BILANZ: Die Medienbranche jammert. Sie müssen uns aufmuntern.

John Micklethwait: Wir verdienen noch immer Geld. Aber auch bei uns sind die Werbeeinnahmen um 20 Prozent eingebrochen. Das trifft uns jedoch nicht so hart wie manche Wettbewerber. Denn unser grosser Vorteil ist: Unsere Verkaufserlöse sind hoch genug, um unsere Kosten zu decken. Für die Anzeigen gilt damit, dass jede zusätzliche Seite Profit ist.

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Sie sind vor allem deshalb ein Vorbild, weil Sie Ihre Auflage konstant steigern – in den letzten zehn Jahren um hundert Prozent auf heute 1,4 Millionen. Andere internationale Wochentitel wie «Time», «Newsweek» oder «Business Week» verzeichnen dagegen teilweise dramatische Einbrüche.

Wir haben einige strukturelle Vorteile. So profitieren wir vom Trend zur Globalisierung. Wenn Sie in Genf arbeiten, kann heute ein Konkurrent in Shanghai auftauchen, Ihre Firma verliert den Auftrag und Sie Ihren Job. Sie müssen folglich heute über die Entwicklungen in China informiert sein. Selbst wenn Sie in der Schweiz im Private Banking arbeiten, mag zwar Ihr Job nicht akut durch einen Konkurrenten aus Shanghai bedroht sein, aber wenn es neue Vorschriften in Peking gibt, müssen Sie das wissen. Die Globalisierung hat die Sachen, über die wir schreiben, wichtiger gemacht.

Damit erreichen Sie dennoch nur eine kleine Zielgruppe.

Ja, aber die wächst stetig. Es gibt eine neue Massenintelligenz: einen grösseren Bereich an der Spitze des Marktes als bisher angenommen. Zwar orientiert sich der Mainstream der Presse vom Anspruch her eher nach unten. In Städten wie Zürich oder London finden Sie aber viele Kunstgalerien, Kinos mit anspruchsvollen Filmen, Literaturfestivals. Es gibt viel mehr universitär gebildete Leute als früher, und für sie ist es vollkommen normal, sich mit verschiedenen Ideen auseinanderzusetzen. Das kann bedeuten, dass sie im Kino lieber «Das Leben der Anderen» als den letzten James Bond sehen. Oder sie nehmen den «Economist» und entdecken überraschende Dinge. Das passiert heute vollkommen natürlich. Sie können den «Economist» und das Unterhaltungsblatt «Hello» lesen, heute ist das kein Problem mehr.

Kein Blatt verkörpert die liberale Weltsicht so stark wie der «Economist». Ist das ein weiterer Vorteil?

Ja, es hilft heute viel mehr als früher, einen klaren Standpunkt zu haben. Die liberale Botschaft hat für uns grossen Wert.

Was bedeutet es heutzutage, liberal zu sein?

Es bedeutet, für individuelle Freiheit einzutreten. Und es bedeutet, im Gesellschaftssystem ökonomische Freiheit und Liberalisierung zu verteidigen. Politisch gibt es keine einzige Partei, die vollständig auf der Linie des «Economist» liegt, denn es gibt eben keine reinen liberalen Parteien. Wir sind liberal in sozialen Fragen, und deshalb unterstützen wir die Schwulenehe oder die Liberalisierung von Drogen. Aber wir sind auch wirtschaftlich liberal und treten deshalb für weniger Staatseinfluss ein. Dieses Spektrum deckt keine Partei ab.

Löste die Krise nicht eine Krise Ihres liberalen Selbstverständnisses aus?

Nicht eine Krise, aber eine Selbstbefragung. Das Erstaunliche war, dass wir für diesen Standpunkt weniger angegriffen wurden als erwartet. Ein Grund ist, dass wir unser Eintreten für die Marktwirtschaft immer kombiniert haben mit ausführlicher Berichterstattung über Marktversagen und Übertreibungen.

Zum Beispiel?

Besonders in den USA haben wir schon früh in unseren Titelstorys auf die gefährliche Schieflage hingewiesen: Wir warnten vor dem Häuserboom, vor Amerikas Bubble-Ökonomie, wir bildeten den Notenbank-Chef Greenspan mit einer Dynamitstange in der Hand ab. Wir waren schon früh skeptisch in Bezug auf die weitere Marktentwicklung.

Aber dennoch: Hat die Krise keinerlei Risse in Ihrer liberalen Weltsicht verursacht?

Wir haben uns auch geirrt. Ich dachte zum Beispiel, dass die Verbriefung bei Anlageinstrumenten ein gutes Mittel zur Risikoverteilung sei. Aber es zeigte sich, dass die Leute, die das Risiko verteilen sollten, es bei sich gestapelt hatten. Die Risiken fanden sich nicht bei Hedge Funds oder Pensionskassen, sondern bei den Banken. Dass etwa die UBS ihre Risiken behielt und dann sogar neue Risikopapiere dazukaufte, hätte ich nicht für möglich gehalten. Da lagen wir falsch. Dennoch: Auf die Grundfrage, ob die Marktliberalisierung den Crash verursacht hat, bleibt unsere Antwort: Nein.

Der Kapitalismus bleibt also unangefochten das beste Wirtschaftssystem?

Paniken und Crashs waren für uns schon immer Teil des Finanzsystems. Der berühmteste Chefredaktor, Walter Bagehot, der Schwiegersohn von «Economist»-Gründer James Wilson, hat sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts intensiv mit der Frage beschäftigt: Was passiert bei einem Bankenzusammenbruch?

Seine Antwort?

Sein Kerngedanke war, dass die Zentralbanken in Krisenzeiten Geld ins System pumpen müssen. Die Regeln, welche die Notenbankchefs Bernanke, Trichet oder King befolgt haben, finden sich alle schon bei Walter Bagehot. Schwere Krisen, so schmerzhaft sie auch sind, gehören eben zur Marktwirtschaft.

Aus dem Gründungsjahr 1843 stammt das Motto, das heute noch am Anfang jeder Ausgabe zu lesen ist: «Gegründet, um an einem ernsthaften Wettbewerb teilzunehmen zwischen Intelligenz, die vorwärtsstrebt, und einer wertlosen, schüchternen Ignoranz, die unseren Fortschritt behindert.» Ehrgeizige Vorgaben. Wie oft verstossen Sie dagegen?

Jede Woche frage ich mich bei bestimmten Artikeln, ob wir diesem Anspruch gerecht werden. Kein Chefredaktor sollte unparanoid sein.

Wann verstiessen Sie bei einem Titelthema dagegen?

Eine grosse Fehleinschätzung auf dem Cover fällt mir nicht ein.

Klingt sehr selbsbewusst.

Eher das Gegenteil – es sollte mir Sorgen machen. Unsere Leser schätzen uns für unsere Analyse, aber sie erwarten nicht, dass wir immer richtig liegen. Viele Leser sagen: Ich liebe den «Economist», aber bei Obama lagt ihr vollkommen daneben, und Brown hättet ihr nie unterstützen dürfen. Aus dieser Perspektive wäre es gut, wenn ich auf ein grosses Desaster verweisen könnte. Einmal richtig falsch zu liegen, ist besser, als immer vorhersehbar zu sein.

Der «Economist» blickt auf eine Tradition von 167 Jahren zurück. Wie viel kann ein Chefredaktor verändern?

Ich habe neue Rubriken eingeführt, wie die asiatische Kolumne «Banyan». Aber die Kernbotschaft bleibt: eine Person, die irgendwo auf dem Globus sitzt, zu unterhalten, zu inspirieren und zu Veränderungen anzuregen – aus liberaler Perspektive.

Der «Economist» leistet sich Besonderheiten, die nicht in die Zeit zu passen scheinen. Er arbeitet mit kleinen Fotos, das Design ist spartanisch, er verzichtet auf Autorennamen. Könnten Sie daran etwas ändern?

Das würden wir nie tun. Mein Vorgänger hat das Layout vor neun Jahren modernisiert. Wir stellten damals auf Farbfotos um. Aber grosse Bilder – niemals. Beim «Economist» geht es um Worte. Auch die Autorennamen werden wir nicht nennen. Bei uns stehen nicht die Journalisten im Vordergrund.

Apple hat mit dem Tablet-Computer iPad in der Medienbranche neue Euphorie entfacht. Was erwarten Sie?

Ziemlich viel. Wir rechnen damit, dass in fünf bis sechs Jahren 20 Prozent der Leser einen Tablet-Computer benutzen.

Bringen Sie einfach das Magazin auf den Tablet?

Die Antwort ist: das Magazin plus. Wir können dort mehr liefern, vor allem im Bereich Zahlen und Videos. Heute sind wir schon das am zweithäufigsten verkaufte Angebot auf dem E-Book-Reader Kindle, da bieten wir aber nur das Magazin an. Das Schöne ist: Wir können bei diesen Angeboten auch Geld verlangen.

Das machen Sie neuerdings auch wieder online.

Ja, als wir begannen, führten wir eine Zahlschranke ein. Dann war unser gesamter Inhalt einige Jahre gratis. Heute muss der Leser wieder zahlen, vor allem für den Inhalt unserer aktuellen Printausgabe. Sonst riskieren wir eine Kannibalisierung. Man kann nicht alles gratis anbieten und glauben, dass das keinen Einfluss auf das Geschäft habe.

Eine Ihrer Titelgeschichten verkündete das Ende der Zeitung im Jahr 2043. War das zu optimistisch?

Als wir das veröffentlichten, gab es sehr viele negative Reaktionen. Heute erscheint 2043 in der Tat zu optimistisch.

Wie lange wird der «Economist» noch auf Papier erscheinen?

Hoffentlich noch sehr lange, denn Papier ist sehr bequem. Das ist aber nicht sakrosankt. Der Inhalt zählt, nicht der Datenträger.

Sie beschäftigen nur 80 Journalisten, 50 in London, 30 in den Auslandbüros. Welcher Typ überwiegt?

Sie kommen zum Grossteil von guten Universitäten und waren keine Journalisten. Das war bei mir auch so. Ich war ein Banker. Meine Leistung bestand darin, den Marktwert der Bank unter den der Spielzeugkette Toys ’R’ Us zu drücken. So wechselte ich dann direkt ins Finanzressort des «Economist».

Die Fluktuation ist sehr gering.

Ja, wenn Sie einmal bei uns sind, gehen Sie nicht so schnell wieder weg. Wenn Sie gut sind, wollen wir Sie behalten, und wenn nicht, dann sollten Sie gar nicht da sein.

Sie stehen seit vier Jahren an der Spitze, die durchschnittliche Amtsdauer eines «Economist»-Chefredaktors liegt bei elf Jahren. Was wollen Sie noch erreichen?

Heute liegt die Auflage bei 1,4 Millionen. Zwei Millionen wären ein Traum.

John Micklethwait wurde 2006 zum sechzehnten Chefredaktor des 1843 gegründeten britischen Wirtschaftsmagazins «The Economist» berufen. Der 47-Jährige studierte am Magdalen College in Oxford und arbeitete zwei Jahre bei der Bank Chase Manhattan, bevor er 1987 zum «Economist» wechselte. Er leitete verschiedene Ressorts sowie die Büros in New York und Los Angeles. Der «Economist» verdoppelte in den letzten zehn Jahren seine Auflage auf 1,4 Millionen Exemplare, wovon mehr als die Hälfte in den USA verkauft wird. Er gehört je zur Hälfte der englischen Pearson Group (u.a. «Financial Times») und einem Trust der Londoner City.