrizität gemeinsam herstellen …

… mithilfe von Förderprogrammen aus der Hauptstadt.
Natürlich, zu Beginn war ein Anschub nötig. Heute rentiert das. Die Kohle- und die Atomenergie werden derweil weiter mit Milliarden-Subventionen gestützt.

«Die Genossenschaftsidee hat eine grosse Zukunft. Hier in den Alpen haben Sie ja seit tausend Jahren Erfolg damit.»

Jeremy Rifkin

Dennoch: Am Ende des Tages will ich 
meine eigene Küche, keine geteilte Küche, und die muss jemand liefern. Das tun nur die altmodischen kapitalistischen Unternehmen.  
Da widerspreche ich gar nicht. Es gibt Bereiche, die weiterhin so funktionieren werden. Aber schon beim Auto ist Schluss. Das ist doch vorbei! Wer von den Millen-nials will noch sein eigenes Auto? Teilweise wird die Sharing Economy auch ins kapitalistische System integriert – Uber bemüht sich darum. Aber ich zweifle, ob das klappt. Uber hat zwar begriffen, dass man die Autofahrer fast ohne Grenzkosten zu Transporteuren machen kann. Aber heute fragen sich die Menschen: Brauchen wir überhaupt Uber? Das können wir doch genossenschaftlich regeln.

Sie wurden vor einem Vierteljahrhundert berühmt durch Ihr Buch «The End of Work». Da sagten Sie voraus, dass die Digitalisierung Millionen von Arbeitsplätze zerstören wird. Kann man heute sagen: Sie lagen falsch?
Alles, was ich heute feststelle, stand bereits dort: die Wissensgesellschaft; die Vernetzung; die Steuerung von grossen Systemen durch Algorithmen, aber wenige Beschäftigte. Unklar war, wohin sich die Arbeit bewegen würde. Ich schrieb: Die Arbeit geht dorthin, wo die Computer nicht hinkommen. Also in den Sozialbereich, in die Kultur – und damit den Not-for-Profit-Sektor. Was wir nicht kommen sahen, war die Sharing Economy. Aber das erkannte 1994 auch sonst keiner.

Wo liegen also die grossen Stellen-Chancen der Zukunft?
Im Umbau der Infrastruktur. Denn Roboter und künstliche Intelligenz werden nicht fähig sein, die Fossilie-Brennstoff-Industrie aufzulösen. Sie können nicht Millionen Gebäude auf der ganzen Welt mit neuer Isolation und neuen Fenstern versehen. Sie können auch keine Windparks errichten. Aber am schnellsten wächst die Sozialwirtschaft.

«Wenn Sie übers Land fliegen und all die Autobahnen, Zuglinien, Städte sehen, dann denken Sie dran, dass kaum etwas davon vor vierzig Jahren schon da war.»

Jeremy Rifkin

Was soll der Nachwuchs also lernen?
Zwei Aspekte werden wichtig. Erstens 
der Digitalbereich. Aber dafür braucht es keine Schulfächer, das lernen die Kids von selber. Und zweitens müssen sie auch das Prinzip von Sozialwirtschaft, Genossenschaften und der Sharing Economy verstehen. Nirgends entstehen so viele Stellen wie im Nonprofit-Sektor. In Europa bietet dieser Bereich inzwischen 13 oder 14 Prozent der Jobs, das realisieren wir gar nicht richtig. Es ist wie bei den Genossenschaften, die bleiben auch weitgehend unter dem Radar. Die Business Schools vernachlässigen sie zum Beispiel völlig.

Was sollen junge Leute studieren?
Die Frage stellen mir die CEO auch dauernd: Was sollen meine Kinder studieren? Ich antworte immer: Führt sie im Gymnasium und im Grundstudium an die Literatur, an Philosophie, Soziologie, Anthropologie, an die Sprachen. Sie sollen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften lernen. Später sollte dann ein berufsbezogener Abschluss hinzu: Rechnungswesen, Recht, Business, Ingenieurswesen. Nur wer das grosse Bild kennt, entwickelt auch die Fantasie, um seine beruflichen Fertigkeiten frei zu nutzen und nicht in Details gefangen zu bleiben.

Mr. Rifkin, Sie ein Pessimist oder ein Optimist?
Ich bin vorsichtig hoffnungsvoll, aber ich bin nicht naiv. Sehr viel kann sich sehr schnell verändern. Wenn Sie übers Land fliegen und all die Autobahnen, Zuglinien, Städte sehen, dann denken Sie dran, dass kaum etwas davon vor vierzig Jahren schon da war. Die junge Brooklyn-Berlin-Zürich-Seoul-London-Generation versteht das sofort und dort entwickelt sich jetzt auch der Widerstand. Die ältere Tech-Generation war noch nicht so weit. Die Zuckerbergs glaubten an libertäre Ideen, freie Märkte, die grosse Utopie. Die Millennials beherrschen die digitalen Technologien genauso gut, aber sie haben mehr gesellschaftliches Bewusstsein. Für sie ist es selbstverständlich, im Geist von Genossenschaften zu denken. Hier beginnt eine neue politische Bewegung. Wir erleben momentan die erste Welle.

Dieses Interview wurde im Dezember 2018 geführt und erstmals veröffentlicht. Wir veröffentlichen es erneut, weil es heute noch mehr ein Beitrag zur aktuellen Debatte ist.